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Beethovens Klaviersonaten
Kernig, dramatisch, demütig

Die Erwartungen an Evgeny Kissin könnten kaum höher sein: das erste Solo-Album seit zehn Jahren, ein reines Beethoven-Programm mit Klassikern wie der "Mondschein"-Sonate und der "Appassionata", dazu noch live aufgenommen. Der Pianist Kissin zeigt wieder einmal, dass er ein Meister des Klaviers ist.

Am Mikrofon: Susann El Kassar |
    Der Pianist Evgeny Kissin.
    Pianist Evgeny Kissin hat schon seit einigen Jahren kein Solo-Album veröffentlicht. (Deutsche Grammophon)
    2012, in der Carnegie Hall, live mitgeschnitten. Evgeny Kissin spielt das Presto aus der "Mondschein"-Sonate von Ludwig van Beethoven, diese stürmischen ersten Takte. Schwungvoll, kraftvoll und leicht zugleich, wohl kontrolliert rasend.
    Evgeny Kissin widmet sich auf seinem neuen Album ausschließlich Beethoven, und zwar ausgewählten Klaviersonaten und den 32 Variationen über ein eigenes Thema in c-Moll.
    Kissin, der in den 80ern als russisches Wunderkind die Welt mit seinem außergewöhnlichen Talent faszinierte, war nie vom CD-Markt verschwunden, und doch hat es seit zehn Jahren keine Solo-Veröffentlichung mehr gegeben. Es ist also eine umso stärkere Setzung, wenn jetzt eine reine Beethoven-Platte kommt. Man könnte meinen, dass Kissin mit seinen 45 Jahren den Zeitpunkt für gekommen hält, sein Beethoven Bild festzuhalten.
    Das Label erklärt, es sei Kissin wichtig gewesen, für sein Beethoven-Solo-Album nur Live-Mitschnitte zusammenzustellen. Sein Spielgefühl sei mit Publikum ein anderes, und der neutralen Studiosituation vorzuziehen. Und tatsächlich spürt man den Aufnahmen das Live-Gefühl an - dazu tragen natürlich vereinzelte Hustgeräusche im Publikum bei - aber davon abgesehen fließen und entwickeln sich die Sonatensätze organisch. Man muss dabei nicht mit jedem Ritardando einverstanden sein, im ersten Satz der Mondscheinsonate beispielsweise kann man das Ausbremsen der Schlussphrasen auch als allzu bedeutungsschwanger empfinden.
    Kissin zeigt hier seine Meisterschaft im Abstufen von piano zu pianissimo und darin, wie er die einzelnen Stimmen: Melodie, die fortlaufenden Achteln und den Bass gegeneinander abwägt. Ähnliches kann man auch in den anderen zwei Sätzen finden. Kissin arbeitet wohlüberlegt Kontrapunkte zur Melodiestimme heraus, freut sich an den Beethovenschen Eigenheiten wie überraschende rhythmische Verschiebungen.
    Die Mondschein-Sonate ist nicht die einzige der sehr bekannten Beethoven Sonaten, die Kissin für das Album ausgesucht hat. Die Appassionata, "Les Adieux" und auch die letzte Klaviersonate op. 111 sind dabei.
    Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welches Verständnis von Beethoven Kissin uns hier anbietet. Ist es ein persönliches? Die Auswahl der Werke spricht eher nicht dafür. Kissin bewegt sich weitgehend entlang des gängigen Kanons: Einzig die frühe dritte Sonate und die 32 Variationen fallen heraus.
    Das Beethoven-Album ist bei der Deutsche Grammophon erschienen; dem Label, bei dem Kissin vor mehr als 25 Jahren als Wunderkind frühe Aufnahmen gemacht hat. Später ging er unter anderem zu Sony und im Juni 2017 erst hat er einen neuen Vertrag mit der Deutsche Grammophon abgeschlossen. Im August dann ist dieses Doppel-Album erschienen.
    Die live-Aufnahmen darauf stammen aber nicht - wie man erwarten könnte - allesamt aus jüngerer Zeit, überraschenderweise erstreckt sich das Aufnahmedatum der Konzertmitschnitte von 2006 bis 2016, und auch die Konzertorte sind alle verschieden. Seoul, Montpellier, New York, Amsterdam, Wien, Verbier.
    Kissins Beethoven der letzten zehn Jahre also. Eine Entwicklung von 2006 nach 2016 oder einen signifikanten Unterschied im Zugriff auf die Sonaten abhängig vom Aufnahmejahr lässt sich dabei kaum heraushören. Kissin spielt jeweils kernig, technisch fabelhaft und hebt gerne die Dramatik und innere Zerrissenheit der Musik hervor.
    Die Sonaten Nr. 3 und Nr. 26, Les Adieux, wurden beispielsweise beide 2006 mitgeschnitten, die eine in Seoul, die andere in Wien. Der Schlusssatz der frühen Sonate klingt frisch, spielerisch leicht und Kissin beweist mit agogischen Freiheiten sein Gespür für die musikalische Phrase. Wer genau hinhört, kann auch kleinste Wackler entdecken, auch das gehört zum echten live-Gefühl dazu.
    Die Klaviersonate Nr. 26, Les Adieux, von Ludwig van Beethoven hat einen programmatischen Hintergrund. Jeder Satz trägt ein Motto, der erste: Das Lebewohl. Den ersten drei Akkorden des Satzes hat Beethoven sogar diese drei Silben: Le-be-wohl zugeordnet. Sie schwingen, ungesungen mit. Beethoven komponiert hier sogenannte Hornquinten und führt sie zum Trugschluss, Evgeny Kissin unterstreicht das Überraschungsmoment dieser harmonischen Konstruktion mit einer spürbaren Verzögerung und kehrt so die wehmütige Seite dieses Anfangs gelungen hervor.
    Nach dieser langsamen Einleitung würde jetzt eigentlich das Allegro folgen, aber stattdessen springen wir lieber hier zu einer anderen Sonate, der Appassionata, bei der man umso besser sehen kann, wie Kissin es gekonnt versteht, die rasanten Gefühlsumschwünge in Beethovens Klaviermusik umzusetzen: vom Lauernden zum Aufbrausenden und wieder zurück ins Versöhnliche. Sein Spiel hat Energie und kann den Hörer mitreißen.
    Der Beginn der Appassionata ist aber auch ein Beispiel dafür, dass eine solche Mixtur von Raum, Zeit und Instrument der live-Aufnahmen kaum einen einheitlichen Klavierklang produzieren kann. Kissin setzt in der zweiten Phrase dieses ersten Satzes das linke Pedal ein. Der Klang des Flügels wird dadurch allzu matt, fast dumpf, ein Effekt, den Kissin in diesem Ausmaß vermutlich gar nicht einsetzen wollte.
    Davon abgesehen führt uns gerade dieses Werk vor Augen, welches Bild Evgeny Kissin von Beethovens Sonaten hat: Für ihn ist es romantische Musik.
    Dass sich ein Ausnahmetalent wie Evgeny Kissin für dieses Beethoven Album ausschließlich für live Mitschnitte entschieden hat und gegen eine cleane Studio-Produktion, dadurch zulässt, dass kleine Verrutscher hörbar sind, das kann man angesichts der im Klassik-Markt verbreiteten Kultur risikoloser Perfektion begrüßen. Selbst bei Live-Mitschnitten wird üblicherweise nachträglich korrigiert. Aber für einen Musiker, der aus dem Moment schöpft, gehören selbst kleine Unsauberkeiten zum Zauber des Moments einfach dazu.
    Darüber hinaus hat Evgeny Kissin mit seinem Wunsch nach Aufnahmen vor Publikum auch einen wesentlichen Aspekt von Beethovens Musik getroffen: Er wollte wirken. Beethoven war ein Komponist, der ausgeprägt sendungsbewusst und zudem auch politisch motiviert seine Musik geschrieben hat. Diese Musik braucht das Gegenüber.
    Auf dem Doppelalbum findet sich auch Beethovens letzte Klaviersonate. Evgeny Kissin spannt damit einen Bogen vom frühen Beethoven, von der dritten Sonate, zum späten, zu dem Komponisten, der mit seiner Musik Grundfesten erschüttern will oder, in den langsamen Sätzen, sie in Zeitlupe zersetzt. Ein Faszinosum, eine Herausforderung für jeden Pianisten.
    Nachdem Kissin im ersten Satz der Sonate op.111 zeigt, dass er das düster Dämonische dieser Musik zu ergründen versteht - einer Musik wie hinter Gitterstäben -, steigt er in die fast schon "therapeutischen" Längen des zweiten Satzes ein. Doch er lässt sich auch hier nicht fortreißen, und versteht es, das Schwerelose aus den Noten zu kondensieren und minutenlang in der Schwebe vor unseren Ohren zu halten.
    Auch wenn Evgeny Kissin die Werke und Aufnahmen des Albums laut Label selbst zusammengestellt hat, so ist der Gesamteindruck weniger persönlich als erwartet. Vielleicht liegt das aber auch im Wesen dieses Künstlers, der seine beeindruckende Technik mit einer gewissen diskreten Demut vor dem Komponisten Beethoven paart. Dadurch ist das Doppelalbum vielleicht keine Sensation, aber ein hörenswerter Beethoven, mit dem man die hohe Kunst und den emotionalen Gehalt dieser Klaviermusik genießen kann.
    Beethoven
    Evgeny Kissin, Klavier
    2CDs Deutsche Grammophon
    000289 479 7581 6
    LC 0173