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Befreien, ohne zu entwurzeln

Der aus Frankfurt stammende und heute in Paris lebende Politologe Alfred Grosser wurde als Jude geboren, hat den Holocaust überlebte und bekennt sich heute zum Atheismus. Er ist ein streitbarer, unangepasster Geist. Sein neues Buch "Die Freude und der Tod" widmet sich politischen Fragen - und ist doch auch eine Art Lebensbilanz.

Von Kersten Knipp |
    Wenn man über die Dinge im Allgemeinen irgend etwas sagen kann, dann dass sie erstens kompliziert sind und zweitens, dass die eine oder andere Behauptung zwar wahr ist, deren Gegenteil darum aber nicht ganz falsch. Lust am vertrackten Denken hat der französische Politologe Alfred Grosser in allen seinen Büchern bewiesen, aber vielleicht könnte man treffender sagen: Er hat sich der Notwendigkeit eines solchen Denkens gebeugt.

    Denn die Dinge sind nicht einfach, und wer das annimmt oder gar behauptet, der begibt sich schnell in die Nähe von Ideologie und/oder Populismus. Beides kann man in der Politik nicht brauchen, jedenfalls dann nicht, wenn man sie mit Grosser folgendermaßen definiert:

    Die Politik darf definiert werden, wie ich es zum Volkstrauertag getan habe: Sie ist das beste Mittel, um neue Trauer zu verhindern. Aber eine andere ist mir lieber: Die Politik ist die Gesamtheit der Ziele und der Mittel, die sich eine menschliche Gemeinschaft gibt um zu versuchen, die Zukunft zu meistern.

    "Die Freude und der Tod" hat Grosser sein neues Buch genannt, das nichts Geringeres ist als eine "Lebensbilanz", wie der Untertitel verkündet. Und es mag an der Zeit sein, dass der jugendlich wirkende, aber eben doch 1925 geborene Publizist und Essayist Bilanz zieht. Und das heißt auch: Gedanken an den unweigerlich nahenden Tod verwenden. Aber der Tod ist es auch, der der Politik ihren Zauber, ihre verführerische Macht verleiht. Denn Politik, oder besser deren Schrumpfform, die Ideologie, ist eines der letzten Reservate, in denen sich der Mensch, wenn er dazu willens ist, zumindest noch eine Zeit lang absolut verorten kann. Dagegen setzt Grosser, der sich zeitlebens auch als Pädagoge verstand, einen anderen Wert:

    Das Hauptanliegen ist die Freiheit. Nicht die der Willkür, des sinnlosen Handelns. Zunächst die ständige Selbstbefreiung von Vorurteilen und Gebundenheiten. Dann die Frage "Wie kann ich befreien, ohne zu entwurzeln?" - sie sollte sich für jeden Lehrer, jeden Jugendbeauftragten stellen: Bis wohin darf er, soll er von den Werten des Elternhauses abweichen und die Schüler oder Jugendlichen zu Werten führen, die eine Kritik der Eltern implizieren?

    Für eigenständiges Denken macht sich Grosser auf den unterschiedlichsten politischen Gebieten stark. In Deutschland wurde er vor allem mit zwei Themen assoziiert: Mit Israel, dessen Palästina-Politik der Publizist immer wieder scharf kritisiert hat. Und mit dem französisch-deutschen Verhältnis, in dem ihm immer wieder die Rolle eines Mittlers zugedacht wurde. In seinen Erinnerungen kommen beide Themen aber nicht oder kaum vor. Zu Israel äußert er sich überhaupt nicht, und die Mittlerrolle zwischen Frankreich und Deutschland wird seiner Ansicht nach langsam obsolet. Das liege am insgesamt guten Verhältnis der beiden Staaten zueinander. Alfred Grosser schreibt:

    Einerseits gibt es immer wieder politische Spannungen oder sogar Krisen. Andererseits sind die Formen und Möglichkeiten des gesellschaftlichen Austauschs und der Zusammenarbeit sehr viel zahlreicher, viel intensiver, stellen ein viel engeres Netz dar, als es zwischen Frankreich und irgend einem anderen Land, zwischen der Bundesrepublik Deutschland und irgendeinem anderen Land besteht.

    Angesichts dieses entspannten Verhältnisses begibt sich Grosser auf ausgiebige Streifzüge durch andere politische Themenfelder, vor allem aber durch deren Niederungen. Immer wieder interessiert er sich für das Kleingedruckte unter den großen Parolen und Programmen. Warum etwa haben die Wirtschaftswissenschaftler keine Anzeichen für die Finanzkrise ausmachen können? Weil ihre Disziplin im Grunde keine Wissenschaft sei, schreibt Grosser, genüsslich die New York Times zitierend. Die behauptete, Ökonomen übten denselben Beruf aus wie Historiker und Romanciers. Nur, dass ihre Gedanken oft viel schwerere Folgen hätten. Und doch gilt auch hier, dass die Dinge immer zwei Seiten haben.

    Inwieweit sinken nicht die Renditen, wenn man langfristig investiert oder (horribile dictu) Löhne und Gehälter der Belegschaft am Gewinn profitieren lässt? Investieren heißt auch, einen Betrieb zu kaufen ihn durch Entlassungen zu "entfetten" und dann mit Profit zu verkaufen? Dies zu bewerten, ist nicht immer einfach: Besonders kaufkräftige Fonds enthalten die Ersparnisse von Millionen kleiner Rentner, denen die hohe Rendite zugute kommt.

    Dennoch beobachtet Grosser die neoliberalen Exzesse, auch Verbalexzesse, mit erheblichem Unbehagen. Eine ehemalige Studentin von ihm wurde Präsidentin des Spitzenverbandes der französischen Unternehmer. In dieser Funktion, einen möglichst ungeregelten Arbeitsmarkt im Sinn, erklärte sie, das Leben, die Gesundheit und die Liebe seien prekär. Warum sollte dieses Gesetz nicht auch für die Arbeit gelten?

    Grosser bleibt die Antwort in diesem Fall schuldig, wohl darum nur, weil ihm die Diagnose zu billig ist. Wer sein Buch aber gelesen hat, der weiß die Antwort: Weil Leben, Liebe und Gesundheit gewissermaßen "natürliche" Phänomene sind, der Beeinflussbarkeit zumindest in Teilen entzogen. Die Arbeit hingegen ist ein sozialer Faktor – und damit nach Maßgabe menschlicher Wertvorstellungen regulierbar.

    Aber selbst die Unvorhersehbarkeit angeblich "natürlicher" Faktoren versucht der Mensch in den Griff zu bekommen: Sonst gäbe es, angesichts eines unkalkulierbaren Lebens, einer unkalkulierbaren Liebe und unkalkulierbaren Gesundheit, keine Versicherungen, keine Psychologen, keine Medizin. Wer Alfred Grossers Überlegungen folgt, möchte nicht mehr daran zweifeln, dass die Arbeit des Sisyphos, die er zu Anfang seines Buches beschreibt, am Ende doch nicht vergeblich ist. Denn wenn man am Ende des Tages nur genau genug hinschaut, dann liegt der Stein tatsächlich ein wenig höher als noch am Morgen dieses Tages.

    Alfred Grosser: "Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz". Rowohlt, 288 Seiten, 19,95 Euro.