"Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle. Mein Bruder und ich hatten unsere Eltern verloren. In gewisser Weise rechtfertigt das alles. Wir hatten niemanden. Und das buchstäblich von heute auf morgen."
In diesen ersten Sätzen, die nüchtern die Tatsachen des Lebens benennen, steht eigentlich schon alles geschrieben: Roberto Bolaños nachgelassener "Lumpenroman" begnügt sich, ganz anders als sein monumentaler und über die Maßen gefeierter Tausendseiter "2666", mit einem einfachen Setting: Wie im Märchen müssen Bruder und Schwester nach dem Unfalltod der Eltern in einer klirrend kühlen Welt ihren Weg finden. Sie vertreiben sich die Zeit mit Fernsehserien und Videos, stellen sich die Zukunft vor und machen Pläne, die etwas rührend Kleinbürgerliches haben, als müsste noch in den Träumereien eine Ordnung geschaffen werden, die längst verloren gegangen ist. Bianca heißt das Mädchen, sie ist die Erzählerin, und sie ist die Rationalere von den beiden: Fast möchte man sie gefühllos nennen, so lässt sie alles geschehen; aber sie kann die Gefühllosigkeit in Worte fassen, und zugleich scheint sie ihre Geschicke in die Hand zu nehmen. Sie wünscht sich, einmal einen Friseursalon zu betreiben; ihr Bruder arbeitet in einem Fitnessstudio – er möchte mit seiner Muskelkraft in der Gesellschaft bestehen. Zwei Waisenkinder, die plötzlich auf sich zurückgeworfen sind:
"Von dem Moment an veränderten sich die Tage. Oder vielmehr, es veränderte sich der Lauf der Tage. Oder vielmehr das, was den einen und den anderen Tag verbindet und zugleich eine klare Grenze zwischen den beiden zieht. Auf einmal gab es keine Nacht mehr und war alles ein Dauerzustand von Sonne und Licht. Anfangs dachte ich, das käme von der Müdigkeit, von dem Schock, den das plötzliche Verschwinden unserer Eltern bewirkt hatte, aber als ich meinem Bruder davon erzählte, sagte er, ihm gehe es genauso. Sonne, Licht und berstende Fenster.
Da dachte ich, wir würden sterben.
Aber unser Leben verlief in denselben Bahnen wie vor dem Tod unserer Eltern. Jeden Morgen gingen wir zur Schule. Sprachen mit denen, die wir für unsere Freunde hielten. Lernten, nicht intensiv, aber wir lernten."
Die Figuren sind so unkonturiert, dass eines rasch klar wird: Es geht hier um Typen, um ein In Roberto Bolaños "Lumpenroman" müssen Bruder und Schwester nach dem Unfalltod der Eltern ihren Weg in der Welt finden. Sie vertreiben sich die Zeit mit Fernsehserien und Videos und machen Pläne, die etwas rührend Kleinbürgerliches haben.
Spiel, um Helden, die in verschiedene Genres gesteckt werden, ohne dass auch nur eines dieser Genres klare Umrisse annehmen würde: Ist es ein Märchen? Eine Coming-Of-Age-Geschichte? Eine Groteske? Ein Kriminalroman?
"Wir vertrieben uns die Zeit mit Fernsehen, sahen erst Talkshows, dann Zeichentrickfilme, schließlich das Frühstücksfernsehen mit Interviews und Gesprächen und Berichten über berühmte Leute. Aber davon später mehr. Fernsehen und Video spielen in dieser Geschichte eine wichtige Rolle."
Fernsehen und Video sind Surrogate der Wirklichkeit. Sie machen sie konsumierbar oder wenigstens erträglich. Warum er Pornofilme schaue, fragt Bianca ihren Bruder, und er antwortet: um zu lernen, wie man Liebe macht. Man könne nämlich nicht so sicher sein, ob man von schweinischen Filmen nicht doch etwas erfahren kann. Tatsächlich ersetzt das Medium die Schule, sie kanalisiert die Fantasien, und es präsentiert die Bilder des eigenen nicht-gelebten Lebens. Die Einsamkeit der Figuren zeigt sich in ihrer Beziehungslosigkeit. Die Vergangenheit ist so sehr in ihnen eingekapselt, dass sie sich ganz besinnungslos einer unwirklichen Gegenwart hingeben müssen.
RobertoBolaño erschafft diese Unwirklichkeit durch einen kargen Ton, der in der Übersetzung von Christian Hansen geradezu etwas Kafkaeskes bekommt; die Atmosphäre ist von großer Banalität und größter Spannung zugleich. Immer denkt man, es müsste etwas passieren; und es passiert schließlich doch nichts.
Der "Lumpenroman" macht ein Geheimnis um sich, auch als noch weitere Protagonisten auf den Plan treten: Da sind zwei junge, sich aufs Haar gleichende Männer, die der Bruder eines Tages anschleppt. Sie haben keine Namen und heißen nach den Orten, an denen die Schwester ihre Herkunft vermutet: der eine ein Bologneser, der andere ein Libyer oder Marokkaner. Mal schläft Bianca mit dem einen, mal mit dem anderen, ohne sich dafür zu interessieren, welchen von den beiden sie in ihr Bett lässt. Auch hier herrscht eine Sehnsucht, Bilder mit Inhalten zu füllen, das Tun mit Gefühlen aufzuladen. Aber die Handlung bleibt ganz bedeutungs- und folgenlos.
"Worauf wartete ich? Ich muss damals irgendwie verrückt gewesen sein, denn ich wartete auf Tränen.
Das war es, worauf ich wartete. Aber es floss keine einzige."
Eines Tages reift ein Plan, an den alle "ihr Schicksal geknüpft" haben. Die drei jungen Männer machen die Bekanntschaft eines ehemaligen Bodybuilders und Sandalen-Film-Helden, der einsam, blind und alt geworden in einer heruntergekommenen Villa mitten in Rom lebt. In dem Haus soll sich ein Tresor voller Geld befinden. Bianca wird auserkoren, sich die Freundschaft von Maciste zu erschleichen und auszukundschaften, wo sich der Tresor befindet.
"Er war groß und dick. In Wirklichkeit aber war Maciste nicht so. Er war groß, ja, hochgewachsen und breit. Auch dick. Er war Bodybuilding-Weltmeister gewesen und ein winziger Teil dieses Ruhms überlebte noch irgendwo, nicht in seinem Körper vermutlich, eher in seinen Gesten. Sein Körper besaß die weißliche Farbe von Menschen, die nie in die Sonne gehen. Seinen Schädel hatte er kahl geschoren, oder er war von Natur aus kahl. Höflich war er. Er trug einen uralten schwarzen Bademantel, der fast bis zu den Knöcheln reichte, und eine schwarze Sonnenbrille, die in seinem großen Gesicht klein wirkte."
Nun geschieht das Unglaubliche: Bianca verliebt sich in den unansehnlichen Hünen, sie lieben sich, und die Diebin in spe wird zur Vertrauten. Der Blinde öffnet ihr die Augen. Und sie bekommt es plötzlich mit Gefühlen zu tun, von denen sie vorher nur geahnt hat, dass es sie geben könnte.
"Und wenn ich dann in seinen Armen lag und er mich wie im Fluge durch die Dunkelheit trug, oder wenn ich unter oder neben ihm im Bett oder im Fitnessraum lag, jeder Millimeter meines Körpers satt eingekremt, dankte ich im Stillen dafür, dass ich den Tresor nicht gefunden hatte, noch nicht."
Der ursprüngliche Plan geht natürlich nicht auf, wie sollte er auch, wo doch plötzlich Bianca aus ihrer Dunkelheit ausgerechnet an diesem schmutzigen Ort von einem blinden Seher und einem gefallenen Gott herausgeführt wird. Eigentlich geht gar nichts auf, außer dass Bolaño seiner Hauptfigur einen Blick aus der Leere ins Licht gestattet – sodass die Anspannung sich lösen kann. Aus dem Lumpenroman wird kein Krimi, aber auch keine plumpe Gesellschaftssatire, noch nicht einmal ein Happy End gibt es darin. Und doch handelt das Buch von einer Befreiung aus der eigenen Macht- und Lieblosigkeit – die Fähigkeit zum Handeln wird zurückgewonnen oder sie wird überhaupt erst erlangt. Und die schweinischen Filme sind tatsächlich nur aseptische Vehikel auf dem Weg zu einem irdischen, dreckigen, aber ganz und gar unbenennbaren Glück gewesen. Man darf durchaus vermuten, dass die Mutterschaft, von der im ersten Satz des Buches gesprochen wird, eine Folge der Begegnung mit Maciste ist.
Bolaño, dem man nach seinem frühen Tod 2003 im Alter von 50 Jahren zu einem der Schlüsselschriftsteller des 21. Jahrhunderts ausgerufen hat, arbeitet in diesem kleinen, geschlossenen und doch vieles offen lassenden Werk mit ganz alten Mitteln: Reduzierung, Mythisierung, Verzauberung. Je karger das Buch, desto kryptischer wird es und desto blühender werden freilich auch die Interpretationsfantasien: Der "Lumpenroman" hat etwas Rätselhaftes. Immer könnte alles auch anders sein und anders gewendet werden. Jede Deutung wird automatisch trivial und angreifbar angesichts der Vagheit des Textes und der Verlorenheit der Figuren, deren Inneres man zu lesen versucht und die doch auch hohl bleiben. "Alles Geschriebene ist Schweinerei", zitiert Bolaño als Motto Antonin Artaud. Und weiter:
"Die Leute, die das Unbestimmte verlassen, um zu versuchen, irgend etwas von dem, was in ihrem Geist vorgeht, zu präzisieren, sind Schweine. Das ganze Literatenvolk ist schweinisch, und besonders dasjenige dieser Zeit."
Zu den Schweinen gehört Bolaño gewiss nicht: Bei ihm bleibt nicht alles, aber vieles im Unbestimmten. Die Sprache täuscht Einfachheit nur vor. Bolaño lädt ein zur Lektüre von inneren Filmen, die etwas Verschwommenes und Verwirrendes haben. Man kann sich darin abhandenkommen.
Roberto Bolaño: Lumpenroman. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser Verlag. München 2010. 110 Seiten. 14,90 Euro.
In diesen ersten Sätzen, die nüchtern die Tatsachen des Lebens benennen, steht eigentlich schon alles geschrieben: Roberto Bolaños nachgelassener "Lumpenroman" begnügt sich, ganz anders als sein monumentaler und über die Maßen gefeierter Tausendseiter "2666", mit einem einfachen Setting: Wie im Märchen müssen Bruder und Schwester nach dem Unfalltod der Eltern in einer klirrend kühlen Welt ihren Weg finden. Sie vertreiben sich die Zeit mit Fernsehserien und Videos, stellen sich die Zukunft vor und machen Pläne, die etwas rührend Kleinbürgerliches haben, als müsste noch in den Träumereien eine Ordnung geschaffen werden, die längst verloren gegangen ist. Bianca heißt das Mädchen, sie ist die Erzählerin, und sie ist die Rationalere von den beiden: Fast möchte man sie gefühllos nennen, so lässt sie alles geschehen; aber sie kann die Gefühllosigkeit in Worte fassen, und zugleich scheint sie ihre Geschicke in die Hand zu nehmen. Sie wünscht sich, einmal einen Friseursalon zu betreiben; ihr Bruder arbeitet in einem Fitnessstudio – er möchte mit seiner Muskelkraft in der Gesellschaft bestehen. Zwei Waisenkinder, die plötzlich auf sich zurückgeworfen sind:
"Von dem Moment an veränderten sich die Tage. Oder vielmehr, es veränderte sich der Lauf der Tage. Oder vielmehr das, was den einen und den anderen Tag verbindet und zugleich eine klare Grenze zwischen den beiden zieht. Auf einmal gab es keine Nacht mehr und war alles ein Dauerzustand von Sonne und Licht. Anfangs dachte ich, das käme von der Müdigkeit, von dem Schock, den das plötzliche Verschwinden unserer Eltern bewirkt hatte, aber als ich meinem Bruder davon erzählte, sagte er, ihm gehe es genauso. Sonne, Licht und berstende Fenster.
Da dachte ich, wir würden sterben.
Aber unser Leben verlief in denselben Bahnen wie vor dem Tod unserer Eltern. Jeden Morgen gingen wir zur Schule. Sprachen mit denen, die wir für unsere Freunde hielten. Lernten, nicht intensiv, aber wir lernten."
Die Figuren sind so unkonturiert, dass eines rasch klar wird: Es geht hier um Typen, um ein In Roberto Bolaños "Lumpenroman" müssen Bruder und Schwester nach dem Unfalltod der Eltern ihren Weg in der Welt finden. Sie vertreiben sich die Zeit mit Fernsehserien und Videos und machen Pläne, die etwas rührend Kleinbürgerliches haben.
Spiel, um Helden, die in verschiedene Genres gesteckt werden, ohne dass auch nur eines dieser Genres klare Umrisse annehmen würde: Ist es ein Märchen? Eine Coming-Of-Age-Geschichte? Eine Groteske? Ein Kriminalroman?
"Wir vertrieben uns die Zeit mit Fernsehen, sahen erst Talkshows, dann Zeichentrickfilme, schließlich das Frühstücksfernsehen mit Interviews und Gesprächen und Berichten über berühmte Leute. Aber davon später mehr. Fernsehen und Video spielen in dieser Geschichte eine wichtige Rolle."
Fernsehen und Video sind Surrogate der Wirklichkeit. Sie machen sie konsumierbar oder wenigstens erträglich. Warum er Pornofilme schaue, fragt Bianca ihren Bruder, und er antwortet: um zu lernen, wie man Liebe macht. Man könne nämlich nicht so sicher sein, ob man von schweinischen Filmen nicht doch etwas erfahren kann. Tatsächlich ersetzt das Medium die Schule, sie kanalisiert die Fantasien, und es präsentiert die Bilder des eigenen nicht-gelebten Lebens. Die Einsamkeit der Figuren zeigt sich in ihrer Beziehungslosigkeit. Die Vergangenheit ist so sehr in ihnen eingekapselt, dass sie sich ganz besinnungslos einer unwirklichen Gegenwart hingeben müssen.
RobertoBolaño erschafft diese Unwirklichkeit durch einen kargen Ton, der in der Übersetzung von Christian Hansen geradezu etwas Kafkaeskes bekommt; die Atmosphäre ist von großer Banalität und größter Spannung zugleich. Immer denkt man, es müsste etwas passieren; und es passiert schließlich doch nichts.
Der "Lumpenroman" macht ein Geheimnis um sich, auch als noch weitere Protagonisten auf den Plan treten: Da sind zwei junge, sich aufs Haar gleichende Männer, die der Bruder eines Tages anschleppt. Sie haben keine Namen und heißen nach den Orten, an denen die Schwester ihre Herkunft vermutet: der eine ein Bologneser, der andere ein Libyer oder Marokkaner. Mal schläft Bianca mit dem einen, mal mit dem anderen, ohne sich dafür zu interessieren, welchen von den beiden sie in ihr Bett lässt. Auch hier herrscht eine Sehnsucht, Bilder mit Inhalten zu füllen, das Tun mit Gefühlen aufzuladen. Aber die Handlung bleibt ganz bedeutungs- und folgenlos.
"Worauf wartete ich? Ich muss damals irgendwie verrückt gewesen sein, denn ich wartete auf Tränen.
Das war es, worauf ich wartete. Aber es floss keine einzige."
Eines Tages reift ein Plan, an den alle "ihr Schicksal geknüpft" haben. Die drei jungen Männer machen die Bekanntschaft eines ehemaligen Bodybuilders und Sandalen-Film-Helden, der einsam, blind und alt geworden in einer heruntergekommenen Villa mitten in Rom lebt. In dem Haus soll sich ein Tresor voller Geld befinden. Bianca wird auserkoren, sich die Freundschaft von Maciste zu erschleichen und auszukundschaften, wo sich der Tresor befindet.
"Er war groß und dick. In Wirklichkeit aber war Maciste nicht so. Er war groß, ja, hochgewachsen und breit. Auch dick. Er war Bodybuilding-Weltmeister gewesen und ein winziger Teil dieses Ruhms überlebte noch irgendwo, nicht in seinem Körper vermutlich, eher in seinen Gesten. Sein Körper besaß die weißliche Farbe von Menschen, die nie in die Sonne gehen. Seinen Schädel hatte er kahl geschoren, oder er war von Natur aus kahl. Höflich war er. Er trug einen uralten schwarzen Bademantel, der fast bis zu den Knöcheln reichte, und eine schwarze Sonnenbrille, die in seinem großen Gesicht klein wirkte."
Nun geschieht das Unglaubliche: Bianca verliebt sich in den unansehnlichen Hünen, sie lieben sich, und die Diebin in spe wird zur Vertrauten. Der Blinde öffnet ihr die Augen. Und sie bekommt es plötzlich mit Gefühlen zu tun, von denen sie vorher nur geahnt hat, dass es sie geben könnte.
"Und wenn ich dann in seinen Armen lag und er mich wie im Fluge durch die Dunkelheit trug, oder wenn ich unter oder neben ihm im Bett oder im Fitnessraum lag, jeder Millimeter meines Körpers satt eingekremt, dankte ich im Stillen dafür, dass ich den Tresor nicht gefunden hatte, noch nicht."
Der ursprüngliche Plan geht natürlich nicht auf, wie sollte er auch, wo doch plötzlich Bianca aus ihrer Dunkelheit ausgerechnet an diesem schmutzigen Ort von einem blinden Seher und einem gefallenen Gott herausgeführt wird. Eigentlich geht gar nichts auf, außer dass Bolaño seiner Hauptfigur einen Blick aus der Leere ins Licht gestattet – sodass die Anspannung sich lösen kann. Aus dem Lumpenroman wird kein Krimi, aber auch keine plumpe Gesellschaftssatire, noch nicht einmal ein Happy End gibt es darin. Und doch handelt das Buch von einer Befreiung aus der eigenen Macht- und Lieblosigkeit – die Fähigkeit zum Handeln wird zurückgewonnen oder sie wird überhaupt erst erlangt. Und die schweinischen Filme sind tatsächlich nur aseptische Vehikel auf dem Weg zu einem irdischen, dreckigen, aber ganz und gar unbenennbaren Glück gewesen. Man darf durchaus vermuten, dass die Mutterschaft, von der im ersten Satz des Buches gesprochen wird, eine Folge der Begegnung mit Maciste ist.
Bolaño, dem man nach seinem frühen Tod 2003 im Alter von 50 Jahren zu einem der Schlüsselschriftsteller des 21. Jahrhunderts ausgerufen hat, arbeitet in diesem kleinen, geschlossenen und doch vieles offen lassenden Werk mit ganz alten Mitteln: Reduzierung, Mythisierung, Verzauberung. Je karger das Buch, desto kryptischer wird es und desto blühender werden freilich auch die Interpretationsfantasien: Der "Lumpenroman" hat etwas Rätselhaftes. Immer könnte alles auch anders sein und anders gewendet werden. Jede Deutung wird automatisch trivial und angreifbar angesichts der Vagheit des Textes und der Verlorenheit der Figuren, deren Inneres man zu lesen versucht und die doch auch hohl bleiben. "Alles Geschriebene ist Schweinerei", zitiert Bolaño als Motto Antonin Artaud. Und weiter:
"Die Leute, die das Unbestimmte verlassen, um zu versuchen, irgend etwas von dem, was in ihrem Geist vorgeht, zu präzisieren, sind Schweine. Das ganze Literatenvolk ist schweinisch, und besonders dasjenige dieser Zeit."
Zu den Schweinen gehört Bolaño gewiss nicht: Bei ihm bleibt nicht alles, aber vieles im Unbestimmten. Die Sprache täuscht Einfachheit nur vor. Bolaño lädt ein zur Lektüre von inneren Filmen, die etwas Verschwommenes und Verwirrendes haben. Man kann sich darin abhandenkommen.
Roberto Bolaño: Lumpenroman. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser Verlag. München 2010. 110 Seiten. 14,90 Euro.