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Befremdlich mystisch

Mit Der atemlose Stern legt Kenzaburo Oe nach Grüner Baum in Flammen und Der schwarze Ast den dritten und letzten seiner Romane über die Kirche vom grünen Baum in Flammen vor. Der zweite Bruder Gii leitet die Kirchengemeinschaft in einem kleinen Dorf in den dichten Wäldern der Insel Shikogu, der Insel, auf der Kenzaburo Oe 1935 geboren wurde. In einer Art Landkommune leben die Gläubigen zusammen.

Von Simone Hamm |
    Die Hermaphroditin Satchan, die im Verlauf der Romantrilogie ihre männlichen Züge verloren hat und fast zu seiner Frau geworden ist, hat den Hof der Gemeinde verlassen. Sie zieht sich zurück ins Landhaus des Schriftstellers K. dem alter ego von Kenzaburo Oe. Dort will sie meditieren, lesen, sich auseinandersetzten mit den Bekenntnissen des Augustinus und mit Simone Weills "Das Unglück und die Gottesliebe". In dem Landhaus erweitert sie aber nicht nur ihren erkenntnistheoretischen Horizont. Sie macht verwirrende sexuelle Erfahrungen, gerät in den Bann einer schönen Nachbarin und eines Fotografen. Sie wird zur Hure für reiche Männer, die schon alles erlebt haben, was es an erotischen Feuerwerken gibt, und die sich nun an Satchans Zweigeschlechtlichkeit delektieren.

    Einst hatte Bruder Gii, dem sie sich hingegeben hatte, ihren Körper fast zu etwas Göttlichem erhoben. Satchan war stolz gewesen, denn sie hielt sich für den besonderen Menschen, auf den Gii so lange gewartet hatte. Und Gii war der besondere Mensch für sie, war der Erlöser. Als sie aber erkannte, dass er voller Zweifel war, dass er unbeholfen sein konnte und auf ihre Fragen keine Antwort hatte, verließ sie die Kirchengemeinschaft. Jetzt genießt sie es beinahe, ihren Körper von satten, müden japanischen Geschäftsleuten benutzen zu lassen.

    Wie zur Vergeltung für mein damaliges Ich wünsche ich mir jetzt wutentbrannt, meinen Körper zu einer belanglosen Seltenheit und Obszönität zu degradieren. Die sexuelle Beziehung mit Bruder Gii, die, wie er es formuliert hat, dazu bestimmt war, die geschlechtliche Dreieinigkeit Wirklichkeit werden zu lassen, wollte ich wie auf jenem Bild des Hermaphroditen als verderbte Parodie wiederaufleben lassen.

    Als Sachan aber hört, dass Bruder Gii von einem Trupp linksradikaler Extremisten zusammengeschlagen, dass seine Knie zerschmettert worden sind, kehrt sie sofort zurück zur Kirche vom grünen Baum. Dort ist ihr Platz. Sie ahnt schon, dass die Kirche zum Untergang verurteilt ist. Zu groß sind die Differenzen zwischen denen, die sich eine spirituelle Gemeinschaft wünschen, die durchs Land pilgern, um ihre Kirche bekannt zu machen und denen, die den Hof bewirtschaften, die durch den Verkauf ökologischer Sandwichs das Geld in die Kirchenkasse bringen. Bruder Gii will den geistigen Weg einschlagen:

    Ich glaube nicht, dass es falsch war, wenn mich die…Pilgergruppe Erlöser nennt. Jetzt bin ich ein Stellvertreter, doch wenn der Mensch selbst erscheint und zum "Erlöser" wird, wird man auch mich zusammen mit unzähligen anderen Stellvertretern "Erlöser" nennen. Und ich werde zum Erlöser selbst werden.

    Doch Bruder Gii kann den Ansprüchen, die seine "Jünger" an ihn haben, nicht gerecht werden. Er ist kein Erlöser, kein Heilsbringer. Er ist zum Mystiker geworden. Als er sich dazu entscheidet, sich um die Belange der Seele zu kümmern statt um die Bewirtschaftung des Hofes, nimmt er der Kirche ihre materielle Grundlage. Er wendet sich den Toten zu, nicht den Lebenden.

    Ich werde nicht mehr lange leben, aber das ist ein relatives Problem. Denn ich spüre bereits die Existenz derer, die mit mir, einem Toten, zusammenleben und mich verbinden. Andere, die mich mit den noch später kommenden verbinden werde, werden mich an den richtigen Platz in der Reihe stellen. Es ist die Reihe derer, die den Lehrsatz "Lebe zusammen mit den Toten" zum Grundsatz ihres Lebens machen. Wir nennen das die Kirche vom grünen Baum in Flammen.

    Immer mehr ist Bruder Gii in die Bereiche der Mystik vorgedrungen und hat seine Anhänger mitgerissen. Kenzaburoe Oe macht es dem westlichem Leser schwer, ihm bis hierhin zu folgen.
    Das erste Drittel des Romans, das Satchans sexuelle Erfahrungen und ihre Auseinandersetzung mit dem existenzialistischen Gottesbegriff zum Inhalt hat, ist noch spannend und auch ohne die Kenntnis der beiden vorhergehenden Bände der Trilogie zu verstehen.

    Es lebt von dem Gegensatz von philosophischen Reflexionen und fleischlicher Begierde. Satchan ist durcheinander. Sie sucht ihren Platz. Sie saugt alles auf, was sich ihr bietet. Kenzaburo Oe schreibt spröde, kühl und genau, ob es um Sex oder um Philosophie geht.
    "Der atemlose Stern" enthält all‘ die Themen, um die Kenzaburo Oes Schreiben sein Leben lang kreiste: Mythen und Geschichten aus dem alten Japan, die Suche nach Heil und einem Heilsbringer, die Zerstörung der Umwelt, das Leben in einer Genossenschaft auf dem Land, die Sehnsucht nach dem Tod.

    Bruder Gii ist bereit zu sterben, sich zu opfern. Mutig fährt er in seinem Rollstuhl einer Gruppe von Eltern entgegen, deren Kinder auf dem Hof leben. Sie wollen ihre Kinder zurückholen. Männer, die ihre Gesichter mit Handtüchern verhüllt haben, eilen auf ihn zu. Steine fliegen. Da endlich erkennt Satchan, wer Bruder Gii für sie ist:

    Dieses Porträt von Bruder Gii, als er gerade in seinem Rollstuhl zusammenbricht, erinnert mich an Jesus, so wie ihn der heilige Johannes vom Kreuz gemalt hat. Dieser Jesus, aus dessen ganzem Körper Blut tropft, stützt mit aller Kraft, sodass er selbst schon ganz gekrümmt ist, das schwere Kreuz, an das man ihn genagelt hat.

    Diese Gleichsetzung von Bruder Gii und Christus, die sich schon den
    ganzen Roman über ankündigte, ist schwer erträglich. Im Verlaufe seines Romans ist der große Erzähler Kenzaburo Oe dem Mystizismus seiner Protagonisten erlegen. Das wirkt nicht nur fremd auf einen westlichen Leser, sondern befremdend.

    Kenzaburo Oe
    " Der atemlose Stern
    S. Fischer, 320 S., EUR 24.90