"Zur Wirklichkeit des Judentums gehört seine Vielfalt, sein Pluralismus." So formulierte es einst der Namensgeber des jüdischen Begabtenförderungswerkes, der 2007 verstorbene jüdische Historiker und Religionswissenschaftler Ernst Ludwig Ehrlich. Als vor zehn Jahren erstmals Stipendien an jüdische Begabte vergeben wurden, stand ELES für ein klassisches Stipendienprogramm. Man wollte gleichziehen mit anderen Begabtenförderungswerken. Schließlich hatte sich dank des ungeahnten Zuwachses an jüdischen Gemeindemitgliedern in den 1990er Jahren auch der Raum dafür geöffnet, jüdischen Studierenden eine finanzielle Perspektive durch Stipendien zu geben. Doch ELES habe sich in den 10 Jahren gewandelt, sagt Geschäftsführer Jo Frank. Mittlerweile sei das jüdische Begabtenförderungswerk zugleich "Labor, Diskursmaschine und Familie".
Frank: "ELES ist einerseits Labor für jüdische Identitäten, Labor aber auch für Überlegungen, wie die jüdische Gemeinschaft Gesellschaft gestalten kann. Die Diskursmaschine ist ELES durch die vielen Sachen, die wir eben nicht nur innerhalb der Gemeinschaft, sondern außerhalb machen, ob das Ausstellungen sind oder Diskussionsabende und die Familie ist Begriff, den wir übernommen haben von den Stipendiatinnen und Stipendiaten, die ELES selbst als Familie bezeichnen."
Raus aus dem Tunnel
Alissa Frenkel ist Gesamtsprecherin von ELES. Sie wuchs im Elsaß auf, in einer jüdischen Gemeinschaft, die anders als in Deutschland ist. Derzeit macht sie ihren Master in International Affairs an der Hertie School of Governance.
Frenkel sagt: "Das Judentum, das ich bei ELES kennenlerne, ist ganz anders geprägt, als das Judentum, mit dem ich aufgewachsen bin, weil das Judentum in Frankreich und das jüdische Leben ist ganz anders geprägt, ist viel traditioneller und ich würde sogar sagen, in Deutschland sind die Leute viel offener. Deswegen war ich sehr in meinem Tunnelblick, als ich nach Deutschland kam und dieser Tunnel wurde komplett zerbrochen, als ich dann bei ELES ankam, weil, mir war gar nicht bewusst, dass es so viele verschiedene Strömungen gibt und vor allem die liberalen Strömungen waren mir ganz neu."
Sie schätze besonders die Gespräche mit den anderen Stipendiaten, sagt Frenkel, die familiäre Atmosphäre, etwa an gemeinsamen Shabbatabenden.
Frenkel: "Mit dem begriff Labor verbinde ich ELES eher nicht, das ist mir zu steril, aber eigentlich ist ELES ganz vielfältig und bunt und ich denke, Familie trifft es aus meiner Perspektive schon eher, obwohl wir alle sehr unterschiedlich sind, haben wir alle diesen gemeinsamen Nenner, nämlich die Förderung bei ELES und auch gemeinsame Ziele, würde ich sagen, nämlich einfach das vielfältige Judentum in Deutschland zu fördern und auch die Gesamtgesellschaft mehr fürs Judentum zu öffnen und uns da mehr einzubringen."
Soziales Engagement wird erwartet
ELES legt neben der rein akademischen Unterstützung großen Wert auf ideelle Förderung. Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm zu jüdischen Themen, Kollegreihen, Studientage, das "Dagesh Kunstlab" oder die "Dialogperspektiven" zum interreligiösen Gespräch. Begleitet wird das Programm auch von liberalen und orthodoxen Rabbinern. Es geht auch darum, einen Raum für junge Jüdinnen und Juden zu schaffen. Erwartet wird ein hohes soziales und gesellschaftliches Engagement, nicht zuletzt in den Gemeinden.
Sandra Anusiewicz-Baer ist Koordinatorin der konservativen Rabbinerausbildung am Zacharias Frankel College. Sie hatte schon viele Jahre Berufserfahrung, als sie mit einem Promotionsstipendium über ELES gefördert wurde.
Anusiewicz-Baer: "Was ELES, denke ich, besonders macht, ist, dass es tatsächlich so viele junge Jüdinnen und Juden zusammenbringt, die ansonsten als lose Elementarteilchen einfach so herumschweben würden an den Universitäten. Dass man tatsächlich über diesen gemeinsamen Nenner Judentum zusammenkommt und sich findet. Egal, ob man jetzt jüdische Studien studiert oder eben Medizin oder Jura."
Ein wichtiger Punkt ist die immer wieder verhandelte Frage zur jüdischen Identität. Viele führe die eigene Auseinandersetzung mit dieser Frage überhaupt erst zu ELES. Dort wiederum würde diese Auseinandersetzung weitergeführt, sagt Anusiewicz-Baer.
Anusiewicz-Baer: "Das ist ein Thema, was immer wieder komm und an dem die Leute sich reiben und vielleicht ist es auch ein gesamtgesellschaftliches Thema. Tatsächlich die Frage: Wer sind wir, woher kommen wir, was ist uns wichtig, welche Gesellschaft wollen wir? Und was heißt das eben für die eigene Herkunft und für das eigene Erbe?"
Keine Renaissance im Religiösen
Wenn junge Jüdinnen und Juden zu ELES gehen, ist das für viele auch der Wunsch, mehr über ihr Judentum zu erfahren. Denn viele stammen aus Zuwandererfamilien, die mit jüdischer Religion wenig in Berührung gekommen waren. Sich mit der eigenen jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen, das Judentum gewissermaßen neu zu lernen, hieße jedoch keineswegs, dass sie religiös lebten, so Anusiewicz-Baer.
Anusiewicz-Baer: "Man spürt es in den Begegnungen: Der überwiegende Teil definiert sich wirklich kulturell oder säkular. Und wenn wir von einer jüdischen Renaissance in Deutschland sprechen, dann müssen wir auch ganz klar sagen, dass diese Renaissance nicht im Religiösen stattfindet und nicht im observanten Judentum. Sondern, dass sie eben ganz eigene Wege geht und das, denke ich, bildet sich da sehr, sehr deutlich ab."
Rachel de Boor ist Alumna von ELES. Sie ist auch heute noch im Studienwerk aktiv. Fragen zur Identität haben sie schon lange vor ELES beschäftigt. Rachel de Boor wuchs in einer ostdeutschen Pfarrersfamilie auf, später konvertierte sie zum Judentum. Bei ELES werde jüdische Identität tatsächlich ausbuchstabiert.
de Boor: "Hier können sich viele Identitäten finden und auch verändern. Und es wird einem nicht so raufgedrückt, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Sondern, das ist wie so ein Wechselspiel zwischen allen Menschen, die kommen und es ist ein ziemlich junges Studienwerk, bei dem man, finde ich auch, von außen ziemlich sieht, wie es sich ständig weiterentwickelt. Und ich habe das Gefühl, es ist ziemlich viel in Bewegung und das gehört für mich auch zu jüdischer Identität heutzutage dazu."
Woody Allen und Sabbat
Ob auf lange Sicht durch ELES wirklich eine Stärkung von jüdischer Identität und Gemeinschaft stattfinde – und das ist ein Anspruch des Studienwerkes – bleibe aber eine offene Frage, sagt Sandra Anusiewicz-Baer. Mit zehn Jahren sei ELES schließlich ein noch sehr junges Begabtenförderungswerk. Für das Selbstverständnis und die Selbstvergewisserung einer jungen jüdischen Generation immerhin ein wichtiger Ort. Entscheidend sei letztlich jedoch die Frage, wie die Stipendiaten ihr Judentum tatsächlich im Alltag leben und in die nächste Generation tragen würden.
Anusiewicz-Baer: "Das ist der Gradmesser für jüdische Identität: Was bleibt? Sind es die Witze von Woody Allen oder ist es die gemeinsame Shabbatfeier am Freitagabend im Kreise der Familie? Es kann natürlich auch sein, ich interessiere mich einfach für jüdische Themen und bin bei jedem Kulturfestival dabei. Vielleicht genügt das auch. Oder für viele genügt das sicherlich und die drücken ihre Verbundenheit darüber aus. Aber, trotzdem, ein ganz großer Teil ist natürlich die Religion, Judentum, das über Religion definiert wird und da, finde ich, ist es spannend und, denke ich, müssen wir abwarten, inwieweit da tatsächlich neue Impulse hervorgehen. Also auch die Religion weiterzuentwickeln und ob die Religion die passenden Antworten findet für die Bedürfnisse der jungen Studierenden."