"Wenn ich das Äußere wiedergeben soll, so müsste ich sagen, dass Benjamin etwas von einem Zauberer hatte, aber in einem sehr unmetaphorischen, sehr wörtlichen Sinn. Man hätte ihn sich gut mit einem sehr hohen Hut und einer Art von Zauberstock vorstellen können."
Wie dem Philosophen Theodor W. Adorno, der sich 1965 an seinen damals schon 25 Jahre toten Freund erinnert, muss es vielen gegangen sein, die Walter Benjamins Weg kreuzten. Nicht wenigen galt er als Guru, als Magier. Die Wirkung, die das labyrinthische Werk des Schriftstellers und Philosophen seit den 1970er-Jahren erfuhr, lässt sich auch auf sein Schicksal, den tragischen Tod auf der Flucht zwischen Frankreich und Spanien zurückführen.
Doch wer war der Mann, der zu den einflussreichsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts zählt, wirklich? Menschen, die ihm nahe standen, liebten sein Lachen, seine Begabung zur Freundschaft, seine Genussfähigkeit. Doch dieses Bild hat Risse: Freundschaften konnten abrupt enden, vielen galt Benjamin als Eigenbrötler, sonderbar und verschlossen. Auch in der Erinnerung seines Freundes Gershom Sholem scheinen diese Züge auf:
"Benjamin machte, wenn man ihn kennenlernte, einen überaus merkwürdigen Eindruck. Er war von größter Zivilität; ich pflege, wenn ich von ihm spreche, zu sagen, er hatte eine chinesische Höflichkeit im Umgang mit Menschen. Und zugleich war immer an ihm ein sehr starkes Element der Zurückhaltung, das sich sehr langsam im Verkehr mit Menschen auflöste. Er pflegte seine Bekannten und Freunde, auch enge Freunde, außerordentlich wasserdicht voneinander wegzuhalten."
39 weitgehend chronologische Texte
Vermutlich gehörte all das zusammen. Der von Erdmut Wizisla herausgegebene Band "Begegnungen mit Benjamin" versammelt Erinnerungen, Berichte, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen – fast alles, was Freundinnen und Freunde, Kollegen oder flüchtige Wegbegleiter über Benjamin erzählt haben. Die 39 weitgehend chronologisch angeordneten, mit knappen Strichen in ihren jeweiligen Kontext gestellten Texte vermitteln ein facettenreiches Bild von Benjamin.
Das Spektrum der Fundstücke ist breit: Es reicht vom verstörenden Report Herbert Blumenthals, eines Schulkameraden am Berliner Kaiser-Friedrich-Reformgymnasium, der Benjamin als machtbesessenen Zwangscharakter zeichnet, bis zu Franz Hessels Nahaufnahmen aus der Berliner Bohéme. Ernst Bloch, wie Benjamin Grenzgänger zum Feuilleton, weiß zu berichten, dass der Freund sein Faible fürs Absonderliche durchaus selbstironisch verspotten konnte:
"So etwa konnte er fragen – das war die erste Frage, die er an meine damalige Braut richtete; wir sahen ihn versonnen, sozusagen, auf dem Kurfürstendamm wandeln mit gesenktem Kopf – und sie, die damalige Braut Karola, die ihn zum ersten Mal sah und so viel durch mich von ihm gehört hatte, fragte ihn, worüber er gedacht hätte, und er antwortete: Gnädige, ist Ihnen schon einmal das kränkliche Aussehen der Marzipanfiguren aufgefallen?"
Die meisten Texte, die der Leiter des Berliner Benjamin-Archivs akribisch zusammengetragen hat, werden Kennern vertraut sein, allerdings waren sie bislang nur sehr verstreut zugänglich. Einiges Neue spürte Wizisla auf. Dazu gehören die Erinnerungen der 2009 verstorbenen Fotografin und Übersetzerin Lore Krüger, die als junges Mädchen in Paris fast Wand an Wand mit Benjamin wohnte. Ihr kleiner Report über das Haus im 15. Arrondissement und seine spektakuläre Nachbarschaft ist alltäglich – und doch sehr genau:
"Im siebten Stock wohnten in der Mitte Arthur Koestler und seine Freundin Daphne Hardy, eine nette englische Bildhauerin. Und links von ihnen wohnte Walter Benjamin. Der war auch so ein Eigenbrötler. Benjamin war ein Nachtarbeiter. Er hatte die Gewohnheit, nachts zu arbeiten und dann hinterher zu baden. Das Haus war so gebaut, dass die Abflussrohre seines Badezimmers durch mein Schlafzimmer gingen, so wussten wir immer, wann er badete. Morgens schlief er immer sehr lange. Wenn man irgendetwas von ihm wollte und bei ihm klingelte, erschien er an der Tür in einem rostroten Bademantel, mit wirrem Haar und wirrem Blick, ziemlich geistesabwesend, und wusste nichts mit uns anzufangen. Wir nannten ihn den Waldgeist."
Emigrantengemeinde traf sich zu Gespräch, Schach und Poker
Die kleine Emigrantengemeinde traf sich zu Gespräch, Schach und Poker. In "Scum of the earth" erzählt Koestler von einer späteren Begegnung, bei der sein Pokerpartner Benjamin ihm für den Fall des Scheiterns der Flucht die Hälfte seiner Morphin-Tabletten gegeben hatte – ohne zu wissen, ob die 31 verbliebenen für ihn reichen würden. Texte von Hannah Arendt, Soma Morgenstern, Hans Sahl, Giselle Freund oder Stephane Hessel zeugen vom engen Kontakt in die Emigranten-Szene und zur Geisteswelt seines Gastlands.
Beklemmend das Ende: Hier versammelt der Band alle verfügbaren Dokumente der Flucht über die Pyrenäen – darunter erstmals auf Deutsch die Erinnerungen Carina Birmanns, die als junge Frau zeitgleich mit Benjamin unterwegs war. Sie bezeugt das grausame Spiel, mit dem Grenzwächter, Gendarmen und Gestapo-Agenten noch an Benjamins Sterbetag die Flüchtlinge drangsalierten.
Benjamins Ende wirkte mit am Mythos. Doch der Herausgeber wehrt sich entschieden dagegen, seine Biografie nur von Portbou her zu lesen. Er ist kein Gescheiterter – oder doch höchstens nur im Sinne eines Satzes, den Benjamin selbst, zwei Jahre vor seinem Tod, über Franz Kafka niederschrieb:
"Die Umstände dieses Scheiterns sind mannigfache. Man möchte sagen: War er des endlichen Misslingens erst einmal sicher, so gelang ihm unterwegs alles wie im Traum."
Buchinfos:
Erdmut Wizisla: "Begegnung mit Benjamin", Lehmstedt Verlag, Leipzig, 400 Seiten, Preis: 24,90 Euro
Erdmut Wizisla: "Begegnung mit Benjamin", Lehmstedt Verlag, Leipzig, 400 Seiten, Preis: 24,90 Euro