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Begeisterung für das Sauerland

Hans Jürgen von der Wense (1894-1966) war ein ungebundener, exzentrischer Geist; Musiker, Schriftsteller und Natur-Philosoph. Während des 2. Weltkriegs ließ er sich in Göttingen nieder. Von dort aus erwanderte und erforschte er systematisch Deutschlands Mitte. Wie Fernando Pessoa führte auch Wense ein geheimes Leben zwischen Selbstbekenntnis und Fiktion. Wie der portugiesische Dichter zeichnete er unendlich viel auf, veröffentlichte zu Lebzeiten aber kaum 50 Seiten. Über 30.000 beidseitig beschriebene Blätter sind in seinem Nachlass erhalten, an die 6000 Briefe; darüber hinaus 40 Tagebücher, ein dutzend Kompositionen, 3000 Fotos und vieles mehr. Dieter Heim, Wenses Freund und Nachlassverwalter, hat sich der Wiederentdeckung dieses geheim gebliebenen Autors verschrieben. Nach dem Band "Geschichte einer Jugend" brachte er jetzt den mit expressiven Landschaftsfotos des Autors bebilderten Band "Wanderjahre" heraus.

Von Gabriele Killert |
    Jürgen von der Wense, Nachkomme eines verarmten westfälischen Adelsgeschlechts, kannte keine Halbheiten. Was er auch unternahm, er betrieb alles mit fiebernder Intensität und Inbrunst. In der Begeisterung lag seine Bestimmung. Gelegentlich behauptete er, einen Beruf ausgeübt zu haben. Kumpel im Ruhrgebiet, Seemann oder auch Kapellmeister im Zirkus Sarasani gewesen zu sein. Das waren Maskenspiele. In Wahrheit wäre ein bürgerliches Leben für Wense ebenso exotisch und beängstigend gewesen, wie für den biederen Bürger das eines brotlosen Poeten. Für Jürgen von der Wense konnte es nur eine Berufung geben.

    Ich bin nur ein Dichter und das heißt ein Mensch und das heißt ein Rebell! Mein Spruch heißt: der Schönheit sich fügen! Meine Aufgabe: verkünde den Glanz der Welt!

    Die Welt in nuce waren für ihn die alten Landschaften und Orte der deutschen Mittelgebirge.

    Ich fuhr nach Brakel in Westfalen, in seiner schweren und starren Flur. Der romanische Dom wie einst, den ich ausstudiert und ausbeschrieben wie keinen - die Grabtafeln der Haxthausen, die hier die Brüder Grimm zu den Märchen bewogen, das erste stammte aus Brakel. Ging nach Westen hoch hinauf zur Flechtheimer Linde... Plötzlich stieg Nebel auf wie Dampf aus der Erde und tollte um die kleinen Bühle und Knülle... wollte am liebsten auf jedes Hügelchen, - weiter durch Tannwald einsamst, kein Ende, zur Emder-Höhe: alles unberührt wie vor 1000 Jahren...

    Was die deutsche Seele seit Goethe jenseits der Alpen in Italien suchte, fand Wense in dem vergleichsweise unspektakulären Planquadrat zwischen Rhein und Elbe. Sein "Süden" war das Sauerland, sein Vesuv der Hohe Meißner, sein Rom Paderborn. Unermüdlich wandernd "zwischen Trier und Goslar, Fulda und Paderborn, ... über die Vulkane der Rhön und so rundum auf den einsamsten Wegen", durchmaß er die Region in bis zu 40 km langen Tagesmärschen, tief ergriffen von der "realen Gegenwart" des Mittelalters, dem Gefühl, "dass alle Zeiten nur e i n e sind", dass er in allen lebt und alle in ihm. Und wenn von "Meßtischkarten" die Rede ist, die er minutiös studiert, so assoziiert man nicht von ungefähr 'Gottesdienst'.

    "Der Glanz der Welt" liegt auf den nassen Schieferdächern der alten Bauernhäuser, dem krummen Holz verwitterter Kirchturmtüren, den opalisierend schimmernden Feldern und Felsen. "Unsagbar schön" erscheint ihm dieses "ganz und gar vergessene", Land mit seinen weiten Hochflächen und tief eingekerbten waldigen Tälern, den zerbrochenen Eichen, Hünengräbern und urzeitlichen Wällen- Chiffren des mythischen Zentralmassivs romantischen Weltempfindens- "augenbetäubend" schön die Spektralität von Granit, Lavagestein, Mergel, Basalt. Jedes unverhoffte Kirchlein, jeden Buckel zwischen Großenrode, Imbshausen und dem Gartetal gilt es zu feiern.

    Eine Landschaft von wunderbarer Unschuld, - zwischen knabenhafter Ausgelassenheit und greisenhaftem Tiefsinn- oft roh, wild wie eine alte Saga.
    "Mit den Füßen meditierend" und dem Wünschelruten-Blick des Schatzsuchers läuft der wunderliche Mann, vor Begeisterung laut singend durch Sturm und Braus. Ca. 42-tausend km, also einmal rund um den Globus soll Wense in seinem Leben, meistens auf deutschem Boden erwandert haben. Für ihn ist jede Wanderung eine Wallfahrt, auch Freundschaftspflege, Beziehungsarbeit. denn er wandert auch gern zu zweit, mit einem getreuen Sancho Pansa an seiner Seite.

    Dieser erstaunliche Sonderling, dieser absolute Nicht-Literat gehört an hervorragende Stelle in jener überfälligen Geschichte der geheimen deutschen Literatur, von der ich immer träume

    schwärmte Botho Strauß. Ja, in der Tat, von Adalbert Stifter bis Peter Handke ist die deutschsprachige Literatur wahrlich nicht arm an inspirierten Landschaftsschilderungen. Aber bei Jürgen von der Wense findet man diese hohe Temperatur, diesen Beschreibungsfuror und "naiven" Verehrungswillen, der nur an einen anderen Dichter denken lässt: den unergründlichen Robert Walser. Beide waren kostbare, durch und durch poetische Figuren, artistische Höhenwanderer mit einem sicheren Gespür, den hohen Ton nicht zu überreizen, ihn durch Anfälle burlesker Selbstdemontage auszubalancieren. Selbst Leute, die normalerweise nur mit dem Restaurantführer im Gepäck von Event zu Event unterwegs sind, dürfte Wenses Feuer beeindrucken, denn es gelingt ihm, diese Landstriche, wo der Hund begraben liegt, Ereignis werden zu lassen. Wer das wunderschöne Buch Wanderjahre, das der Freund und Nachlaßverwalter Wenses Dieter Heim jetzt herausgegeben hat, aufschlägt und nur ein bisschen anfällig ist für poetische Qualitäten, der gerät in den Sog dieser ganz eigenen reizvollen Mischung aus geologischem Expertenscharfsinn, metaphysischer Trunkenheit und kindlich koboldiger Unmittelbarkeit, oder, um Wense selbst zu zitieren,

    dieser kühnen Verbindung von freier Dichtung und pünktlicher Wissenschaft, voll von Realien, alles einwebend in den universalen Traum, in dies herrliche Eine Leben und Lebensgeheimnis.

    Jürgen von der Wense, 1894 in Ortelsburg, dem heutigen Szcytno, geboren, gehört zur Generation der Expressionisten, eines Hans Henny Jahnn, Joseph Roth und Franz Werfel. In Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion erschienen 1917 einige Gedichte von ihm. Während des ersten Weltkrieges brachte er sich selbst das Komponieren bei. Die Kritik sagt dem gefeierten jungen Komponisten eine große Zukunft voraus, doch Wense zieht sich ganz aus der Öffentlichkeit zurück und bricht die Musikerlaufbahn ab. Seine innere Musik transponiert er von nun an in die Tonarten seines Schreibens, die "sinfonischen Dichtungen" seiner Texte. Eine Art Idee fixe, von der er nicht mehr loskommen wird, ergreift allmählich von ihm Besitz: die Mission, den "allesumfassenden-allesüberschreitenden" Text zu schreiben.

    Ich ordne es alphabetisch, nach Stichworten und bringe (von Aas bis Zylinder) die erlesensten, erpichtesten Stücke aus allen Zeiten und Zonen, ..... aber nicht nur Weisheit u. Poesie, wesentlich auch Dokumente, politische, juridische und intime, ein Querschnitt durch das Gesamtsein der Menschheit. Ein also sehr barockes Unikum ... Das Schönste wird das Inhalts- u. Namensverzeichnis.

    Dieses Don Quichotische Unternehmen, sein "All-Buch", das im Laufe der Zeit immer surrealere Formen annimmt, ist nichts geringeres als der Versuch, die Schöpfung zu inventarisieren. Alles interessiert ihn. Heraklit und Laotse. Trobadour-Lyrik, Astrologie und Wetterkunde. Die Gesänge der Südsee, der Beduinen, der Amazonasindianer. Glücklicherweise fand Wense, der Gelderwerb verachtete, immer wieder Freunde und Förderer, die an sein Werk glaubten und ihn mit kleinen Summen alimentierten. Er revanchierte sich mit langen Episteln.

    Die Nazi-Zeit überstand der inzwischen vierzigjährige "fahrende Gesell", immer noch Untermieter im möblierten Zimmer, halbwegs unbeschadet dank seines gut ausgebildeten Fluchtinstinkts, der immer schon Teil seines Wandertriebs war. Er zieht nach Göttingen "wegen der unüberbietbaren Bibliothek". Mit derselben Inbrunst, mit der er wandert, durchforstet er die Wälder des Wissens. Zehn Stunden sitzt er oft täglich in der Bibliothek über seinem "Allbuch". Dieses "barocke Unikum" war von einem einzigen Sterblichen nicht zu stemmen, schon gar nicht von diesem illuminierten Verzettelungskünstler. Man kann daher die Leistung der Literaturwissenschaftler Reiner Niehoff und Valeska Bertoncini nicht genug bewundern, die aus diesem gigantischen Steinbruch in jahrelanger akribischer Feinarbeit im Sinne des Autors zwei schöne Auswahl- Bände Von Aas bis Zylinder heraus modelliert haben. Was Niehoff fasziniert an Wense, ist die "Verausgabung", der performative Impetus. Oder, mit Ossip Mandelstam gesagt: Poesie ist Ausbruch von Energie und ein Luxus, aber ein notwendiger. Wense war in diesem Sinne ein luxurierender Mensch und Schriftsteller. Seine gleichsam magische Begabung lag darin, sich alles, wofür er Worte fand, im Augenblick anverwandeln zu können. Die Landschaft, die er um sich herum mit allen Sinnen aufnahm, war die augenblickliche Spiegelung seines Innern, das unendliche Buch, das er täglich umschrieb, war er selbst.

    Im Grunde ist alles Sehnsucht, ein schöner Wahn und das Einzige, was Wert und Bestand hat, ist die Schwärmerei. Warum? Weil die Welt ein Schwärmer ist, wie sie sich in immer neuen, schön-grausam-tollen Bildern mitleidlos vor uns abspielt, unbändige Fantasie, wie Heraklit sagt: das Feuer - ob nun Gott ein Knabe ist oder ein Dichter. Alles was die Menschen wähnen, denken und handeln, ist zwar sehr ernst zu nehmen, aber völlig eitel. Es kommt und es geht. Und doch: wie einfach, wie gut ist das Leben, wenn man es nur umfängt. An der Hingabe liegt alles.





    Jürgen von der Wense: Wanderjahre
    (Matthes & Seitz Verlag, Berlin)
    Geschichte einer Jugend
    (Matthes & Seitz Verlag, Berlin)
    Von Aas bis Zylinder
    (Zweitausend Verlag)