Wer heute mit offenen Augen durch Frankfurt am Main geht, findet etliche Gelegenheiten, Catharina Elisabeth Goethe zu gedenken, der Mutter von Johann Wolfgang von Goethe. Ein Ort ist das Haus am Großen Hirschgraben, das nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut wurde, und in dem sie von 1748 bis zu ihrem Umzug in ihren Altersruhesitz am Frankfurter Roßmarkt lebte. An der Peterskirche zwischen Zeil und Eschenheimer Tor befindet sich ihre Grabstätte.
Die vielleicht schönste Gelegenheit bietet sich aber im Palmengarten, wo ein Denkmal an sie erinnert, die von vielen „Frau Rat“ oder „Frau Aja“ genannt wurde – der Spitzname stammt aus dem Volksbuch "Die vier Haimonskinder", in dem die begütigende und vermittelnde Mutter so heißt.
Das Denkmal aus Muschelkalk zeigt eine Frau, der sich ein kleiner Junge vertrauensvoll zuwendet. „Die Märchenerzählerin“ des Bildhauers Josef Kowarzik wurde 1910 zu Frau Ajas Ehren geschaffen, und steht dort, wo sich ihre Obstwiese befand, wo bis heute Apfelbäume Früchte tragen.
Von Kind an frei und einfühlsam
Karitativ, lebendig, andere ermunternd und respektierend, fruchtbar und befruchtend, so tritt einem Goethes Mutter aus den 71 Briefen entgegen, die der Frankfurter Literaturwissenschafter und Bibliotheksleiter des Freien Deutschen Hochstifts, Joachim Seng, zusammengestellt hat.
Von Kind an frei, sich zu entfalten, empathisch und einfühlsam beschreibt Frau Aja sich auch selbst in einem Brief von 1780 an Gustav Friedrich Wilhelm Großmann, der in der Zeit der Aufklärung als Schauspieler, Theaterregisseur und Schriftsteller tätig war:
„Da mir Gott die Gnade gethan, daß meine Seele von Jugend auf keine Schnürbrust angekriegt hat, sondern daß Sie nach Hertzens lust hat wachsen und gedeihen, Ihre Äste weit ausbreiten können u. s. w. und nicht wie die Bäume in den langweiligen Zier Gärten zum Sonnenfächer ist verschnitten und verstümmelt worden; so fühle ich alles was wahr gut und brav ist, mehr als villeicht Tausend andre meines Geschlechts.“
Die Tochter des Frankfurter Stadtschultheiß Textor, heiratete im August 1748 den 21 Jahre älteren, immens reichen, strengen Privatier Caspar Goethe – eher nicht aus Liebe, wie ihre Biographin Dagmar von Gersdorff anmerkt. Doch sie machte das Beste aus ihrem zwar begüterten, aber sicherlich nicht leichten Leben als Vorsteherin des Goethe‘schen Haushaltes am Großen Hirschgraben.
Sie gebar sieben Kinder. Lediglich zwei erreichten das Erwachsenenalter: der älteste, am 28. August 1749 geborene Johann Wolfgang, und die zweitälteste, Cornelia. Sie starb 1777 im Kindbett, ein halbes Jahr vor ihrem 27. Geburtstag.
Mozarts "Zauberflöte", Wielands Bratenwender
Im Brief an den Freund Johann Caspar Lavater vom 23. Juni des Jahres, in dem sie von diesem Schicksalsschlag berichtet, zeigt sich eine weitere Eigenschaft der Frau Aja: ihre tiefe Gläubigkeit:
„– mein Hertz war wie zermahlt, aber der Gedancke, ist auch ein Unglück in der Stadt, das der Herr nicht thut hielte mich daß ich dem Schmertz nicht erlag. Ohne den Felsenfesten Glauben an Gott – an den Gott, der die Haare zehlet dem kein Sperling fehlet – der nicht schläfft noch schlummert, der nicht verreißt ist – der den Gedancken meines Hertzens kent ehe er noch da ist – der mich hört ohne daß ich nöthig habe mich mit messern u Pfriemen blutig zu ritzen, der mit einem Wort die Liebe ist – ohne Glauben an den wäre so etwas ohnmöglich auszuhalten.“
Insgesamt rund 400 Briefe hat Goethes Mutter zeit ihres Lebens geschrieben: An den Sohn, dessen Frau Christiane Vulpius, die sie im Gegensatz zu etlichen anderen von Beginn der Beziehung an respekt- und liebevoll akzeptierte. Sie schrieb auch der Herzogin Anna Amalia, mit der sie einen so freundschaftlichen wie vertrauten Ton pflegte, schrieb Geistesgrößen, den Mündeln des Sohnes, und Freunden wie Johann Caspar Lavater oder der Schriftstellerin Bettine von Brentano, die mit dem Romantiker Achim von Arnim verheiratet war und Johann Wolfgang von Goethe als Dichter glühend verehrte, wovon ihr vielleicht bekanntestes Buch „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ zeugt.
Der Herausgeber Joachim Seng hat die Briefe nicht chronologisch, sondern thematisch angeordnet. Er kommentiert sie kurz und präzise. Pragmatismus, Menschenkenntnis, Unerschütterlichkeit, Belesenheit, Lebenskraft sprechen aus den Dokumenten. Frau Aja nahm schreibend Anteil an wirklich allem: am Kauf eines Bratenwenders durch Christoph Martin Wieland wie an der Karriere ihres Sohnes in Weimar, an der französischen Besatzung ihrer Heimat wie am dortigen kulturellen Leben, etwa dem immensen Erfolg von Mozarts „Die Zauberflöte“:
„Dencke ! vorige Woche ist die Zauberflöthe zum 24ten mahl bey voll gepropftem Hause gegeben worden, und hat schon 22 000 f eingetragen !“
Mütterliche Fabulierlust und ihre Folgen
Mit ihrer Meinung hält sie niemals hinterm Berg. Das zeigt ein Brief aus dem Dezember 1793, nachdem aus Weimar der Wunsch gekommen war, dem Enkel August doch eine Spielzeug-Guillotine zu Weihnachten zu schenken:
„die Jugendt mit so etwas abscheuliches spielen zu laßen – ihnen Mord und Blutvergießen als einen Zeitvertreib in die Hände geben – nein da wird nichts draus.“
Ihre Briefe lassen Catharina Elisabeths Aufrichtigkeit, ihre Gabe zur Freundschaft, ihre Lust am freien Fabulieren in fast jeder Zeile erkennen. Diese Fabulierlust bildet aus Sicht des Psychoanalytikers und Goethe-Forschers Kurt Eissler den Nährboden, auf dem die geniale Begabung des Sohnes wachsen konnte. Johann Wolfgang von Goethe blieb dem Sterbebett seiner Mutter fern. An der Liebenswürdigkeit der Frau Aja, die sie ganz offenkundig bis zu ihrem sanften Tod im September 1808 behielt, kann es wohl nicht gelegen haben. Ihre Worte bezaubern und künden bis heute davon:
„Behaltet mir Eure Liebe, die meinige soll wahren, biß an Grab ja drüber hinaus, solches sagt und wills halten Eure treue Mutter Aja“
Joachim Seng (Hrsg.): „Briefe der Frau Rat Goethe“
Insel Verlag, Berlin. 144 Seiten, 14 Euro.
Insel Verlag, Berlin. 144 Seiten, 14 Euro.