Mannheim, ein warmer Frühsommertag im auslaufenden Lockdown. Claudia Jacobs, langjährige Mitarbeiterin einer Schuldnerberatung, blättert durch ihre Steuerbescheide der letzten Jahre. 2020 muss vorbereitet werden, da macht zum Warmlaufen ein Blick in die Vergangenheit Sinn. Im Wust seitenlanger Texte stößt sie auf diese bisher überlesene Passage.
"Der Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten stützt sich auch auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO und umfasst deshalb auch die Frage einer eventuellen einfachgesetzlich begründeten steuerlichen Berücksichtigung."
"Meine erste Reaktion war: noch mal bitte! Und dann lassen Sie mir bitte Zeit, denn ich muss mal nachschauen, ob ich eine Abgabenordnung hier stehen habe, um diesen erwähnten Paragrafen mal nachzulesen."
Als Schuldnerberaterin kennt sich Claudia Jacobs mit Steuerparagrafen aus, das Ungetüm "§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO" ist ihr aber noch nicht begegnet. "Das erinnert mich an ein kürzlich geführtes Gespräch mit einer 79-jährigen Dame, die meinte, ihr graut vor den nächsten Wochen, denn sie müsse noch ihre Steuererklärung machen. Solche Formulierungen schrecken ab, die sind kaum nachvollziehbar!"
"Zwangsgeld und Vollstreckung" - Steuertexte sind latent aggressiv
"Die Finanzämter haben eine Bürgerbefragung durchgeführt, ungefähr 190.000 Bürgerinnen und Bürger haben da mitgemacht, und diese geben an, dass sie mit den Erläuterungen zum Beispiel im Steuerbescheid nicht gut zurechtkommen."
Christine Möhrs, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache Mannheim, leitet Projekte rund um die Verständlichkeit von Verwaltungssprache – und damit auch die Untersuchung der Steuerbescheide.
"Das festgesetzte Zwangsgeld ist unter Angabe der Zwangsgeldnummer und der Steuernummer an das Finanzamt zu zahlen. Sofern weder der vorstehenden Zahlungsaufforderung nachgekommen noch die Abgabeverpflichtung erfüllt wird, muss - ohne vorherige Mahnung - mit Vollstreckungsmaßnahmen gerechnet werden. Die Kosten der Vollstreckung hat der Schuldner des Zwangsgeldes zu tragen."
Unterschrieben ist dieses computergenerierte und auf einer Anwaltsseite anonym veröffentlichte Mahnschreiben mit den Worten "Mit freundlichen Grüßen Ihr Finanzamt". Jens Ammann vom Bund der Steuerzahler Nordrhein-Westfalen empfindet den Text allerdings alles andere als "freundlich".
"Zwangsgeld hört sich zunächst einmal für denjenigen, der zahlen muss, der ein solches Schreiben bekommt, zunächst mal nach etwas ganz, ganz Bedrohlichem an. Das Ganze wird aber getoppt durch die Begriffe "Vollstreckung" und "Vollstreckungsmaßnahmen". Das hört sich auch vollkommen kompromisslos an, und das enthält ja auch das Wort "Streckung". Und Streckung ruft bei mir auch so eine gewisse mittelalterliche Methode hervor, und ich vermute mal, dass solche Gedanken sicher auch hervorgerufen werden sollen."
Behördensprache als Abschottung und Machtdemonstration
Steuerbehörden nutzen seit vielen hundert Jahren unverständliche, verklausulierte, unpersönliche und latent aggressive Sprachstile. Warum ist das so? Ein wichtiger Grund – heute vielleicht der wichtigste überhaupt - ist die geforderte Rechtssicherheit von Steuertexten. Bescheide müssen vor Gerichten Bestand haben. Aber es gibt noch weitere Gründe für den Gebrauch einer unverständlichen Behördensprache - so Sascha Wolfer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache.
"Heutzutage sagt man, dass der Einsatz dieser doch komplizierten Fachsprache einerseits die Verwaltungspraxis gegen Veränderungen stabilisieren soll, also gegenüber gesellschaftlichen instabilisierenden Veränderungen von außen."
Verwaltungen schotten sich über ihre Sprache von der Gesellschaft ab, in gewisser Weise führen sie ein Eigenleben. Was bis heute dazu führt, dass Verwaltungen unabhängig vom politischen und ideologischen Hintergrund nach vergleichbaren Prinzipien funktionieren. Die Verwaltungen des Vatikans und die des Kremls zum Beispiel sind sich erstaunlich ähnlich.
"Andererseits war aber natürlich auch da eine gewollte Unverständlichkeit schon ziemlich früh da als ein Mittel zur, man könnte sagen, symbolischen Vergegenwärtigung von monarchischer Macht."
Bürger bewerten Finanzamtstexte fast durchweg kritisch
"Im Falle der Uneinbringlichkeit des Zwangsgeldes kann es auf Antrag des Finanzamts durch das zuständige Amtsgericht in Ersatzzwangshaft umgewandelt werden (§ 334 A0)."
"Eine Zwangshaft erinnert mich auch ein bisschen an Zwangsarbeit. Ich habe sofort dieses Bild von Häftlingen in Ketten und einer Spitzhacke in der Hand im Sinn. Das Finanzamt selber macht mit solchen Formulierungen klar, wie hier die Machtverhältnisse verteilt sind."
Für Jens Ammann vom Bunde der Steuerzahler Nordrhein-Westfalen ist es eine von Obrigkeitsdenken geprägte Sprache, die unmissverständlich Ungleichheit signalisiert: Wir, die Steuerverwaltung, sind hier oben, ihr, die Steuerzahler, seid da unten! Mit den Prinzipien demokratischer Verfassungen, mit offener Bürgerbeteiligung, mit dem Wunsch vieler Menschen, sich als gleichberechtigten Teil dieses Staates – ihres Staates– zu sehen, hat das nichts zu tun. Kein Wunder also, dass Bürgerinnen und Bürger Finanzamtstexte fast durchweg kritisch bewerten, so Christine Möhrs, Wissenschaftlerin am Institut für Deutsche Sprache:
"Sie möchten sich richtig verhalten, aber sie verstehen nicht, was von ihnen gefordert wird. Und das produziert natürlich großen Ärger, großen Frust, vielleicht sogar an vielen Stellen, wenn es um das Thema Stil geht, auch eine gewisse Angst und Scheu. Und viele scheitern ja schon beim Lesen der Post vom Finanzamt und haben Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Das ist so die eine Perspektive. Die andere Perspektive der Wirkung ist natürlich auch, dass die viele Fragen haben und sich mit vielen Fragen an die Finanzämter, an die Steuerverwaltung wenden und dadurch natürlich ein sehr hoher Aufwand für die Steuerverwaltung entsteht."
Typische Probleme auf Wort-, Satz- und Textebene
Schlimmer konnte es für Deutschlands Oberste Finanzbehörden kaum kommen. Also beauftragten sie das Institut für Deutsche Sprache mit dem Forschungsprojekt "Bürgernahe Sprache". An der Studie nahmen rund 3.000 Personen teil, bei der unter anderem Originaltexte von Finanzbehörden mit umformulierten Texten verglichen werden sollten. Die Ergebnisse waren frappierend. Nur knapp 30 Prozent der Studienteilnehmer akzeptierten die Originaltexte, bei den umformulierten waren es mehr als 70 Prozent. Bevor die Texte umgeschrieben werden konnten, wurden aber zunächst im Rahmen einer sprachwissenschaftlichen Analyse die Probleme herausgearbeitet. Dabei habe man die Texte in drei Ebenen unterteilt, so Sascha Wolfer, in die Ebenen des Gesamttextes, der Sätze und der Wörter.
"Auf der Wortebene, klar, da sind viele Fachwörter, die manchmal auch schwierig sind zu ersetzen, also ein allgemeinsprachliches Wort für "Progressionsvorbehalt", das ist schwierig, sowas zu finden, das muss man dann eher umschreiben. Aber natürlich so Wörter wie obsolet, adäquat oder fakultativ kann man eigentlich ohne Verlust durch allgemeinsprachliche Wörter ersetzen. Viele lange Komposita, man kann auch Wortungetüme sagen, sowas wie Grundbesitzwertfeststellungsbescheid, das ist schwierig zu verstehen."
Auf der Satzebene fielen sofort die sehr langen Sätze auf, 30 und mehr Wörter sind keine Seltenheit, in sich verschachtelte Bandwürmer, gespickt mit Hinweisen auf Gesetze, die kaum jemand kennt. Alles in allem unverständlich.
"Und auf der Textebene sind es so Dinge, dass oft die Voraussetzungen und die Konsequenzen nicht sauber in den Verwaltungstexten getrennt sind. Die Bürgerinnen und Bürger müssen aber verstehen, was muss ich warum tun, und welche Konsequenzen drohen mir, wenn ich jetzt etwas nicht tue, oder welche Vorteile habe ich, wenn ich es jetzt tue. Und das muss den Bürgerinnen und Bürgern klar vermittelt werden, und das passiert eben nicht immer so klar."
Komplizierte Sätze in verständliche umschreiben
Nach dieser Analyse und der Umfrage, wie Steuerzahlerinnen und Steuerzahler einzelne Finanzamtstexte bewerten, entwickelten die Mannheimer Sprachwissenschaftler erste Lösungen.
"Der erste Bereich ist der, mit dem wir uns gerade befassen, nämlich die Texte als solche leichter verstehbar zu machen, indem man etwa bestimmte sprachliche Formen gezielt wählt. Weniger Passiv, direkte Ansprache, kleine Erläuterungstexte zu komplizierten Termini liefert und ähnliches. Also wirklich, auf der Textebene, auf der Ebene der Textproduktion zu versuchen, die Hürden, die für das Verständnis der Texte enthalten sind, zu senken."
Albrecht Plewnia leitet im Leibniz-Institut für Deutsche Sprache den Programmbereich "Sprache im öffentlichen Raum". Formulare und Steuerbescheide, Mahnungen und Erklärungen sollen einfacher und verständlicher formuliert werden. Wie das funktioniert, zeigen zwei Beispiele.
"Die Begründetheit des Rechtsbehelfs ist im Verfahren zur Entscheidung über Anträge auf Aussetzung der Vollziehung nur in einem begrenzten Umfang zu prüfen." Ein wahrhaft gruseliger Text, eine Substantivkette, die zu lesen fast schon Schmerzen bereitet.
Von den Mannheimer Germanisten geglättet klingt der Satz so: "Wenn das Finanzamt über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung entscheidet, prüft es nur überschlägig, ob der Einspruch begründet ist." "Überschlägig" bedeutet in diesem Beispiel, dass das Finanzamt nicht auf jeden Cent prüft, ob der Antrag begründet ist.
Klarer geschriebene Steuertexte sind oft länger
Das zweite Beispiel wirkt im ersten Moment nicht sonderlich kompliziert, verdeutlicht aber ein grundsätzliches Problem neu formulierter Steuertexte. "Der Festsetzung liegen die vom Arbeitgeber der Ehefrau übermittelten korrigierten Lohnsteuerdaten zugrunde."
Bearbeitet klingt der Satz so: "Der Arbeitgeber der Ehefrau hat der Finanzverwaltung korrigierte Lohnsteuerdaten übermittelt. Diese habe ich bei Ihrer Steuerfestsetzung berücksichtigt."
Das Problem ist: Die Urfassung des Finanzamtstextes besteht aus einem Satz mit zwölf Wörtern, die reformulierte Version dagegen hat zwei Sätze mit 17 Wörtern. Neu und klarer geschrieben Steuertexte sind oft länger als die unverständliche Urform. Bei diesem Satz hält sich das Problem in Grenzen, bei längeren Passagen wird es aber komplizierter.
"Wenn ein Satz anfängt mit 'Gemäß der § 149 und §150 AO in Verbindung mit dem § 25 Abs. 3 EStG', dann würde ich mal die Behauptung aufstellen wollen, dass an dieser Stelle bereits viele Personen ausgestiegen sind. Und wenn es dann weitergeht im Satz '…ergibt sich für Sie eine Verpflichtung zur Abgabe der Einkommenssteuererklärung', dann ist hier zum Beispiel das Thema der Paragraphennennung im Satz eingeflochten, und dann auch noch am Satzanfang ein ganz großes Problem."
Eine Lösung wäre für Christine Möhrs, "…indem man erst einmal die Kernaussage formuliert: ‚Sie sind verpflichtet eine Einkommenssteuererklärung abzugeben.‘ Und dann im Anschluss die Rechtsgrundlagen aufzuführen und dann auch gerne natürlich die konkreten Paragrafen zu nennen, um auch deutlich zu machen: Hier wird ein Inhalt vermittelt, der auf einem Gesetz beruht - aber eben es zu schaffen, die Kernaussage erst mal einfach und zugänglich zu formulieren."
Wirkliche Vereinfachung nur mit neuem Steuerrecht
Was aber zu insgesamt längeren Textpassagen führen kann, verständliche Erläuterungen unverständlicher Sachverhalte brauchen Zeit und Raum. Unabhängig von solchen Zielkonflikten bleibt eine Frage unbeantwortet: Lassen sich Finanzamtstexte grundsätzlich allgemeinverständlich formulieren? Oder scheitert diese Forderung an dem Primat der Rechtssicherheit, das alle Steuertexte erfüllen müssen?
"Ich glaube, genau da, wo es um sehr heikle, um sehr schwierige und komplexe Texte geht, wo vielleicht bei Nichteinhaltung relativ schnell ein Gerichtsverfahren angestoßen würde, da ist es schon verständlich, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung sehr stark in Richtung des Gesetzes schauen, um auch selber nichts falsch zu machen, um auch sicher zu gehen."
Immerhin – so das Ergebnis des Forschungsprojekts – ließen sich künftig die schlimmsten steuer-sprachlichen Auswüchse glätten, radikale Lösungen der Probleme sind aktuell aber nicht möglich. Dafür bräuchte es ein neues Steuerrecht, eines, das wirklich jeder versteht und ohne großen Aufwand angewandt werden kann. Gab es nicht mal die Idee einer Steuererklärung auf dem Bierdeckel? Jede Partei fordert regelmäßig Steuerrechtsreformen, durchgesetzt hat sie bisher niemand.
Sprachkompetenz der Bürger Teil des Problems
Vielleicht ließe sich das Problem aber noch von einer anderen Seite zwar nicht lösen, aber doch lindern, so der Sprachwissenschaftler Albrecht Plewnia, und zwar bei den Bürgerinnen und Bürgern selbst.
"Das ist ein Punkt, den man gerne ein wenig außer Acht lässt, weil er ein sehr großes und sehr umfassendes Ziel ist, aber man sollte das nicht vergessen: Wenn wir insgesamt dafür sorgen, dass alle Personen in Deutschland, die zur Schule gehen, eine profundere sprachliche Bildung erfahren, als das im Moment der Fall ist - dann wird es ihnen auch leichter fallen, komplexere Texte zu verstehen, als es eben im Moment der Fall ist."
Verständlich formuliert, steigt die Akzeptanz von Texten aus Finanzämtern deutlich. Grundsätzliche Lösungen erfordern aber umfassende Steuerrechtsreformen. Für die Schuldnerberaterin Claudia Jacobs sind diese Reformen überfällig. "Der Staat muss ja in irgendeiner Form seiner Verpflichtung nachkommen, da zweifelt ja keiner dran. Aber da fehlen im Vorfeld einfach die unterstützenden Elemente, dass alle Menschen im Sinne einer Steuergerechtigkeit, alle auch in der Lage sind, so eine Steuererklärung sinnvoll und zeitnah abzugeben."