Bei Dao erinnert sich. Das hat er schon in seinen Essays getan. Doch noch nie hat der Lyriker ein ganzes Buch über sich geschrieben, eine Autobiographie aus einem Guss, die vor allem von seiner Kindheit und Jugend handelt. "Das Stadttor geht auf" heißt der Band, der ins Peking der 1950er und -60er Jahre führt. Hier wuchs Bei Dao auf: in den traditionellen Hutongs, in denen die Regeln der kommunistischen Moderne aber bereits volle Gültigkeit besaßen.
Das Peking seiner Kindheit
Bei Daos eigene Familie war auf bescheidene Weise wohlsituiert. Seine Mutter war Ärztin, sein Vater hatte verschiedene Bürojobs von marginaler politischer Bedeutung. Seither ist viel Zeit vergangen. Nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 war Bei Dao lange im Exil. Als sein Vater im Sterben lag, durfte er 2006 erstmals wieder zurückkehren. Die Wolkenkratzer-Metropole der Gegenwart aber mag er nicht. Deswegen möchte er das Peking seiner Kindheit erzählend wieder aufbauen. Das heißt:
"In meiner Stadt sollte die Zeit rückwärtslaufen, die verdorrten Bäume wieder grünen, die verschwundenen Düfte, Stimmen und Lichter zurückkehren. Die demolierten Hofhäuser, Gassen und Tempel sollten ihr altes Aussehen wiedergewinnen, die Reihen der Ziegeldächer wellengleich zum Horizont aufsteigen, der tiefblaue Himmel vom Pfeifen des Taubengefieders klingen. Die Kinder sollten wieder um den Wechsel der Jahreszeiten wissen, die Einwohner wieder ein Gefühl der Orientierung im Herzen tragen. So öffne ich denn das Stadttor und heiße die Dahintreibenden der vier Meere willkommen, heiße die einsamen Seelen willkommen, die kein Heim mehr haben, heiße alle neugierigen Reisenden willkommen."
Eine herzliche Einladung, die aber bei fortschreitender Lektüre etwas verwirrt. Denn die heimatliche Idylle, die Bei Dao hier verspricht, gibt es in seinem Buch gar nicht. Ja, er beschreibt die Spiele seiner Kindheit, das Beisammensein mit den Nachbarn auf der Gasse, er beschreibt Klänge, Geräusche und Gerüche. Doch ist all dies durchsetzt von den furchtbaren Politkampagnen der KP und der großen Hungersnot, die auch Bei Daos Familie auszehrt.
Nachbarn verschwinden
Außerdem verschwinden immer wieder Freunde, Verwandte und Nachbarn. Sie werden zu Arbeit und Umerziehung aufs Land geschickt. Manch einer nimmt sich das Leben, was Bei Dao recht ungerührt auflistet. Was also meint dieser Chronist, wenn er den Menschen seiner Kindheit ein "Gefühl der Orientierung im Herzen" zuschreibt? Auch seine eigene Familie wird in der Kulturrevolution in alle Winde verstreut. Bei Dao nennt die Orte und wirkt dabei sonderbar unbeteiligt:
"Mutter war zur Kaderschule von Xinyang in der Provinz Henan aufgebrochen, mein Bruder zum Aufbaukorps an der Grenze zur Mongolei, ich zur Baustelle im Kreis Yu in der Provinz Hebei. Meine Schwester folgte der Mutter wenig später. Vater war die Krönung des Ganzen: Er musste als letzter in die Kaderschule von Shayang in der Provinz Hubei gehen."
Ein Jahr lang musste der damals 19-jährige Bei Dao China voranbringen und "im Kreis Yu die Berge in die Luft sprengen", wie er schreibt. Mehr erfahren wir über diese sicherlich heftige Arbeit nicht. Stattdessen erzählt er sehr ausführlich von seinen Aktivitäten als Rotarmist, die ihm auch eine längere Reise durch China ermöglichen, um die Revolution in alle Ecken des Landes zu tragen. Diese sehr umfangreichen Schilderungen haben durchaus dokumentarischen Wert.
Alles ist aufzuschreiben
Sehr viel mehr als Bei Daos Kindheitserlebnisse, die recht austauschbar wirken. Erst mit seinem Eintritt in die berühmte Mittelschule Nr. 4, die die Kulturrevolution forcieren und Lehrer in den Selbstmord treiben wird, bekommt die Geschichte Brisanz. Man erlebt den Aufruhr jener Jahre, die bis heute in China nur in politisch besonders entspannten Phasen erzählt werden dürfen. Doch auch in diesen Schilderungen hält sich Bei Dao an den Tipp, den er einst seinem Vater gab.
"Ich riet Vater, alles aufzuschreiben, um es für sich selbst, aber auch für die Geschichte zu hinterlassen. Dies wäre keinesfalls ein individuelles Dokument, es zielte vielmehr auf einen typischen historischen Abschnitt, es zielte auf die komplexe Beziehung von Intelligenzija und Revolution."
"Ich riet Vater, alles aufzuschreiben, um es für sich selbst, aber auch für die Geschichte zu hinterlassen. Dies wäre keinesfalls ein individuelles Dokument, es zielte vielmehr auf einen typischen historischen Abschnitt, es zielte auf die komplexe Beziehung von Intelligenzija und Revolution."
Diese Beziehung interessiert auch den jungen Bei Dao. Viel Klärendes zur Soziologie seiner Zeit aber liefert sein Buch nicht. Woher rührte denn der zerstörerische Wahn der Revolution, die ihn selbst mit fortriss? Wie fühlt er sich heute, wenn er daran zurückdenkt? Wie stand und steht er zur Kommunistischen Partei?
Bei Daos Erinnerungen sind eher situativ und impressionistisch und ähneln darin ein wenig seinen Gedichten. Außerdem sind sie thematisch geordnet, nicht chronologisch, was etwas disruptiv wirkt. So werden auch in einigen Situationen anklingende Gefühle stets wieder unterbrochen.
Bei Daos Erinnerungen sind eher situativ und impressionistisch und ähneln darin ein wenig seinen Gedichten. Außerdem sind sie thematisch geordnet, nicht chronologisch, was etwas disruptiv wirkt. So werden auch in einigen Situationen anklingende Gefühle stets wieder unterbrochen.
Ein blasser Chronist
Warum also soll man "Das Stadttor geht auf" von Bei Dao lesen? Man kann das Buch lesen, wenn man den Lyriker Bei Dao verehrt und alles von ihm wissen möchte. Etwa als Ergänzung zu seinen Essays, in denen er auch gelegentlich Autobiographisches erzählt. Über die Kulturrevolution erfährt man, wenn man sich dafür interessiert, ebenfalls einiges.
Abgesehen davon aber fehlt es dieser Autobiographie an Intensität: sowohl an politisch-analytischer als auch an persönlich-emotionaler. Bei Dao zeigt sich als Chronist, der alles Mögliche erfasst und auflistet – dabei selbst aber vollkommen blass bleibt. Vielleicht liegt das auch daran, dass er seine Beziehung zu Eltern und Geschwistern kaum beschreibt. Eine Autobiographie aber lebt von einem interessanten Erzähler, der ja die Hauptfigur des Ganzen ist. Eine solche aber macht Bei Dao nicht aus sich.
Abgesehen davon aber fehlt es dieser Autobiographie an Intensität: sowohl an politisch-analytischer als auch an persönlich-emotionaler. Bei Dao zeigt sich als Chronist, der alles Mögliche erfasst und auflistet – dabei selbst aber vollkommen blass bleibt. Vielleicht liegt das auch daran, dass er seine Beziehung zu Eltern und Geschwistern kaum beschreibt. Eine Autobiographie aber lebt von einem interessanten Erzähler, der ja die Hauptfigur des Ganzen ist. Eine solche aber macht Bei Dao nicht aus sich.
Bei Dao: "Das Stadttor geht auf"
aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin
Carl Hanser Verlag, München. 334 Seiten, 25 Euro.
aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin
Carl Hanser Verlag, München. 334 Seiten, 25 Euro.