Jasper Barenberg: Heute im Laufe des Tages will sich Ministerpräsident Erdogan mit Vertretern der Protestbewegung treffen. Als wichtige Geste hatten viele dieses Angebot zum Gespräch gesehen, als Zeichen der Entspannung. Jetzt aber fragen sich die Aktivisten, welchen Sinn kann ein solches Treffen überhaupt noch haben, nachdem Erdogan wieder die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas geschickt hat, um den Taksim-Platz zu räumen, der seit elf Tagen in der Hand der Demonstranten war.
Über die Entwicklung vor allem in Istanbul hat mein Kollege Oliver Ramme mit dem Politikwissenschaftler Hussein Bagci von der Technischen Universität Ankara sprechen können, auch über die Frage, ob wir in dem Konflikt eine neue Stufe der Gewalt erleben.
Hussein Bagci: Wir haben in Istanbul eine neue Stufe der Gewalt erfahren, erlebt und es ist wiederum eine falsche Politik der Regierung, die auch die Konfrontation fortsetzt, und bei Erdogan hat sich bewiesen, dass er kein Konfliktlöser ist, sondern ein Konfliktproduzierender, und da wird natürlich der Staatspräsident in die Lage reinkommen, der doch versucht, die Auseinandersetzungen zu einer Stufe zu bringen, wo keine Gewalt gebraucht wird. Aber der türkische Ministerpräsident geht nicht zurück von seiner Position, und das ist das Problem.
Oliver Ramme: Herr Bagci, was geht in Erdogans Kopf vor? Was passiert da gerade? Kann er das überhaupt begreifen, was um ihn herum passiert in Istanbul? Hat er in irgendeiner Form Verständnis für die Demonstranten? Immerhin hat er ihnen ja gestern ansatzweise die Hand gereicht, indem er sagte oder hat ausrichten lassen, dass er das Gespräch suchen würde.
Bagci: Ich denke, Herr Erdogan weiß genau, was er macht. Er spielt die Rolle eines modernen Robin Hood, der von den Reichen nimmt und den Armen gibt. Durch diese Politik ist er auch an die Regierung gekommen und seit elf Jahren regiert er auch so. Aber das Problem ist: Die neue Generation der Türken, die auf die Straßen gegangen sind, die sind eigentlich die Generation [unverständlich], und daher sollte er doch diese jungen Leute vor allem hören und auch die Probleme nicht durch Polizeigewalt, sondern durch den politischen Dialog lösen. Das ist die Erwartung in der Türkei von den breiten Massen der Türkei. Dass er 50 Prozent hinter sich hat, das stimmt. Die Regierung ist legitim, sein Amt ist legitim. Aber seine Art und Weise, wie er das Land regiert und regieren möchte, das ist der Kritikpunkt, und die Türken, wie man jetzt auch sieht, werden es nicht zulassen, dass er mehr autoritäre Tendenzen zeigt und sich in das Leben des Einzelnen einfach so einmischt, wie er das gerne möchte.
Ramme: Ist er denn ein Mann des Verständnisses? Wenn ich zum Beispiel von ihm lese: Heute sagte er, es gebe einen Versuch, die Türkei mit Beteiligung ausländischer Kräfte wirtschaftlich in die Knie zu zwingen und Investoren einzuschüchtern. Erleben wir da sogar schon einen Anflug von Paranoia?
Bagci: Es sind alte Argumente, die in der Türkei nicht mehr Gehör finden. Zweitens: Die politische Stabilität und wirtschaftliche Stabilität in der Türkei hat seit Ecevit angedauert und die Türkei ist eine regionale Macht im wirtschaftlichen Sinne, und warum dann haben diese äußeren Faktoren nicht interveniert. Ich denke, das ist eine Aussage, die an alte Tage der Türkei erinnern, aber die Türken im Allgemeinen akzeptieren diese Argumentationsweise nicht und er wird höchst wahrscheinlich in den kommenden Tagen von dieser Argumentationsweise ausweichen müssen.
Ramme: Aber Erdogan scheint sich ja doch irgendwie in die Enge getrieben zu fühlen, zumindest von den jungen Menschen, die da auf die Straße gehen, und er weiß nicht so recht damit umzugehen.
Bagci: Er ist sehr überrascht worden, er hat das nicht erwartet. Er hat das Gefühl, ich habe dem Volk gedient und warum verstehen sie mich jetzt nicht. Das ist die psychologische Haltung von ihm. Aber es geht darum: Es geht um die demokratischen Werte der Türkei, die man in den letzten 90 Jahren errungen hat, gegen die Werte, die Erdogan in seinem Kopf, in seiner politischen Philosophie entwickelt, die der türkischen Gesellschaft im Allgemeinen fremd sind, nämlich nicht säkular ist. Die Türkei, die türkische Gesellschaft ist eine säkulare Gesellschaft und wird nicht eine religiöse Gesellschaft werden, wo Erdogan versucht, doch seine Politik da zu ändern.
Ramme: Sagen Sie uns, wenn wir auf die Bilder schauen: Wir sehen auf der einen Seite Polizisten, die Tränengas schießen, wir sehen auf der anderen Seite Demonstranten, also das ist eine sehr polarisierte Sicht, die wir haben. Spiegelt das auch die Gesellschaft wieder? Kann man sagen, die einen sind dafür und die anderen sind gegen Erdogan und dazwischen ist niemand?
Bagci: Ich denke, die Proteste zeigen eigentlich eine moderne Aufstandsweise, die in der türkischen Gesellschaft ganz neu ist. Das ist auch das, was Erdogan und seine Partei sehr überrascht hat. Die Polizisten, die versuchen natürlich, alle Gewalttätigen zu kontrollieren. Das ist richtig. Aber von der anderen Seite: Es gibt natürlich gewisse Gruppierungen, die auch gegen Polizei Gewalt anwenden. Das ist normal bei solchen Großdemonstrationen. Aber hier ist die Philosophie wichtig: Sollte man die Polizei immer wieder gegen die jungen Demonstranten schicken? Nein, das sollte nicht der Fall sein. Das ist natürlich eine Polarisierung der Gesellschaft. Und wenn Sie sagen würden, ob Ministerpräsident Erdogan in die Enge gedrängt wird – ja, durch diese Ereignisse wird er es. Und ich denke, er wird es auch sehr schwer haben, sich als Präsident der Türkei im kommenden Jahr zu stellen. Mit dieser politischen Haltung wird er nicht Präsident werden.
Ramme: Herr Bagci, haben Sie das Gefühl, dass dieser Protest die türkische Gesellschaft spaltet?
Bagci: Noch nicht. Die türkische Gesellschaft ist noch nicht gespalten, aber wenn Ministerpräsident Erdogan besonders an diesem Wochenende durch diese Großdemonstrationen in Ankara und in Istanbul weiter die Konfrontationspolitik fortsetzt, dann würde ich sagen, dass eine Spaltung der türkischen Gesellschaft zu erwarten ist.
Barenberg: Der Politikwissenschaftler Hussein Bagci im Gespräch mit meinem Kollegen Oliver Ramme.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Über die Entwicklung vor allem in Istanbul hat mein Kollege Oliver Ramme mit dem Politikwissenschaftler Hussein Bagci von der Technischen Universität Ankara sprechen können, auch über die Frage, ob wir in dem Konflikt eine neue Stufe der Gewalt erleben.
Hussein Bagci: Wir haben in Istanbul eine neue Stufe der Gewalt erfahren, erlebt und es ist wiederum eine falsche Politik der Regierung, die auch die Konfrontation fortsetzt, und bei Erdogan hat sich bewiesen, dass er kein Konfliktlöser ist, sondern ein Konfliktproduzierender, und da wird natürlich der Staatspräsident in die Lage reinkommen, der doch versucht, die Auseinandersetzungen zu einer Stufe zu bringen, wo keine Gewalt gebraucht wird. Aber der türkische Ministerpräsident geht nicht zurück von seiner Position, und das ist das Problem.
Oliver Ramme: Herr Bagci, was geht in Erdogans Kopf vor? Was passiert da gerade? Kann er das überhaupt begreifen, was um ihn herum passiert in Istanbul? Hat er in irgendeiner Form Verständnis für die Demonstranten? Immerhin hat er ihnen ja gestern ansatzweise die Hand gereicht, indem er sagte oder hat ausrichten lassen, dass er das Gespräch suchen würde.
Bagci: Ich denke, Herr Erdogan weiß genau, was er macht. Er spielt die Rolle eines modernen Robin Hood, der von den Reichen nimmt und den Armen gibt. Durch diese Politik ist er auch an die Regierung gekommen und seit elf Jahren regiert er auch so. Aber das Problem ist: Die neue Generation der Türken, die auf die Straßen gegangen sind, die sind eigentlich die Generation [unverständlich], und daher sollte er doch diese jungen Leute vor allem hören und auch die Probleme nicht durch Polizeigewalt, sondern durch den politischen Dialog lösen. Das ist die Erwartung in der Türkei von den breiten Massen der Türkei. Dass er 50 Prozent hinter sich hat, das stimmt. Die Regierung ist legitim, sein Amt ist legitim. Aber seine Art und Weise, wie er das Land regiert und regieren möchte, das ist der Kritikpunkt, und die Türken, wie man jetzt auch sieht, werden es nicht zulassen, dass er mehr autoritäre Tendenzen zeigt und sich in das Leben des Einzelnen einfach so einmischt, wie er das gerne möchte.
Ramme: Ist er denn ein Mann des Verständnisses? Wenn ich zum Beispiel von ihm lese: Heute sagte er, es gebe einen Versuch, die Türkei mit Beteiligung ausländischer Kräfte wirtschaftlich in die Knie zu zwingen und Investoren einzuschüchtern. Erleben wir da sogar schon einen Anflug von Paranoia?
Bagci: Es sind alte Argumente, die in der Türkei nicht mehr Gehör finden. Zweitens: Die politische Stabilität und wirtschaftliche Stabilität in der Türkei hat seit Ecevit angedauert und die Türkei ist eine regionale Macht im wirtschaftlichen Sinne, und warum dann haben diese äußeren Faktoren nicht interveniert. Ich denke, das ist eine Aussage, die an alte Tage der Türkei erinnern, aber die Türken im Allgemeinen akzeptieren diese Argumentationsweise nicht und er wird höchst wahrscheinlich in den kommenden Tagen von dieser Argumentationsweise ausweichen müssen.
Ramme: Aber Erdogan scheint sich ja doch irgendwie in die Enge getrieben zu fühlen, zumindest von den jungen Menschen, die da auf die Straße gehen, und er weiß nicht so recht damit umzugehen.
Bagci: Er ist sehr überrascht worden, er hat das nicht erwartet. Er hat das Gefühl, ich habe dem Volk gedient und warum verstehen sie mich jetzt nicht. Das ist die psychologische Haltung von ihm. Aber es geht darum: Es geht um die demokratischen Werte der Türkei, die man in den letzten 90 Jahren errungen hat, gegen die Werte, die Erdogan in seinem Kopf, in seiner politischen Philosophie entwickelt, die der türkischen Gesellschaft im Allgemeinen fremd sind, nämlich nicht säkular ist. Die Türkei, die türkische Gesellschaft ist eine säkulare Gesellschaft und wird nicht eine religiöse Gesellschaft werden, wo Erdogan versucht, doch seine Politik da zu ändern.
Ramme: Sagen Sie uns, wenn wir auf die Bilder schauen: Wir sehen auf der einen Seite Polizisten, die Tränengas schießen, wir sehen auf der anderen Seite Demonstranten, also das ist eine sehr polarisierte Sicht, die wir haben. Spiegelt das auch die Gesellschaft wieder? Kann man sagen, die einen sind dafür und die anderen sind gegen Erdogan und dazwischen ist niemand?
Bagci: Ich denke, die Proteste zeigen eigentlich eine moderne Aufstandsweise, die in der türkischen Gesellschaft ganz neu ist. Das ist auch das, was Erdogan und seine Partei sehr überrascht hat. Die Polizisten, die versuchen natürlich, alle Gewalttätigen zu kontrollieren. Das ist richtig. Aber von der anderen Seite: Es gibt natürlich gewisse Gruppierungen, die auch gegen Polizei Gewalt anwenden. Das ist normal bei solchen Großdemonstrationen. Aber hier ist die Philosophie wichtig: Sollte man die Polizei immer wieder gegen die jungen Demonstranten schicken? Nein, das sollte nicht der Fall sein. Das ist natürlich eine Polarisierung der Gesellschaft. Und wenn Sie sagen würden, ob Ministerpräsident Erdogan in die Enge gedrängt wird – ja, durch diese Ereignisse wird er es. Und ich denke, er wird es auch sehr schwer haben, sich als Präsident der Türkei im kommenden Jahr zu stellen. Mit dieser politischen Haltung wird er nicht Präsident werden.
Ramme: Herr Bagci, haben Sie das Gefühl, dass dieser Protest die türkische Gesellschaft spaltet?
Bagci: Noch nicht. Die türkische Gesellschaft ist noch nicht gespalten, aber wenn Ministerpräsident Erdogan besonders an diesem Wochenende durch diese Großdemonstrationen in Ankara und in Istanbul weiter die Konfrontationspolitik fortsetzt, dann würde ich sagen, dass eine Spaltung der türkischen Gesellschaft zu erwarten ist.
Barenberg: Der Politikwissenschaftler Hussein Bagci im Gespräch mit meinem Kollegen Oliver Ramme.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.