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"Bei uns spielen auch die Mädchen mit Autos":

Man hieß die Braut, sich auf einen Stuhl zu setzen. Sie legte ihre Hände auf die Knie. Eine junge Frau, die einige Zeit zuvor der gleichen mühseligen Prüfung unterzogen worden war, löste deren Haarflechten auf. Das brennend rote Haar ergoss sich über ihre Schultern. Die anderen betrachteten reglos und schweigsam diesen Vorgang, der an das Schmücken eines Opferlammes im Tempel erinnerte. Für die Braut bestand die Pflicht, dieses Auserwähltsein zum Opferlamm als Ehre zu empfinden. Sie war verbissen und gab keinen Laut von sich. Vier Frauen standen jetzt neben ihr, nahmen einzelne Haarsträhnen, drehten sie zu Locken und befestigten sie dann mit Spangen. Sie massierten ihr das Gesicht mit Creme. Dieses Gesicht, von Bergsonne und Schnee braun gegerbt, war den wissenden Händen der Frauen fügsam und unterlegen. Sie schloss die Augen. Grüne Lidschatten wurden aufgemalt. Für eine Weile verharrte sie mit geschlossenen Augen unter der aufgetragenen Schminke, so als würde sie sich entspannen. Die anderen, die sie schmückten, dachten für einen kurzen Augenblick, sie würde in Tränen ausbrechen. Aber die Zeit des Weinens war noch nicht gekommen. Erst bei Einbruch der Dunkelheit, wenn der Braut eine Krone aus riesigen künstlichen Rosen aufgesetzt würde, dürfte sie das spitzenbesetzte Taschentuch zwischen zwei Finger klemmen und an die inneren Augenwinkel drücken. Das junge Mädchen war wie ein noch unberührtes Mineral. (...) Der Mann, der sie von nun an benützen würde, trank gerade im oberen Stockwerk hochprozentigen Bergschnaps gemeinsam mit den anderen Männern, die ihn zu der Ehre beglückwünschten, von der Frau Gebrauch machen zu können und sie bis zur vollkommenen Abnutzung arbeiten zu lassen. Dabei sprachen die mit Wunden und Brandnarben übersäten Hände, die jetzt die Gläser hoben, für ihre eigene Unterdrückung, die sie vor den Frauen verborgen hielten.

Von Gunnar Köhne | 20.11.2004
    Die türkische Frauenorganisation KA-MER hat in den letzten zehn Jahren mehr als 5000 Frauen über deren Lebenssituation befragt. Das Ergebnis ist deprimierend: Über die Hälfte der interviewten Frauen ist körperlicher Gewalt ausgesetzt, von der seelischen ganz zu schweigen. Die Frauen berichten von Vergewaltigungen und von Morddrohungen. Süd-Ost-Anatolien, diese überwiegend von Kurden bewohnte Region, gilt weiter als Armenhaus und als Hinterhof der Türkei. Lediglich in den größeren Städten, wie etwa in der Metropole Diyarbakir, macht sich der wirtschaftliche Aufschwung mit neuen Hotels und Einkaufszentren bemerkbar. Aber Armut gibt es auch dort. Das Durchschnitts-Einkommen pro Kopf und Jahr liegt unter tausend Dollar - vom großen Wirtschaftsboom im Westen der Türkei hat der Südosten bislang nicht viel mitbekommen. Fünfzehn Jahre Bürgerkrieg zwischen der kurdischen PKK und der türkischen Armee haben drei Millionen Menschen obdachlos gemacht und eine ganze Region zum Außenseiter gestempelt. Deswegen hängt sie umso mehr an ihren Traditionen: Grundrechte für Frauen sind teils immer noch ein Tabu, und diese Ansicht ist keine Frage von Bildung oder Einkommen: Ehrenmorde geschehen auch in wohlhabenden Familien. KA-MER, die Frauenorganisation, berichtet von "Tätern mit Universitätsabschluss.

    Aber die Aussicht auf Europa bringt Bewegung ins Land, auch wenn sie im Südosten immer erst etwas zeitversetzt zu spüren ist. Soeben hat Ankara das alte türkische Recht von 1926 abgeschafft, das Vergewaltigung allein als Beschmutzung der Familienehre ansah - jetzt wird jede Form der sexuellen Gewalt als Tat gegen die Person selbst gewertet. Damit Frauen etwa in Diyarbakir überhaupt davon erfahren,. wird seit kurzer Zeit eine Broschüre verteilt. "Kennen Sie Ihre Rechte?" steht auf dem Deckblatt. Aufklärungsarbeit, die häufig bei null anfangen muss. Mit Flugblättern, oder indem man eigene Räume für Frauen schafft.

    In der Kindertagesstätte des Diyarbakirer Frauenzentrums sitzen die Dreijährigen im Kreis. Die Mädchen und Jungen schauen gebannt auf die sich im Takt bewegenden Hände der beiden Erzieherinnen. Das Lied handelt von den fünf Fingern, die, obwohl unterschiedlich dick und lang, friedlich nebeneinander leben müssen. Die zwei Kindergruppen sind ein Angebot für alleinstehende und sehr junge Mütter, die mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. Die Gebühren richten sich nach dem Einkommen. Wer keins hat, hilft kochen oder putzen.

    Immer wieder ermuntert die Leiterin der Kita, Ayten Tekay, besonders die Mädchen mitzumachen und zu singen.

    Bei uns spielen die Mädchen auch mit Autos. Jedes Kind wird gleich behandelt, egal ob Mädchen oder Junge. Die Jungens maulen schon mal: Warum soll ich in der Küche helfen? Wir antworten dann: Warum nicht, du hast doch auch Augen und Hände. Und irgendwann kommen dann die Mütter und berichten uns, ihr Sohn habe gestern seinen Vater gefragt, warum er nicht den Tisch decke.

    In den Büroräumen des Frauenzentrums, gelegen im dritten Stock des Wohnblocks aus Waschbeton, herrscht routinierte Betriebsamkeit. Wieder einmal haben sich ranghohe Gäste zum Besuch angemeldet. Eine Delegation der europäischen Grünen wird in den nächsten Tagen erwartet. Aufgaben werden verteilt: Wer betreut die Gruppe, wer holt die englischsprachigen Info-Broschüren aus der Druckerei?

    Hayriye Ascioglu arbeitet im Frauenzentrum seit dessen Gründung vor sieben Jahren. Damals kam eine Handvoll Frauen in einem Wohnzimmer zusammen, und gründeten einen Frauennotruf. Die Miete für das erste Büro bezahlten sie aus eigener Tasche. Der Südosten befand sich noch mitten im Bürgerkrieg zwischen der PKK und der türkischen Armee. Wir haben andere Sorgen, bekam die 39jährige Hausfrau zu hören. Ausreden, die sich bis heute gehalten haben, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht:

    Heute nach Ende des Krieges, heißt es, erst müssten dessen Folgen bewältigt werden, Bildungs- und Religionssystem müssten reformiert. Das sind Ausreden. Die Haltung gegenüber Frauen in dieser Region ist Jahrhunderte alt! Frauen sollten schon immer in der zweiten Reihe hinter den Männern stehen.

    Von Mord bedrohten Mädchen können die Aktivistinnen heute nicht nur Rechtsbeistand, sondern, wenn nötig, auch ein sicheres Versteck anbieten. In einem Fall gelang es ihnen sogar eine Flüchtende ins Ausland zu bringen. Heute arbeiten 45 Frauen für das Zentrum, dazu gehört nicht nur der Kindergarten, sondern auch ein von Frauen betriebenes Restaurant. Über den ganzen kurdischen Südosten verteilt gibt es mittlerweile ein Netzwerk von lokalen Fraueninitiativen. Hayriye Ascioglu lehnt sich in ihrem Bürostuhl zurück und lächelt: Die Unterstützung aus dem Ausland, der Frauenmut vor Ort und der Druck aus Brüssel zeigen Wirkung:

    Die Europäische Union ist ein wichtiger Faktor. Glauben Sie bloß nicht, dass die Regierung aus eigenem Antrieb plötzlich die Gesetze ändert und die Strafen für Ehrenmorde verschärft. Den Männern musste man dafür schon ein wenig auf den Kopf hauen (lacht). Zu uns kommen mehr Frauen, die sich von ihrer Familie bedroht fühlen. Aber das heißt nicht, dass es mehr Ehrenmorde gäbe, sondern, dass die Frauen selbstbewusster geworden sind und sich wehren! Außerdem wächst der öffentliche Druck: Gemeinsam mit der Stadtverwaltung, den Schulen und der Polizeibehörde wollen wir demnächst eine Kampagne gegen Ehrenmorde beginnen. In diesem Zusammenhang hat uns die Polizei bestätigt, dass die Zahl der registrierten Ehrenmorde an Frauen rückläufig sei. Das war eine schöne Nachricht.

    Draußen vor dem Frauenzentrum lungern ein paar laute Oberschüler herum. Ihr Schulgebäude liegt auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Die Jacken ihrer Schuluniform tragen sie über dem Arm, die Krawatten sind gelockert, die weißen Hemden hängen aus den Hosen. Zigarettenschachteln machen die Runde. Wie stellen Sie sich ihre zukünftige Ehefrau vor?

    Die sollte wissen wie man seine Ehre schützt. Sie sollte keine Augen für andere haben und sich nicht mit anderen einlassen.

    Er rüttelte am Türgriff, stockte und öffnete sie dann mit einem Ruck. Die Braut erhob sich sofort vom Bettrand, wo sie sich heimlich ein wenig niedergesetzt hatte. Sie machte den Eindruck, als hätte sie in diesem Zimmer voll Gerüchen von Rosenwasser und gebranntem Zucker vergessen, dass sie auf ihn wartete. Sie schaute ihn scheu und furchtsam an. Ali lächelte.
    Die Braut hatte das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggleiten und im Zeitlupentempo einen mit Feldblumen übersäten Abgrund hinunterrollen. Sie schloss die Augen. Sie hatte nur den einen Wunsch, ihre wie Feuer brennenden Füße endlich in der Kühle des Bettes zu vergraben, so als würde sie in einen Fluss steigen. Nach all der Müdigkeit, dem Schweigen und der bleiernen Gewichtigkeit des traditionellen Brauchtums war ihr Innerstes jetzt leer und ausgehöhlt, ihre Gedanken und Gefühle durch Überanstrengung erstickt. Aus ihrem Körper schoss ein Schrei wie eine Erdölfontäne aus unvermuteter Quelle. Diese Stimme war ihr selbst fremd. Ali bürdete mit der Schulter sein ganzes Gewicht auf diesen Schrei. Die Nacht wird er weit weg von den spitzkantigen, nach Erde riechenden Mineralbrocken verbringen, fern vom wilden Feuer des Schmelzofens. (...)
    "Eine Woche Urlaub habe ich bekommen!" murmelte er leidenschaftlich mit gierigem, erregtem Atem. "Eine Woche! Eine Woche!"
    Er drückte sein Gesicht an die roten Wangen der Braut. Plötzlich sah er ganz überrascht die Tränen in ihrem Gesicht. Warum weinte sie?