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Beifang erwünscht

Ökologie. - Um das Überleben von Fischbeständen zu sichern, setzt die europäische Fischereipolitik seit Jahrzehnten auf die sogenannte selektive Fischerei. Nur ältere Fische einer bestimmten Art sollen ins Netz, jüngere und andere Arten nicht. Funktioniert hat das nicht wirklich, deshalb plädieren Fischereiökologen für eine Kehrtwende - auch um den Preis, dass Wissenschaft und Bürokratie ihr Gesicht verlieren.

Von Lucian Haas |
    Während seines Studiums lernte und glaubte der norwegische Fischereibiologe Jeppe Kolding noch eine Theorie: Um die Fangmengen zu maximieren, ohne einen Fischbestand zu gefährden, muss man selektiv vorgehen. Nur ausgewachsene Fische, die sich schon vermehrt haben, sollten in den Netzen zappeln, während die kleinen durch entsprechend groß gewählte Maschen entkommen dürfen – als Grundlage für den Fortbestand. Doch dann zog Jeppe Kolding für einige Jahre nach Afrika, um die Fischbestände verschiedener Binnenseen zu untersuchen. Was er dort vorfand, stellte die Lehrmeinung völlig infrage.

    "In Afrika befischen die Fischer mehr oder weniger unselektiv das gesamte System. Sie entnehmen die großen wie die kleinen Fische. Anfangs dachte ich: Das ist aber eine gefährliche Form der Fischerei. Aber dann erkannte ich, dass die Ökosysteme, in denen sie so fischten, deutlich intakter waren als jene, wo sich die Fischer an die Auflagen hielten."

    Jeppe Kolding fand bei seinen Studien heraus, dass die Fischer in Afrika die Seen zwar stark ausbeuten. Weil sie ihren Fang aber nicht auf die größeren Fische beschränken, verändern sie nicht die Struktur der Ökosysteme und der Nahrungsketten in den Seen. Da sie auch kleinere Fische entnehmen, bleiben mehr größere Fische am Leben. Und da bei Fischen vor allem die größeren und älteren Tiere die meisten Eier bilden, sichert das die Grundlage für den Erhalt der Bestände. Jeppe Kolding sieht darin eine Analogie zwischen Fischen und Pflanzen.

    "Einen Apfelbaum kannst Du jedes Jahr ernten. Aber wenn Du den Baum absägst, gibt es keine Äpfel mehr. Genau das machen wir bei den Fischen. Wir warten gewissermaßen, bis der Apfelbaum groß ist und viele Früchte trägt. Doch dann töten wir ihn. Und anschließend wundern wir uns, warum die Fische ausbleiben."

    Mittlerweile ist Jeppe Kolding mit dieser Sichtweise nicht mehr allein. Unter dem Dach der internationalen Naturschutzunion IUCN hat sich eine Arbeitsgruppe von Fischereibiologen zusammengefunden. In der aktuellen Ausgabe des Magazins "Science" propagieren sie gemeinsam ein revolutionäres, neues Leitbild für die Fischerei der Zukunft. Sie nennen es Balanced Harvesting – die ausgewogene Ausbeute.

    "Wenn wir ausgewogen fischen, befischen wir das gesamte Ökosystem – alle Arten, alle Tiere in allen Größen gemäß ihrer Produktivität. So verändern wir das System nicht, und es liefert uns genug Nahrung. Das ist eine Situation mit doppeltem Gewinn: Wir können die Natur schützen und zugleich Fischerei betreiben."

    Eins ist Jeppe Kolding und seinen Kollegen bewusst: Mit Balanced Harvesting stellen sie die gesamte Fischereipolitik der vergangenen Jahrzehnte auf den Kopf. Während aktuell zum Beispiel die EU-Kommission an neuen Vorgaben feilt, um Beifangmengen einzuschränken, ist beim System der ausgewogenen Ausbeute der Beifang sogar erwünscht.

    "Der Beifang stellt kein Problem mehr dar, denn er wird Teil der Fangquote. Wir müssen nur einen Markt für die Beifangprodukte schaffen, entweder für den Konsum durch den Menschen oder als Futter für andere Fische. Im Grunde kann man ja fast alles essen, was aus dem Meer kommt. Es gibt nur kulturelle Vorlieben. Deshalb müssten wir als erstes die Einstellung der Verbraucher ändern."

    Die Verbraucher müssten lernen, dass kleine Fische auf dem Teller nicht Schlechtes sind, und ihr Fang sogar ökologisch wünschenswert ist. Zudem gelte es, auch den Fischern die überraschende Kehrtwende zu erklären.

    "Wir müssen zu den Fischern gehen und eingestehen: 'Entschuldigung, wir lagen falsch. Ihr könnt die kleinen Fische fangen wenn ihr wollt. Es ist OK, es ist sogar gut.' Das wird allerdings sehr schwer. Die Wissenschaft wird ihr Gesicht verlieren."

    Dennoch: Jeppe Kolding ist überzeugt, dass es dringend Zeit ist für ein radikales Umdenken, damit die Fischbestände den Menschen auch in Zukunft als ertragreiche Nahrungsquelle erhalten bleiben.