Aus einem Erdgeschoss strömt der Duft von Weihrauch, der gerade verbrennt. Und ein merkwürdiges Musikinstrument ist zu hören: Erzbischof Franzo Wayne King, Oberhaupt und Mitbegründer der Saint John Coltrane African Orthodox Church, bläst in ein Muschelhorn: Etwa ein Dutzend Gemeindemitglieder ist an diesem Sonntag hier zum Gottesdienst gekommen. Dazu einige Zaungäste. Es sind offenbar Touristen aus Haight-Ashbury, ein paar Blocks entfernt, dem Viertel, das durch die Beatnik- und Hippie-Bewegung berühmt wurde. An diese Laufkundschaft richtet sich Archbishop Franzo King nun zu Beginn der Liturgie mit einigen Klarstellungen:
"Leute, wir sind nicht zu eurer Unterhaltung hier, das hier ist kein Jazz-Workshop! Amen, lobet Gott den Allmächtigen, dies ist das Haus, das Coltrane gebaut. Also wenn ihr tanzen wollt, dann tanzt! Wenn ihr in die Hände klatschen wollt, dann klatscht! Und wenn Ihr mit den Füßen stampfen wollt, tut das! Und ich sage euch, wenn ihr euch die Nase putzen oder euch räuspern müsst, dann wird auch das zum Gebet!"
Heiliger mit Flammen-Saxofon
Damit ist in der Saint John Coltrane Church die Marschrichtung für die folgenden zwei Stunden klar: Und sogleich ziehen sie ein, die Apostel des Sounds, und spielen auf – angeführt von Erzbischof King, der nun sein Muschelhorn gegen ein Saxofon eintauscht. Zwei Bassisten und ein Drummer stimmen ein. Dann heben die "Sisters of Compassion" an, die "barmherzigen Schwestern". Eingerahmt wird dieser Soundteppich von drei deckenhohen Altarbildern: Zu sehen sind Maria, Jesus und Moses – allesamt in dunkler Hautfarbe. Und von links blickt ein zur Ikone stilisierter John Coltrane herab. In seiner Linken hält er ein Sopransaxofon, aus dessen Korpus kleine Flammen züngeln.
Ein halbes Jahrhundert ist sie alt, die Coltrane Church, jene Kirchengemeinde, in der der Jazzmusiker John Coltrane verehrt wird. Mehr noch: Sie nennt sich Saint John Coltrane Church, Sankt-John-Coltrane-Kirche. Wer aber soll dieser komische Heilige sein?
John William Coltrane wird 1926 an der Ostküste im ländlichen US-Bundesstaat North Carolina geboren. Die Vorfahren seiner Eltern waren Sklaven. Hier wächst John William auf, als Schwarzer unter Schwarzen, in einer Gemeinschaft mit eigenen Riten, Einrichtungen und einem eigenen Sound. Etwa in den Sonntagsgottesdiensten der afrikanisch-methodistischen Kirche, in der Johns Großväter predigen und seine Mutter die Orgel spielt.
Von Devil's Music zur Lobpreisung Gottes
Von 1944 an lernt John Coltrane auf der Highschool in Philadelphia Saxofon. Die nächsten Jahre verbringt er in kleinen Bandformationen, tingelt übers Land. In dieser Phase konsumiert John Coltrane mal exzessiv Heroin, mal Alkohol, was ihn musikalisch und sozial aus der Bahn wirft. 1957 schmeißt ihn Miles Davis aus seiner Band, als er betrunken zum Konzert kommt. Viel fehlte nicht, und John Coltrane wäre als hell aufstrahlender, aber früh erloschener Stern in die Geschichte des Jazz eingegangen. Es kam aber anders, schreibt Karl Lippegaus in seiner ultimativen Coltrane-Biografie:
"An einem einzigen Tag im Dezember 1964 nimmt John Coltrane seine Suite ‚A Love Supreme‘ auf. Wenige Wochen später wird das Album bereits veröffentlicht und bleibt bis heute Coltranes meistverkauftes Werk. Der Weg zum spirituellen Durchbruch des Musikers, den das Album dokumentiert, war hart errungen. ‚A Love Supreme‘ ist Coltranes musikalisches Glaubensbekenntnis."
Im September 1965 gehen der Jazzfan Franzo Wayne King und seine Frau Marina in eine Bar in San Franciscos Western Addition. Sie wollen ihren ersten Hochzeitstag feiern. Doch der wird zur Nebensache, als John Coltrane die Bar betritt, erinnert sich Franzo – nunmehr "Erzbischof" King:
"Ich beschreibe es immer so: Ich bin in einer Freikirche aufgewachsen. Also wo die Leute in Zungen reden und sich auf den Boden werfen. Ein sehr afrikanischer Ritus. Und nur damit kann ich John Coltrane auf der Bühne vergleichen. Es schien wie ein pfingstkirchlicher Gottesdienst, bei dem wir sehen konnten, wie der Heilige Geist erscheint, und mit ihm die anderen Apostel. Das war mehr als nur Entertainment. Das war ein Pfingstprediger – zutiefst davon überzeugt, dass der Geist Gottes auf ihm ruht."
"Es braucht für solche Musik einen Ort – eine Kirche!"
Kurz darauf stolpert Franzo King über eine Aussage John Coltranes:
"Die Musik erhebt sich. Es entsteht etwas Neues. Und deshalb braucht es für solche Musik einen eigenen Ort. Da dachte ich mir: das ist es – eine Kirche! Ich komme aus einer Pastorenfamilie. Eine Kirche aufzumachen, das ist bei uns kein großes Ding. Das ist das, was wir machen: Wir gründen Kirchen. Mein Onkel hat eine Gemeinde gegründet, mein Großonkel auch. Wären sie Klempner gewesen, würde ich heute vielleicht in irgendeinem Keller bis zu den Knöcheln in Toilettenwasser stehen."
Stattdessen steht Franzo King nun jeden Sonntagmorgen im Gemeinderaum der John-Coltrane-Kirche.
"Ein früher Name unserer Kirche war ‚Revolutionary Church‘, revolutionäre Kirche. Wir glauben an den Wandel. Aber das ist nicht nur Revolution, sondern auch Evolution."
Zuletzt war der Fortbestand der Coltrane Church indes einmal mehr gefährdet. Der schlichte Zweckbau in der Fillmore Street, der die Kirche über Jahrzehnte beherbergt hatte, geriet ins Visier von Investoren. 2016 stand die Räumung an. Doch dank Spenden und allerlei publizistischer Aufwallungen in der Bay Area hat die Kirche nun einige Blocks entfernt in der Turk Street eine neue Heimat gefunden.
Dieser Beitrag ist in seiner Langfassung erstmals am 06.06.2018 in der Reihe "Aus Religion und Gesellschaft" als Feature erschienen.