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Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen?
"Wir haben jahrelang frustriert in der Eingangshalle Europas gewartet"

Dass sich sowohl Martin Schulz als auch Angela Merkel für einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einsetzen, habe unter Deutsch-Türken für Verwunderung gesorgt, sagte AKP-Unterstützer Fatih Zingal im Dlf. Ein Beitritt sei weiterhin strategisches Ziel der Regierung - mittlerweile würden aber auch andere Optionen diskutiert.

Fatih Zingal im Gespräch mit Sarah Zerback |
    Fatih Zingal, stellvertretender Vorsitzender der Union Europäisch-Türkischer Demokraten, aufgenommen am 17.07.2016 während der ARD-Talksendung "Anne Will" zum Thema "Putschversuch in der Türkei - Was macht Erdogan jetzt?" in den Studios Berlin-Adlershof.
    "Vollmitglied der EU zu werden ist nach wie vor erklärtes Ziel der türkischen Regierung", erklärt AKP-Unterstützer Fatih Zingal im Dlf (picture alliance/dpa - Karlheinz Schindler)
    Sarah Zerback: Es ist keine Überraschung, dass die türkische Regierung sich empört, wenn Kanzlerkandidat und Kanzlerin den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fordern. Mit welchen Worten das allerdings kommentiert wird, das überrascht dann schon eher. Ich zitiere mal: "Im Moment kehrt Europa zu den Werten vor dem Zweiten Weltkrieg zurück.
    Dabei handele es sich um Brutalität, ebenso Faschismus und Gewalt, Intoleranz und gegenseitige Vernichtung", so Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu in Slowenien am Sonntag als Reaktion. Darüber können wir jetzt sprechen mit Fatih Zingal, Rechtsanwalt und einer der bekanntesten Unterstützer der türkischen Regierungspartei AKP in Deutschland ist er. Guten Morgen.
    Fatih Zingal: Schönen guten Morgen.
    Zerback: Herr Zingal, von welchem Europa hat der türkische Außenminister da gesprochen?
    Zingal: Die Äußerung des Außenministers Çavuşoğlu muss man natürlich als Reaktion auf die neu formulierte Forderung des Abbruchs der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sehen. Und die Türkei hat immer wieder formuliert, dass es nach wie vor ihr strategisches Ziel ist, vollständiges Mitglied innerhalb der Europäischen Union zu werden. In diesem Zusammenhang hat es natürlich für Verwunderung gesorgt, wenn nunmehr auch der Kanzlerkandidat der SPD neuerdings, muss man sagen, die Forderung gestellt hat, sich für einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzusetzen.
    Die Kanzlerin - und das ist keine Überraschung - hat sich ja immer wieder für eine privilegierte Partnerschaft ausgesprochen, nicht für einen EU-Beitritt. Nun sieht man aber in der Türkei, dass zumindest aus deutscher Sicht, unabhängig davon, wer Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wird, dass sich dieser Kanzler für einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einsetzen wird.
    "Wir befinden uns in einem Zustand der Megafonpolitik"
    Zerback: Aber, Herr Zingal, warum immer die Rassismuskeule? Das ist ja schon starker Tobak, gerade vor historischem Hintergrund hier in Deutschland. Legt die türkische Regierung es darauf an, die Beziehungen mit Deutschland weiter zu vergiften?
    Zingal: Die türkische Regierung reagiert auf das, was aus Deutschland kommt, und sie nimmt das, was aus Deutschland kommt, natürlich als Provokation wahr. Wir müssen leider konstatieren, dass die deutsch-türkischen Verhältnisse derzeit angespannt sind und wir uns in einem Zustand der Megafonpolitik befinden, und das trägt auf keinen Fall zur Entspannung der deutsch-türkischen Beziehungen bei. Meine Hoffnung ist, zumindest wenn der Wahlkampf in Deutschland ein Ende findet, dass wir wirklich zur Normalisierung der deutsch-türkischen Verhältnisse zurückkehren können.
    Zerback: Jetzt gibt es ja schon Stimmen, die sagen, der eigentliche Überraschungssieger des TV-Duells ist Erdogan. Ist er das?
    Zingal: Das weiß ich nicht, ob man das so formulieren kann. Ich glaube, die Menschen und vor allen Dingen auch die Deutsch-Türken registrieren durchaus, dass das Thema Türkei ein Dauerthema im deutschen Bundestagswahlkampf ist, und das hat es in der Form noch nie gegeben. Da fragen sich natürlich auch viele Bürger, warum werden denn andere Themen nicht angeschnitten?
    Warum werden beispielsweise die NSU-Skandale nicht thematisiert? Warum wird nicht gefragt, ob tatsächlich das, was Merkel auch versprochen hat, nämlich eine lückenlose Aufklärung der NSU-Skandale, ob das stattgefunden hat, ob die Reformen in den Verfassungsschutzämtern erfolgt sind? Und ganz davon abgesehen: Warum werden ...
    Zerback: Es ist natürlich interessant, dass sich die Türkei dafür interessiert, welche Themen im deutschen Wahlkampf angesprochen werden. Aber lassen Sie mich noch einmal kurz zu meiner Frage zurückkommen, weil dahinter steckt ja …
    Zingal: Das war nicht im Zusammenhang mit der Türkei zu sehen. Ich meinte die Deutsch-Türken hier in der Bundesrepublik Deutschland. Aber auch die Bürger, die sich beispielsweise fragen, warum werden dann Themen wie Altersarmut nicht thematisiert? Nehmen Sie die Rentnerin, die ja die Bundeskanzlerin Merkel mit dieser Frage konfrontiert hat. Sie debattieren die ganze Zeit über die Türkei.
    "Es gibt Debatten, ob andere Bündnisse auch infrage kommen"
    Zerback: Und doch, Herr Zingal, ich muss Sie unterbrechen. Lassen Sie uns ganz kurz beim Thema bleiben, weil die Frage, die dahinter steckte, war ja, ob es Ankara vielleicht sogar zupasskommt, weil Erdogan jetzt einen Sündenbock hat und sich in seinen Feindbildern bestätigt sieht, wenn die EU-Beitrittsverhandlungen abgebrochen werden.
    Zingal: Wie gesagt ist es erklärtes strategisches Ziel der Türkei, nach wie vor Mitglied der Europäischen Union zu werden. Nichtsdestotrotz muss man sagen, dass die …
    Zerback: Ist das so?
    Zingal: Das ist definitiv so. Das erklärt die türkische Regierung immer wieder. Aber man muss auch natürlich konstatieren, dass insbesondere in den letzten 15 Jahren die Türkei wirtschaftlich, außenpolitisch und auch militärisch eigenständiger geworden ist und nicht mehr so abhängig vom Westen ist, und in diesem Zusammenhang gibt es natürlich auch innerhalb der türkischen Bevölkerung Debatten darüber, ob andere Bündnisse auch infrage kommen könnten, wie beispielsweise die Shanghai Cooperation Organisation. Es wird laut darüber nachgedacht, ob das eine Alternative darstellen könnte.
    China und Russland sind Mitglieder der Shanghai Cooperation Organisation. Und wenn Sie sich jetzt allein mal China vor Augen führen: Die deutsche Wirtschaft war vor 20 Jahren dreimal so groß wie die chinesische; nun hat sich das Verhältnis umgedreht. Die chinesische Wirtschaft ist dreimal so groß wie die deutsche. Solche Themen werden in der Türkei durchaus debattiert. Und man nimmt das so wahr, zumindest innerhalb der türkischen Bevölkerung, dass man jahrzehntelang frustriert in der Eingangshalle Europas gewartet hat und letztendlich nicht wirklich was dabei herumgekommen ist. Und da fragt man sich, warum sollen wir uns denn nicht auch andere Optionen offenlassen?
    Zerback: In Brüssel wiederum, in der EU nimmt man es ja so wahr, dass sich die Türkei immer weiter von Werten der EU entfernt hat und tatsächlich gerade in den letzten Monaten unter Präsident Erdogan viele Beitrittskriterien nicht erfüllt und sich stattdessen weiter davon entfernt. Wo sehen Sie denn, dass die Türkei tatsächlich noch aktiv was dafür tut, Mitglied der EU zu werden? Stichwort Anti-Terror-Gesetzgebung, Stichwort Pressefreiheit, Justizfreiheit.
    Zingal: Die Anti-Terror-Gesetzgebung, die ist ja, ich sage jetzt mal, öffentlich wirksam aufgeflammt im Zuge des EU- und Türkei-Flüchtlingsabkommens, und da ging es um die Frage der Visa-Freiheit, die ja auch der Türkei seit Jahren schon in Aussicht gestellt wird, und dann kam das Thema hoch, ihr müsst eure Anti-Terror-Gesetze ändern, ansonsten können wir euch keine Visa-Freiheit gewähren, und das war natürlich auch aus Sicht der türkischen Regierung ein Affront.
    Sie fühlt sich da ungleich behandelt und sie fragt sich, warum andere Länder aus dem Nahen Osten, wie die Vereinigten Arabischen Emirate beispielsweise, eine Visa-Pflicht genießen und die Türkei nicht, die sich seit Jahrzehnten in einem Beitrittsprozess mit der EU befindet.
    Zerback: Aber die Vereinigten Arabischen Emirate wollen jetzt nun nicht Mitglied der EU werden. Lassen Sie uns da noch mal bei den Beitrittsverhandlungen bleiben.
    Zingal: Nein, das stimmt. Aber wenn Sie sich jetzt einfach mal andere EU-Beitrittskandidaten auch in der Vergangenheit anschauen, die hatten ein wesentlich geringeres Bruttoinlandsprodukt als die Türkei und trotzdem wurde der Türkei eine Visa-Pflicht verweigert. Die Türken nehmen das so wahr, als ob man nicht auf Augenhöhe behandelt wird und vor allen Dingen nicht gleich behandelt wird.
    Journalisten beobachten das TV-Duell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.
    Die türkische Regierung nimmt das, was aus Deutschland kommt, natürlich als Provokation wahr, so Fatih Zingal (AFP / John MACDOUGALL)
    Zerback: Jetzt sind es ja nicht nur Sie beziehungsweise die türkische Regierung, die diesen neuen Ton aus Berlin kritisieren. Auch die türkische Gemeinde - Sie haben das angesprochen - in Deutschland kritisiert diese Haltung, aber mit einem anderen Argument, und zwar: So würden demokratische Kräfte in der Türkei geschwächt. Sind diese Sorgen in Ihren Augen berechtigt?
    Zingal: Man muss natürlich sehen, dass die Kritik wirklich aus allen Lagern kommt. Da haben viele wenig Verständnis für eine solche Äußerung. Man kann feststellen, dass der Elan, Mitglied der Europäischen Union zu werden, auch innerhalb der türkischen Bevölkerung nachgelassen hat. Vor zehn Jahren noch haben 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung sich für einen EU-Beitritt ausgesprochen. Nun sind es lediglich 20 bis 30 Prozent.
    Und in der Tat muss man sehen, dass dieses Thema - und dieses Gefühl haben auch die meisten Deutsch-Türken hier in Deutschland - eher instrumentalisiert wird, was die deutsch-türkischen Beziehungen anbelangt, und von daher ist die Kritik nachvollziehbar.
    "Thema ist innerhalb der EU durchaus noch nicht geklärt"
    Zerback: Wir haben über Martin Schulz gesprochen, der vor ein paar Monaten noch ganz anders geklungen hat, gegen einen Abbruch war. Jetzt diese Kehrtwende. - Wir haben auch den CSU-Europaabgeordneten Manfred Weber gestern gehört. Der sagt nun, die Türkei, die hatte sowieso nie ernsthaft eine Beitrittsperspektive. Ist das nicht vielleicht auch, dieses Ende der Beitrittsverhandlungen, die Chance für eine Beendigung dieser, wie Manfred Weber sagt, Lebenslüge, die Chance für einen Neuanfang?
    Zingal: Man muss das auch verfolgen, im Hintergrund betrachten. Gerade als die Reformfortschritte in der Türkei zwischen 2003 und 2007 wirklich ganz groß angegangen worden sind und viele Reformfortschritte auch zu verzeichnen waren, ist plötzlich eine Kulturalisierung der Debatte erfolgt. Man hat dann ins Feld geführt, dass die Türkei geografisch und kulturell nicht zu Europa dazugehöre, und da hat die Frustration angefangen.
    Ich denke, wenn man sich jetzt auch insbesondere die Äußerung der Außenbeauftragten der EU anschaut, die ja gesagt hat, wir verhandeln nach wie vor mit der Türkei, so muss man feststellen, dass dieses Thema innerhalb der Europäischen Union ja durchaus noch nicht geklärt ist. Aber ich denke schon, dass man in diesem Punkt tatsächlich ehrlich mit der Türkei umgehen sollte.
    Zerback: Und ist genau dieser Punkt, Herr Zingal, ist das vielleicht sogar im Interesse Ankaras? Die Beitrittsverhandlungen, die können ja nur einstimmig abgebrochen werden. Bislang gibt es da keinen Konsens. Will Ankara da die EU spalten?
    Zingal: Da kann ich nur sagen, dass die strategische Ausrichtung, Vollmitglied der EU zu werden, nach wie vor erklärtes Ziel der türkischen Regierung ist. Und ich kann nicht erkennen, dass vonseiten Ankaras irgendwann mal gesagt worden ist, dass die EU-Beitrittsverhandlungen abgebrochen werden sollen.
    Zerback: … sagt Fatih Zingal. Er ist einer der bekanntesten Unterstützer der türkischen Regierungspartei AKP hier bei uns in Deutschland. Besten Dank für das Interview, Herr Zingal.
    Zingal: Ja, danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.