Jasper Barenberg: Auf den ersten Blick sind es Zahlen, nur Zahlen; auf den zweiten aber offenbart die jüngste Statistik des Bundeskriminalamtes einen Abgrund. Woche für Woche werden demnach bei uns 250 Kinder Opfer von sexueller Gewalt, von Missbrauch oder von Misshandlungen. Das sind 36 Kinder pro Tag im statistischen Durchschnitt. In Wirklichkeit liegt die Zahl wohl noch weit darüber. Immer mehr Bilder und Videos auch von Missbrauch werden über das Internet verbreitet. Auf einem Drittel des Materials sind Vergewaltigungen oder Folter zu sehen. Am Telefon ist Sebastian Fiedler, der stellvertretende Bundesvorsitzende beim Bund Deutscher Kriminalbeamter. Schönen guten Morgen, Herr Fiedler.
Sebastian Fiedler: Schönen guten Morgenn
"Jede Woche drei tote Kinder zu beklagen"
Barenberg: Was ist in Ihren Augen eigentlich schlimmer, dass jedes Jahr weiter ungefähr 16.000 Kinder und Jugendliche Opfer von sexueller Gewalt werden, oder dass die Aufnahmen solcher Taten immer rasanter im Netz verbreitet werden?
Fiedler: Da würde ich mich schwertun, da jetzt eine Prioritätenliste aufzumachen. Ich würde nur darum bitten, dass wir mal kurz einen Moment noch dafür verwenden, unterschiedliche Themenbereiche voneinander zu separieren. Das ist mir deswegen wichtig, weil es eben nicht nur um sexuellen Missbrauch geht - das ist schon ein dramatisches Thema an sich -, sondern es gibt ein zweites Themenfeld, was mit dem zunächst einmal vom Delikt her wenig zu tun hat. Das ist das Themenfeld der Kindesmisshandlung. Hier geht es um körperliche Folter, es geht um das Schütteln von Säuglingen. Das ist ein Themenfeld, wo wir jede Woche drei tote Kinder zu beklagen haben, 80 pro Woche, die misshandelt werden, plus ein riesengroßes Dunkelfeld. Da geht es nicht um sexuellen Missbrauch, sondern um reine körperliche Misshandlung und ein riesengroßes Thema, weil hier die Parlamente in Ländern und im Bund schon seit langer Zeit in der Pflicht sind, weil sie nämlich hier Todesfälle verhindern könnten, wenn sie es erlauben würden, dass Ärzte sich untereinander interkollegial austauschen würden, weil das Phänomen davon lebt, dass diejenigen, die ihre Kinder misshandeln, von einem Arzt zum nächsten gehen, damit es nicht auffällt, dass sie das tun. Da haben wir ein riesen Datenschutzthema.
Barenberg: Auch ein Datenschutzthema also.
Fiedler: Richtig. Darauf wollte ich hinweisen.
Ärzte sollten "sich untereinander austauschen" dürfen
Barenberg: Das ist auch das Argument der Länder, wenn Sie anklopfen und sagen, wir hätten gerne eine Regel, die es Ärzten erlaubt, sich untereinander auszutauschen? Der Datenschutz steht davor?
Fiedler: Ja, das ist ein bisschen absurd. Weil Sie müssen sich vorstellen: Wir haben natürlich die ärztliche Schweigepflicht. Das ist auch vollkommen richtig. Die ärztliche Schweigepflicht, wenn Sie jetzt zum Arzt gehen würden, dann könnten Sie den Arzt davon befreien, weil Sie sagen würden, der Arzt müsste zum Beispiel Informationen zur Krankenversicherung geben oder Ähnliches. In diesem Fall ist es jetzt so, dass ausgerechnet die, die die Misshandlung vorgenommen haben, die Täter sozusagen, für ihre Schützlinge dann die ärztliche Schweigepflicht eliminieren müssten, und es geht ja nur darum, dass sich Ärzte untereinander austauschen dürfen. Da gibt es eine Vorreiter-Informationsbasis. Die ist in Duisburg entstanden. Der ehemalige Mordermittler Heinz Sprenger und ein Kinderarzt, Dr. Kownatzki, haben sich dort zusammengetan und haben eine solche Plattform entwickelt. Das einzige was jetzt fehlt, ist, dass die Gesetzgeber herangehen und sagen, ja, natürlich dürfen Kinderärzte sich untereinander austauschen, um Diagnosen - Kindesmisshandlung ist eine Diagnose - stellen zu können und dadurch auch die Leben von Kindern schützen zu können.
"Wir benötigen IP-Adressen"
Barenberg: Wenn wir dann diesen ganzen Bereich des sexuellen Missbrauchs noch mit hinzunehmen, besteht vielleicht die Gemeinsamkeit, aus Ihrer Sicht jedenfalls und was Ihre Arbeit angeht, unter anderem darin, dass eine bestimmte Vorstellung von Datenschutz in Deutschland tatsächlich dazu führt, dass sich Täter sicher vor Strafverfolgung fühlen können?
Fiedler: Das ist ohne Zweifel der Fall. Das muss man ausdrücklich so betonen und das hat Herr Rörig in Ihrem Vorbeitrag auch schon richtig zusammengefasst, und diese Diskussion ist meines Erachtens zwingend erforderlich. Man muss einfach nüchtern feststellen, unabhängig davon, wie man im Detail aus verfassungsrechtlichen Gründen dazu steht, dass die im Moment, ich sage mal, unter fragwürdigen gesetzgeberischen Rahmenbedingungen ausgesetzte Vorratsdatenspeicherung - wir haben ja hier nur eine Rechtsprechung eines Oberverwaltungsgerichts in Münster und die hat die vorige Bundesregierung dazu bewogen zu sagen, wir verfolgen jetzt die Verstöße der Provider nicht -, im Ergebnis haben wir de facto keine Vorratsdaten. Die sind aber wichtig, weil wir die IP-Adressen im Internet benötigen, um solchen Spuren nachgehen zu können. Deswegen hat der BKA-Präsident zurecht darauf hingewiesen, dass etwa in jedem zweiten Fall die Ermittlungen dann ins Leere laufen, und das ist in der Tat ein riesengroßes Problem.
Auf der anderen Seite muss man feststellen, dass all diejenigen, die in der IT-Industrie unterwegs sind, natürlich durchaus etwas mehr tun könnten, als sie das bisher tun. Ein Großteil der Fälle, die wir kennen, kommen aus den USA, weil es dort eine Meldepflicht für Provider gibt, solche Sachverhalte zu melden.
"Zu wenig qualifizierte Leute"
Barenberg: Herr Fiedler, wenn Sie gestatten, will ich gleich noch dazu kommen. Ich will kurz bei dem Punkt noch bleiben der Speicherung von Verbindungsdaten. Was würden Sie sagen? Sie haben gesagt, das ist wichtig für die Polizei. Der BKA-Präsident hat darauf hingewiesen, dass ungefähr die Hälfte der Fälle deswegen nicht verfolgt werden können. Wie viel wäre gewonnen, wenn es da eine großzügigere und klare Regelung geben würde?
Fiedler: Wir hätten in einer größeren Zahl von Fällen Ermittlungserfolge. Und wenn Sie sich in die Haut der Täter versetzen, dann ist das das kritischste Momentum. Das heißt, aus der Sicht der Strafverfolger müssen wir sehr viel daran setzen, um die Entdeckungswahrscheinlichkeit dieser Täter massiv zu erhöhen und ihnen dadurch natürlich auch das Leben und dadurch auch den Austausch solcher perversen Bild- und Videodateien etwas schwerer zu machen.
Dennoch, muss ich sagen, ist das ein Mosaikstein, was sehr, sehr wichtig ist für die Arbeit. Auf der anderen Seite darf der Hinweis nicht fehlen - und auch das ist vom BKA-Präsidenten zurecht angesprochen worden -, dass wir viel zu wenig qualifizierte Leute bei den Kriminalpolizeien der Länder, die machen nämlich hier die Hauptarbeit, nicht das BKA, haben. Die stehen uns schlicht und ergreifend nur ganz eingeschränkt zur Verfügung.
Und noch schlimmer: Sie müssen sich diese realen Fälle so vorstellen, dass wir, wenn wir einen Fall auf dem Tisch haben, teilweise Hunderttausende von Bilddateien haben, wenn wir mal Durchsuchungen machen, wenn wir mal irgendwo erfolgreich sind. Und jetzt besteht die Erwartungshaltung der Innenministerien und der Staatsanwaltschaften, dass wir uns die irgendwie - und ich sage bewusst irgendwie - am besten alle irgendwie angucken müssen, um feststellen zu können, erstens gibt es noch einen aktuell andauernden Missbrauch. Zweitens: Wie sind die kategorisiert, die Bilder, um auch eine Strafverfolgung hinreichend hinzubekommen? Ich will Ihnen nur skizzieren anhand dieses Beispiels, vor welchen enormen Herausforderungen die Kollegen aktuell stehen, und natürlich darf man nicht am Ende des Tages vergessen, dass das natürlich für die jeweiligen Kollegen, die im Zweifel Väter oder Mütter sind, eine psychische Belastung ist, die nicht zu unterschätzen ist.
Meldepflicht für die IT-Branche?
Barenberg: Das kann bestimmt jeder nachvollziehen. Ich wollte noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, den Sie auch angesprochen haben. Es gibt in den USA eine Meldepflicht in der IT-Branche. Die müssen melden, wenn sie auffälliges Material oder sehr klares Material auf ihren Applikationen, wie es dann heißt, sehen. Ist das aus Ihrer Sicht auch bei uns zwingend notwendig und die Politik da viel zu großzügig den Unternehmen gegenüber?
Fiedler: Es wäre ja schon mal vorteilhaft, wenn wir darüber diskutieren würden. Es ist ja nicht so, als wenn wir keine Meldepflichten kennen würden. Wir kennen im Bereich der Geldwäscheprävention schon seit etlichen Jahren Meldepflichten der Banken, dass sie verdächtige Transaktionen melden müssen. Das heißt, Fälle, in denen der Staat die Wirtschaft um Unterstützung bittet oder sogar dazu verpflichtet, sind uns im Gesetz nicht so ganz fremd. Insofern wäre das in der Tat, meine ich, auch in Deutschland eine wichtige Debatte, die wir zu führen hätten.
Barenberg: Glauben Sie, dass der politische Wille sich irgendwie zusammensammeln lässt?
Fiedler: Ich hoffe das! Ich hoffe das! Ich kann nur jedem Abgeordneten raten, sich intensiver mal mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, und er wird die emotionale Seite nicht ausblenden können und wird erkennen müssen - man muss ihn vielleicht damit konfrontieren, was das im Detail bedeutet und was das mit Kindern bedeutet, wie viel oder wie groß dieses Problem tatsächlich ist. Es gibt Forschungen, die schätzen, dass in Deutschland ungefähr eine Million Menschen irgendwann in ihrer Vita mal betroffen sind von sexuellem Missbrauch. Das heißt, es ist ja kein Randphänomen, sondern wirklich, ich würde sagen, eines der schlimmsten Phänomene, was wir kennen, was sich gegen eine der schwächsten Gruppen der Gesellschaft richtet, die im Prinzip keine eigene Lobby haben, sondern die Lobby der Abgeordneten benötigen.
Barenberg: Sebastian Fiedler, der stellvertretende Bundesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Danke für das Gespräch heute Morgen, Herr Fiedler.
Fiedler: Sehr gerne!
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