Mit ihrem neuen Buch "Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus" schließt Swetlana Alexijewitsch den großen Zyklus ihrer einzigartigen dokumentarischen Prosa über die Sowjetzeit und den sowjetischen Menschen, den "roten Menschen", wie es wörtlich übersetzt heißt, ab. Aus dem Material von zahllosen Interviews mit Menschen aus allen Generationen und sozialen Schichten hat sie "mit den Augen der Menschenforscherin, nicht denen eines Historikers" die originalen Stimmen der Betroffenen zu einem gewaltigen, eindringlichen Seelenpanorama ihres Volkes zusammengefügt.
Seit den 80er-Jahren verarbeitet sie in ihren Büchern die schmerzlichsten Erfahrungen der sowjetischen Geschichte: das Leid der weiblichen Soldaten und der Kinder im Zweiten Weltkrieg, das Grauen des Afghanistankriegs, die Katastrophe von Tschernobyl, den Freitod von Menschen, die den Zusammenbruch des Kommunismus nicht verkraften konnten. Sie verdichtet die erlebten und erzählten Geschichten der von ihr befragten Menschen zu einer ganz eigenen ästhetischen Form der "Oral History", die die tragische Geschichte der Sowjetunion von innen heraus, aus der Sicht der Betroffenen, nacherlebbar macht.
Ihr letztes Buch erfasst die Zeit nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und veranschaulicht wie die unterschiedlichsten Menschen diesen tiefen Bruch in ihrer Biografie erlebt und erlitten haben.
"Dieses Buch, das meinen Zyklus abschließt, das ist das fünfte, abschließende Buch über den roten Menschen. Und ich wollte ganz unvoreingenommen zuhören, ich hab mir am Anfang vorgenommen, alle Teilnehmer des sozialistischen Dramas ehrlich anzuhören. Ich gebe das Wort sowohl dem Henker wie dem Opfer, allen, jeder spricht über seine Wahrheit, um diese Zeit anschaulich vor uns darzustellen, wie das alles tatsächlich war. Weil wir über unsere Vergangenheit nicht wirklich gesprochen haben, wir haben sie nicht reflektiert, es gab keine Diskussion in der Gesellschaft darüber, es gab kein Gericht über die Partei. Das heißt, die Vergangenheit wurde einfach ausgestrichen und das war's. Und im Endergebnis hat sich dann bei uns gar nichts getan. Und ich bin der Meinung, dass es höchste Zeit ist, diese Diskussion in unserer Gesellschaft zu beginnen. Das Wesentliche ist dabei, dass wir verstehen müssen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wenn wir nämlich nicht wissen, woher und warum, dann führt das dazu, dass wir uns etwas ausdenken - wie man heute bei uns sagt - dass in Russland nicht nur die Zukunft nicht vorauszusagen ist, sondern auch die Vergangenheit.
Ich wollte, dass in diesem riesigen russischen Chor jeder seine Stimme bekommt, ich habe jedem das Wort gegeben. Ich wollte, dass man diese Stimmen hört, und dass die, die das alles lesen, anfangen nachzudenken: Was ist das? Was war der Kommunismus?"
Das Buch ist äußerst kunstvoll komponiert, und durch seine poetischen, bildhaften Zwischentitel wie "Vom Schönen an der Diktatur und von Schmetterlingen in Zement" oder "Von einem einsamen roten Marschall und drei Tagen einer vergessenen Revolution" gewinnt das authentische Sprachmaterial ästhetische Dimensionen.
Der erste Teil des Buches "Trost durch Apokalypse" erfasst die Nachwendezeit der 90er-Jahre. Vorangestellt ist ein aus Sprachfetzen und Wortgefechten zusammengesetztes Stimmengewirr "Aus Straßenlärm und Küchengesprächen", in dem sich die rasanten Entwicklungen der Zeit auf erhellende Weise spiegeln: die beglückende Erfahrung des Widerstands gegen den Augustputsch von 1991, der Rausch der Freiheit und die rasch folgende Enttäuschung, die Entdeckung des Geldes und die Suche nach Verdienstmöglichkeiten, die Fassungslosigkeit über das Ende der Perestroika, aber auch Stimmen über den Verrat am Kommunismus und Gorbatschow als amerikanischen Geheimagenten.
Es folgen zehn Lebens- und Leidensgeschichten, in direkter Rede von den Protagonisten selbst oder deren Freunden und Angehörigen der Autorin in langen gemeinsamen Gesprächen erzählt. Das sind Stimmen von verzweifelten Kommunisten, deren ganzes Leben von der sowjetische Ideologie geprägt war und die sich manchmal weinend ihr Trauma von der Seele reden: die Sekretärin des Parteikomitees, die immer noch die Sowjetzeit verherrlicht und dabei doch beim Erzählen ihrer Lebensgeschichte unbeabsichtigt die Schrecken des Kommunismus entlarvt; die Ärztin, die vom größten Erlebnis ihrer Kindheit, der Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau schwärmt, die Vergangenheit idealisiert und nun entsetzt ist über die Bettler, Verkaufsbuden und das Verscherbeln von Parteibüchern und Orden; der einsame rote Marschall Achromejew, Mitglied der Putschistengruppe vom August 1991, der sich nach dem Scheitern des Putsches erhängte; der aufrichtig überzeugte Altkommunist, Parteimitglied seit 1922, der nach einem gescheiterten Selbstmordversuch bitter erkennen muss, dass "seine Zeit eher zu Ende war als sein Leben", während der Enkel lachend dabei sitzt und Witze erzählt.
Die Voraussetzung für die absolute Ehrlichkeit dieser nachdenklichen Berichte und Beichten ist, dass Swetlana Alexijewitsch sich selbst als Beteiligte versteht und die Interviewpartner ihr deshalb vertrauen.
"Ja, die Menschen haben sich mir geöffnet, weil sie verstanden haben, dass nur ein sowjetischer Mensch einen Sowjetmenschen verstehen kann. Wenn man sonst alles erklären müsste, so ist das mir gegenüber nicht nötig. Ich war selbst Oktoberkind und Pionier und ich habe auch davon geträumt, zum Bau der BAM zu fahren, wie damals alle in unserer Zeit. Und ich habe mich niemals dafür geschämt und nie gesagt, wie das einige tun, das ich gewusst hätte, dass der Sozialismus zu Ende geht. Wir haben nichts gewusst, wir waren alle verblüfft, wie schnell das passiert ist. Und wir waren in keiner Weise darauf vorbereitet.
Niemals aber habe ich die Position eines Richters eingenommen, dass ich weiß, was richtig ist oder irgendjemanden verurteile. Das ist nicht Sache des Schriftstellers. Der Schriftsteller muss das ganze Bild zeigen, die Fragen aufwerfen und die Menschen zwingen, darüber nachzudenken."
In den Bekenntnissen dieser enttäuschten Idealisten – unter ihnen zum Beispiel die Architektin, die als Tochter einer "Volksfeindin" ihre ganze Kindheit unter jämmerlichsten Bedingungen im Straflager, Kinderheim und der Verbannung verbracht hat und die trotzdem der Sowjetunion nachweint - wird besonders deutlich, welch folgenschwere Bedeutung in der Sowjetideologie die Mythen des Kampfes und Opfertodes hatten. Swetlana Alexijewitsch erinnert sich:
"Wir haben immer gekämpft oder uns auf einen Krieg vorbereitet. Das war unser ganz normaler Zustand. Und ich erinnere mich, als ich noch zur Schule ging, da haben wir nicht gelernt, wie man lebt, sondern man hat uns beigebracht, dass wir immer bereit sein müssten unser Leben für eine Idee, für die Heimat zu opfern. Und dann stellte sich plötzlich heraus, dass Leben etwas ganz anderes ist. Man muss sich nicht hinter irgendein Maschinengewehr legen, sondern man muss lernen, gute Dinge zu produzieren, man muss lernen gute Straßen zu bauen."
Der zweite Teil des Buches, überschrieben mit "Der Reiz der Leere", erfasst die Zeit von 2002 bis 2012. Die erzählten Schicksale dieses Teils zeigen die Traumatisierung vieler Menschen durch die sich überstürzenden und oft katastrophalen Wandlungsprozesse der Nachwendezeit: die Armenierin, die einen Aserbaidschaner liebt und die hasserfüllten, grausamen Pogrome in Baku zwischen den ehemals friedlich zusammenlebenden Sowjetvölkern erleben musste; die Moskauer Technologin, der - als sie das Geld für die Beerdigung ihrer Großmutter nicht aufbringen kann - von einer kriminellen Bande ihre Wohnung abgeluchst wurde; die aus einer typischen russischen Intelligenzlerfamilie stammende Frau, die nun Karriere als Werbemanagerin gemacht hat und sich in ihrem materiellen Überfluss doch einsam fühlt; die Mutter und ihre Tochter, die den Terroranschlag von Tschetschenen auf die Moskauer Metro schwer verletzt überlebt haben; die von seinem Freund erzählte Geschichte des tadschikischen Bauarbeiters Rawschan, der sich mit einem Messer die Kehle durchgeschnitten hat, weil er die Diskriminierung, der die Gastarbeiter aus Mittelasien ausgesetzt sind, nicht mehr ertragen konnte.
Alle Geschichten des Buches erzählen vom unerträglichen Leiden und Erdulden, von der großen Leidensfähigkeit des russischen Volkes. Swetlana Alexijewitsch aber will sich nicht damit abfinden, dass dieses Leiden hingenommen wird, dass man sich nicht wehrt:
"Du sitzt im Haus eines Menschen und er erzählt Dir sein Leben und ich weine mit ihm zusammen. Aber sobald die Rede auf Putin oder Lukaschenko kommt, da erwacht plötzlich in diesem Menschen der Sklave. Da ist sie wieder, die Angst, der Sklave. Und ich denke, was ist das bloß bei uns mit dem Leiden. Warum wird das Leiden bei uns nicht in Kraft, in Würde umgewandelt. Warum lassen die Menschen sich das wieder gefallen? Wo kommen diese Putins oder Lukaschenkos her. Sie kommen daher, weil unser Leiden uns nicht starkmacht. Es macht uns stark im Leiden, aber nicht im Leben."
In dem Buch fehlen aber auch nicht die positiven Stimmen: die Studentin, die ihre Angst überwunden und gegen Lukaschenko auf die Straße gegangen ist; der Sohn des Politchefs eines Fliegerregiments, der aufbegehrt gegen die sowjetisch-patriotische Erziehung des Vaters und schließlich emigriert. Und es gibt die Interviews mit Menschen aus dem russischen Landesinnern, die deutlich machen, dass das Leben dort noch genauso ist wie vor hundert Jahren. Ganz gleich ob Sozialismus oder Kapitalismus, ob "Rote" oder "Weiße" an der Macht sind. Sie "warten immer auf den Frühling. Pflanzen Kartoffeln".
Swetlana Alexijewitsch ist mit ihrem Buch über das Leben auf den Trümmern des Sozialismus etwas Außerordentliches, Beeindruckendes gelungen. Mit den authentischen Stimmen der Betroffenen erfasst sie das Bild eines tief greifenden historischen Wandels, verbindet das private Schicksal, das Fühlen und Denken von einzelnen Menschen mit Weltgeschichte. Dank der Auswahl und Anordnung des Sprachmaterials, seiner vorsichtigen literarischen Überarbeitung und poetischen Komposition entsteht aus dokumentarischen Tonbandaufzeichnungen ein sprachliches Oratorium, ein außergewöhnliches, tief bewegendes Kunstwerk.
Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Hanser Berlin 2013, 570 Seiten, 27,90 Euro.
Seit den 80er-Jahren verarbeitet sie in ihren Büchern die schmerzlichsten Erfahrungen der sowjetischen Geschichte: das Leid der weiblichen Soldaten und der Kinder im Zweiten Weltkrieg, das Grauen des Afghanistankriegs, die Katastrophe von Tschernobyl, den Freitod von Menschen, die den Zusammenbruch des Kommunismus nicht verkraften konnten. Sie verdichtet die erlebten und erzählten Geschichten der von ihr befragten Menschen zu einer ganz eigenen ästhetischen Form der "Oral History", die die tragische Geschichte der Sowjetunion von innen heraus, aus der Sicht der Betroffenen, nacherlebbar macht.
Ihr letztes Buch erfasst die Zeit nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und veranschaulicht wie die unterschiedlichsten Menschen diesen tiefen Bruch in ihrer Biografie erlebt und erlitten haben.
"Dieses Buch, das meinen Zyklus abschließt, das ist das fünfte, abschließende Buch über den roten Menschen. Und ich wollte ganz unvoreingenommen zuhören, ich hab mir am Anfang vorgenommen, alle Teilnehmer des sozialistischen Dramas ehrlich anzuhören. Ich gebe das Wort sowohl dem Henker wie dem Opfer, allen, jeder spricht über seine Wahrheit, um diese Zeit anschaulich vor uns darzustellen, wie das alles tatsächlich war. Weil wir über unsere Vergangenheit nicht wirklich gesprochen haben, wir haben sie nicht reflektiert, es gab keine Diskussion in der Gesellschaft darüber, es gab kein Gericht über die Partei. Das heißt, die Vergangenheit wurde einfach ausgestrichen und das war's. Und im Endergebnis hat sich dann bei uns gar nichts getan. Und ich bin der Meinung, dass es höchste Zeit ist, diese Diskussion in unserer Gesellschaft zu beginnen. Das Wesentliche ist dabei, dass wir verstehen müssen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wenn wir nämlich nicht wissen, woher und warum, dann führt das dazu, dass wir uns etwas ausdenken - wie man heute bei uns sagt - dass in Russland nicht nur die Zukunft nicht vorauszusagen ist, sondern auch die Vergangenheit.
Ich wollte, dass in diesem riesigen russischen Chor jeder seine Stimme bekommt, ich habe jedem das Wort gegeben. Ich wollte, dass man diese Stimmen hört, und dass die, die das alles lesen, anfangen nachzudenken: Was ist das? Was war der Kommunismus?"
Das Buch ist äußerst kunstvoll komponiert, und durch seine poetischen, bildhaften Zwischentitel wie "Vom Schönen an der Diktatur und von Schmetterlingen in Zement" oder "Von einem einsamen roten Marschall und drei Tagen einer vergessenen Revolution" gewinnt das authentische Sprachmaterial ästhetische Dimensionen.
Der erste Teil des Buches "Trost durch Apokalypse" erfasst die Nachwendezeit der 90er-Jahre. Vorangestellt ist ein aus Sprachfetzen und Wortgefechten zusammengesetztes Stimmengewirr "Aus Straßenlärm und Küchengesprächen", in dem sich die rasanten Entwicklungen der Zeit auf erhellende Weise spiegeln: die beglückende Erfahrung des Widerstands gegen den Augustputsch von 1991, der Rausch der Freiheit und die rasch folgende Enttäuschung, die Entdeckung des Geldes und die Suche nach Verdienstmöglichkeiten, die Fassungslosigkeit über das Ende der Perestroika, aber auch Stimmen über den Verrat am Kommunismus und Gorbatschow als amerikanischen Geheimagenten.
Es folgen zehn Lebens- und Leidensgeschichten, in direkter Rede von den Protagonisten selbst oder deren Freunden und Angehörigen der Autorin in langen gemeinsamen Gesprächen erzählt. Das sind Stimmen von verzweifelten Kommunisten, deren ganzes Leben von der sowjetische Ideologie geprägt war und die sich manchmal weinend ihr Trauma von der Seele reden: die Sekretärin des Parteikomitees, die immer noch die Sowjetzeit verherrlicht und dabei doch beim Erzählen ihrer Lebensgeschichte unbeabsichtigt die Schrecken des Kommunismus entlarvt; die Ärztin, die vom größten Erlebnis ihrer Kindheit, der Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau schwärmt, die Vergangenheit idealisiert und nun entsetzt ist über die Bettler, Verkaufsbuden und das Verscherbeln von Parteibüchern und Orden; der einsame rote Marschall Achromejew, Mitglied der Putschistengruppe vom August 1991, der sich nach dem Scheitern des Putsches erhängte; der aufrichtig überzeugte Altkommunist, Parteimitglied seit 1922, der nach einem gescheiterten Selbstmordversuch bitter erkennen muss, dass "seine Zeit eher zu Ende war als sein Leben", während der Enkel lachend dabei sitzt und Witze erzählt.
Die Voraussetzung für die absolute Ehrlichkeit dieser nachdenklichen Berichte und Beichten ist, dass Swetlana Alexijewitsch sich selbst als Beteiligte versteht und die Interviewpartner ihr deshalb vertrauen.
"Ja, die Menschen haben sich mir geöffnet, weil sie verstanden haben, dass nur ein sowjetischer Mensch einen Sowjetmenschen verstehen kann. Wenn man sonst alles erklären müsste, so ist das mir gegenüber nicht nötig. Ich war selbst Oktoberkind und Pionier und ich habe auch davon geträumt, zum Bau der BAM zu fahren, wie damals alle in unserer Zeit. Und ich habe mich niemals dafür geschämt und nie gesagt, wie das einige tun, das ich gewusst hätte, dass der Sozialismus zu Ende geht. Wir haben nichts gewusst, wir waren alle verblüfft, wie schnell das passiert ist. Und wir waren in keiner Weise darauf vorbereitet.
Niemals aber habe ich die Position eines Richters eingenommen, dass ich weiß, was richtig ist oder irgendjemanden verurteile. Das ist nicht Sache des Schriftstellers. Der Schriftsteller muss das ganze Bild zeigen, die Fragen aufwerfen und die Menschen zwingen, darüber nachzudenken."
In den Bekenntnissen dieser enttäuschten Idealisten – unter ihnen zum Beispiel die Architektin, die als Tochter einer "Volksfeindin" ihre ganze Kindheit unter jämmerlichsten Bedingungen im Straflager, Kinderheim und der Verbannung verbracht hat und die trotzdem der Sowjetunion nachweint - wird besonders deutlich, welch folgenschwere Bedeutung in der Sowjetideologie die Mythen des Kampfes und Opfertodes hatten. Swetlana Alexijewitsch erinnert sich:
"Wir haben immer gekämpft oder uns auf einen Krieg vorbereitet. Das war unser ganz normaler Zustand. Und ich erinnere mich, als ich noch zur Schule ging, da haben wir nicht gelernt, wie man lebt, sondern man hat uns beigebracht, dass wir immer bereit sein müssten unser Leben für eine Idee, für die Heimat zu opfern. Und dann stellte sich plötzlich heraus, dass Leben etwas ganz anderes ist. Man muss sich nicht hinter irgendein Maschinengewehr legen, sondern man muss lernen, gute Dinge zu produzieren, man muss lernen gute Straßen zu bauen."
Der zweite Teil des Buches, überschrieben mit "Der Reiz der Leere", erfasst die Zeit von 2002 bis 2012. Die erzählten Schicksale dieses Teils zeigen die Traumatisierung vieler Menschen durch die sich überstürzenden und oft katastrophalen Wandlungsprozesse der Nachwendezeit: die Armenierin, die einen Aserbaidschaner liebt und die hasserfüllten, grausamen Pogrome in Baku zwischen den ehemals friedlich zusammenlebenden Sowjetvölkern erleben musste; die Moskauer Technologin, der - als sie das Geld für die Beerdigung ihrer Großmutter nicht aufbringen kann - von einer kriminellen Bande ihre Wohnung abgeluchst wurde; die aus einer typischen russischen Intelligenzlerfamilie stammende Frau, die nun Karriere als Werbemanagerin gemacht hat und sich in ihrem materiellen Überfluss doch einsam fühlt; die Mutter und ihre Tochter, die den Terroranschlag von Tschetschenen auf die Moskauer Metro schwer verletzt überlebt haben; die von seinem Freund erzählte Geschichte des tadschikischen Bauarbeiters Rawschan, der sich mit einem Messer die Kehle durchgeschnitten hat, weil er die Diskriminierung, der die Gastarbeiter aus Mittelasien ausgesetzt sind, nicht mehr ertragen konnte.
Alle Geschichten des Buches erzählen vom unerträglichen Leiden und Erdulden, von der großen Leidensfähigkeit des russischen Volkes. Swetlana Alexijewitsch aber will sich nicht damit abfinden, dass dieses Leiden hingenommen wird, dass man sich nicht wehrt:
"Du sitzt im Haus eines Menschen und er erzählt Dir sein Leben und ich weine mit ihm zusammen. Aber sobald die Rede auf Putin oder Lukaschenko kommt, da erwacht plötzlich in diesem Menschen der Sklave. Da ist sie wieder, die Angst, der Sklave. Und ich denke, was ist das bloß bei uns mit dem Leiden. Warum wird das Leiden bei uns nicht in Kraft, in Würde umgewandelt. Warum lassen die Menschen sich das wieder gefallen? Wo kommen diese Putins oder Lukaschenkos her. Sie kommen daher, weil unser Leiden uns nicht starkmacht. Es macht uns stark im Leiden, aber nicht im Leben."
In dem Buch fehlen aber auch nicht die positiven Stimmen: die Studentin, die ihre Angst überwunden und gegen Lukaschenko auf die Straße gegangen ist; der Sohn des Politchefs eines Fliegerregiments, der aufbegehrt gegen die sowjetisch-patriotische Erziehung des Vaters und schließlich emigriert. Und es gibt die Interviews mit Menschen aus dem russischen Landesinnern, die deutlich machen, dass das Leben dort noch genauso ist wie vor hundert Jahren. Ganz gleich ob Sozialismus oder Kapitalismus, ob "Rote" oder "Weiße" an der Macht sind. Sie "warten immer auf den Frühling. Pflanzen Kartoffeln".
Swetlana Alexijewitsch ist mit ihrem Buch über das Leben auf den Trümmern des Sozialismus etwas Außerordentliches, Beeindruckendes gelungen. Mit den authentischen Stimmen der Betroffenen erfasst sie das Bild eines tief greifenden historischen Wandels, verbindet das private Schicksal, das Fühlen und Denken von einzelnen Menschen mit Weltgeschichte. Dank der Auswahl und Anordnung des Sprachmaterials, seiner vorsichtigen literarischen Überarbeitung und poetischen Komposition entsteht aus dokumentarischen Tonbandaufzeichnungen ein sprachliches Oratorium, ein außergewöhnliches, tief bewegendes Kunstwerk.
Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Hanser Berlin 2013, 570 Seiten, 27,90 Euro.