Russische Truppen in Belarus
Droht der Ukraine eine neue Front im Norden?

Für eine gemeinsame Truppe stationiert Russland bis zu 9.000 Soldaten in Belarus. Das ukrainische Militär fürchtet einen neuerlichen Angriff an der Nordgrenze des Landes. Wie schätzen Sicherheitsexperten die Lage ein?

    Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko lässt sich Waffen vorführen
    Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko lässt sich Waffen vorführen (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Presidential Press Service pool )
    Nach mehreren Niederlagen in seinem Angriffskrieg in der Ukraine bringt der russische Präsident Wladimir Putin erneut eigene Truppen im Nachbarland Belarus in Stellung. Das Land teilt eine 1.085 Kilometer lange Grenze mit der Ukraine und wurde bereits in Vorbereitung der Invasion im Februar von der russischen Armee als Aufmarschgebiet genutzt. Die jüngsten Truppenbewegungen wecken in der Ukraine die Sorge, dass Präsident Alexander Lukaschenko seine Armee zur Unterstützung des russischen Kriegs einsetzen könnte.

    Wie ist die aktuelle Situation?

    Russland stationiert seit dem 15. Oktober Armeeeinheiten in der benachbarten ehemaligen Sowjetrepublik Belarus. Nach amtlichen Angaben werden bis zu 9.000 Soldaten sowie rund 170 Panzer, 200 gepanzerte Fahrzeuge und „bis zu 100 Waffen und Mörser mit einem Kaliber über 100 Millimeter“ erwartet. Das teilte der Leiter der Abteilung für internationale militärische Zusammenarbeit im belarussischen Verteidigungsministerium, Waleri Rewenko, am 17. Oktober auf Telegram mit. Die russischen Einheiten werden demnach auf vier Truppenübungsplätzen im Osten und im Zentrum des Landes stationiert.
    Karte zeigt die Ukraine und ihre Nachbarn
    Die ehemalige Sowjetrepublik Belarus grenzt sowohl an Russland als auch an die Ukraine (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
    Sie sollen mit den belarussischen Streitkräften eine neue Einheit zur Erfüllung jedweder Aufgabe bilden, wie der stellvertretende russische Kommandeur Viktor Smejan im Staatsfernsehen sagte. Die Aufstellung einer entsprechenden gemeinsamen Truppe hatte der belarussische Machthaber Lukaschenko eine Woche zuvor bekannntgegeben. Sie solle angesichts der steigenden Spannungen die belarussische Grenze schützen, so Lukaschenko. Zugleich rief er eine erhöhte Terrorismuswarnung für sein Land aus und versetzte die Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft.
    Zudem hat Belarus nach eigenen Angaben damit begonnen, die militärische Tauglichkeit der Bürger zu prüfen. Beobachter bewerten dies als eine versteckte Mobilmachung. Das Verteidigungsministerium in Minsk teilte dagegen mit, dass es sich um eine Routinemaßnahme handle, die voraussichtlich bis Ende des Jahres abgeschlossen sei. Zusammen mit der Stationierung russischer Truppen nährt diese Maßnahme jedoch die Spekulationen über einen möglichen Kriegseintritt von Belarus an der Seite Moskaus.

    Wie hat sich Minsk bislang zum russischen Angriffskrieg verhalten?

    Belarus gilt als engster Partner Russlands, gemeinsam bilden sie einen Unionsstaat. Als eines von fünf Ländern sprach sich Belarus zuletzt in der UN-Vollversammlung auch gegen die Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine aus. Aktiv nimmt die Ex-Sowjetrepublik bislang jedoch nicht an diesem Teil. Allerdings diente das Zehn-Millionen-Einwohner-Land zu Beginn der Invasion als Aufmarschgebiet für die Truppen des Kreml. Unter dem Deckmantel gemeinsamer Manöver gestattete Lukaschenko Putin bereits im Herbst 2021, Einheiten entlang der belarussisch-ukrainischen Grenze zu stationieren. Ein Großteil der russischen Waffen und Soldaten blieb dort bis zum Kriegsbeginn.
    Ab dem 24. Februar marschierten die russischen Einheiten dann aus der Region Gomel im Süden von Belarus in den Norden der Ukraine ein - in Richtung der nur knapp 100 Kilometer von der Grenze entfernten ukrainischen Hauptstadt Kiew. Nach der Zurückschlagung des Angriffs durch die ukrainische Armee diente Belarus den Moskauer Truppen dann als Rückzugsgebiet.
    Für den Westen ist Belarus mitschuldig an der völkerrechtswidrigen Aggression gegen die Ukraine, auch weil es bis heute Luftangriffe vom eignen Territorium auf das Nachbarland zulasse. Auch bei der jüngsten, großangelegten Angriffsserie auf Städte und kritische Infrastruktur sollen nach Angaben des ukrainischen Generalstabs iranischen Drohnen von belarussischem Boden aus gestartet worden sein.

    Wie begründen Moskau und Minsk die neue militärische Zusammenarbeit?

    Machthaber Lukaschenko beteuert weiterhin, dass sich Belarus in den Krieg in der Ukraine nicht einmischen werde und die Aufstellung der gemeinsamen belarussisch-russischen Truppe lediglich der Verteidigung diene. Seine Regierung sei über "inoffizielle Kanäle" vor der "Vorbereitungen für einen Angriff von ukrainischem Gebiet aus gegen Belarus" gewarnt worden, erklärte Lukaschenko. Zudem beschuldigte er neben der Ukraine auch die Nachbarländer Litauen und Polen, belarussische „Radikale“ auszubilden, "um Sabotage und Terroranschläge zu verüben und eine militärische Meuterei im Lande zu organisieren".
    Ähnlich äußerte sich auch der Chef des belarussischen Geheimdienstes (KGB), Ivan Tertel. Er sehe fast täglich "eine Zunahme der geheimdienstlichen Aktivitäten von ukrainischem Territorium aus, tägliche Versuche, den belarussischen Luftraum zu verletzen", sagte Tertel laut staatlicher Nachrichtenagentur Belta. Leider entwickele sich die Situation "sehr ernsthaft" in Richtung Süd-Belarus.
    Moskau hielt sich mit offiziellen Verlautbarungen zur gemeinsamen Truppe bislang zurück. Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte dazu lediglich, Putin und Lukaschenko diskutierten in ihren bilateralen Gesprächen ständig über eine Vielzahl von Bereichen, dazu gehöre auch das Thema Verteidigung. Dies sei in der Militärdoktrin des Unionsstaates vorgesehen, den beide Länder bilden.

    Wie bewertet die Ukraine die Situation?

    Die Ukraine sieht Belarus schon seit Beginn des russischen Angriffs als Kriegspartei, weil Lukaschenko Russland damals Militärbasen für seinen Angriff zur Verfügung stellte. Aufgrund dieser Erfahrungen ist Kiew angesichts der neuerlichen Stationierung russischer Einheiten alarmiert. Man sehe eine "wachsende Gefahr" einer neuen russischen Offensive aus dem nördlichen Nachbarland, sagte der ranghohe ukrainische Militärvertreter Oleksij Gromow. Diesmal könnte sie im Westen der Ukraine erfolgen, "um die Hauptversorgungswege für ausländische Waffen und militärische Ausrüstung abzuschneiden, die über den Westen, insbesondere Polen, in die Ukraine gelangen", so die Einschätzung von Gromow.
    Ukrainische Militäranalysten befürchten zudem, dass Russland durch das gemeinsame Militärbündnis versucht, Streitkräfte Kiews aus dem Osten und Süden des Landes zu binden, wo die russischen Invasoren zuletzt unter Druck geraten sind und zum Teil empfindliche Niederlagen hinnehmen mussten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Russland vor, "Belarus direkt in diesen Krieg hineinziehen" zu wollen, und forderte eine internationale Beobachtermission für die ukrainisch-belarussische Grenze.

    Was sagt die belarussische Opposition?

    Auch in Reihen der belarussischen Opposition lässt die neuerliche Stationierung russischer Armeeeinheiten die Alarmglocken schrillen. „Lukaschenko und Putin ziehen unser Land in den Krieg, sie lügen, dass angeblich von ukrainischer Seite eine Bedrohung ausgeht“, sagte die im Exil im benachbarten Litauen lebende Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja. In Lukaschenkos Zugeständnis, russische Soldaten im Land zu stationierten, sieht sie vor allem einen weiteren Loyalitätsbeweis für Putin. Lukaschenko treffe selbst schon keine Entscheidungen mehr, der Kreml steuere die Politik in Belarus, betont Tichanowskaja.
    Tatsächlich hängt das Land auch wirtschaftlich am Tropf von Moskau, zumal die Sanktionen, die im Zuge der Niederschlagung von Protesten nach der umstritten Wiederwahl Lukaschenkos im Jahr 2020 verhängt wurden, als Reaktion auf die Haltung des belarussischen Regimes im Ukraine-Krieg, weiter verschärft wurden. Eine direkte Beteiligung der belarussischen Armee am Angriffskrieg in der Ukraine hält Tichanowskaja dennoch für unwahrscheinlich. Lukaschenko baue jedoch eine Bedrohung auf.
    Der in Warschau im Exil lebende weißrussische Oppositionspolitiker Pawel Latuschka glaubt dagegen, dass Putin und Lukaschenko eine Invasion im nächsten Frühjahr vorbereiten. Nach ihm vorliegenden Quellen will Russland bis dahin angeblich 120.000 Soldaten in Belarus stationieren. Außerdem solle die belarussische Armee durch Mobilisierungsmaßnahmen von etwa 60.000 auf 100.000 Mann aufgestockt werden. „Putin nutzt unser Land für seine Aggression, und Lukaschenko ist ein nützlicher Idiot“, sagte Latuschka dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Offizielle Bestätigungen für die genannten Zahlen gibt es jedoch nicht.

    Wie bewertet der Westen die Situation?

    Die NATO sieht bisher keine Hinweise darauf, dass sich Belarus auf eine aktiv Beteiligung am russischen Angriffskrieg in der Ukraine vorbereitet. Trotz der Stationierung von Truppen an der Grenze zur Ukraine, sei man noch immer der Ansicht, dass das Land nicht offiziell in den Krieg eingreifen wolle, sagte ein Vertreter des Militärbündnisses  in Brüssel. Als einen möglichen Grund nannte er die dann drohenden weiteren Sanktionsmaßnahmen des Westens gegen Minsk.
    Westliche Geheimdienste gehen davon aus, dass es sich bei der gemeinsamen belarussisch-russische Truppe in erster Linie um ein Ablenkungsmanöver Putins handelt. „Die Ankündigung ist wahrscheinlich ein Versuch, russisch-belarussische Solidarität zu demonstrieren und die Ukraine dazu zu bringen, Truppen zum Schutz ihrer nördlichen Grenze abzuziehen“, teilte das britische Verteidigungsministerium unter Berufung auf Geheimdienstinformationen mit.

    Redaktionell empfohlener externer Inhalt

    Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

    Wie bewerten Sicherheitsexperten die Situation?

    Von Militärbeobachtern wird ein unmittelbares Eingreifen von Belarus in den Krieg in der Ukraine bislang für wenig wahrscheinlich gehalten. Die belarussische Armee sei auf Verteidigung ausgerichtet und für Angriffsoperationen eher ungeeignet, gab Olga Dryndova von der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen im Dlf zu bedenken. Selbst wenn die belarussische Armee doch eingreifen sollte, sei sie nicht groß genug, um das Kriegsgeschehen entscheidend zu beeinflussen.
    Darüber hinaus läge es nicht im politischen Interesse Lukaschenko seine Armee an der Seite Russland in die Ukraine zu schicken. Denn nicht nur in der Bevölkerung sei der Krieg unpopulär, selbst innerhalb des Sicherheitsapparats, der Lukaschenkos Macht absichert, gebe es keine Mehrheit für den Krieg. Mit einem Kriegseintritt würde Lukaschenko sein politisches Überleben gefährden.
    Dies ist eine Einschätzung, die auch andere Expertinnen und Experten teilen. So verwies etwa Tatsiana Kulakevich vom Institute for Russian, European and Eurasian Studies at the University of South Florida in einem Beitrag in der „Washington Post“ darauf, dass Lukaschenko durch die Sanktionen bereits innerhalb der eigenen Reihen geschwächt sei. Eine permanente russische Militärpräsens würde seine Position weiter schwächen, weil dadurch die Abhängigkeit von Moskau weiter zunehme und die Souveränität des Landes aufs Spiel gesetzt würde.
    Nach Ansicht von Beobachtern können sich Lukaschenko zudem nicht auf die Loyalität seiner Armee verlassen. Deshalb werde Lukaschenko auch nicht im gleichen Maße wie Moskau seine Reservisten mobilisieren, glaubt Ekaterina Pierson-Lyzhina, Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Brüssel. „Lukaschenko wird niemals Waffen in die Hände einer belarussischen Bevölkerung legen, die sich gegen ihn wenden könnte“, sagte Pierson-Lyzhina "France 24". Gleichwohl könnten die belarussisch-russischen Militäreinheiten Moskau einen strategischen Vorteil bringen. Die erzeugten ein gewissen Maß an Unsicherheit an der Nordgrenze der Ukraine und hinderten Kiew möglicherweise daran, alle verfügbaren Ressourcen an der Süd- und Ostfront einzusetzen.
    Quellen: dpa, afp, rtr, dlf, Washington Post, France 24, The Kyiv Independent
    Redaktion: Wulf Wilde