„Ich war schockiert, weil es im 21. Jahrhundert undenkbar ist, dass mitten in Europa ein ziviles Flugzeug gewaltsam zur Landung gezwungen wird, um Menschen festzunehmen. Eine rote Linie. In diesem Moment sahen wir, dass Lukaschenko internationale Regeln bricht. Protassewitsch und Sofia Sapega waren Teil der demokratischen Bewegung, und wir wussten, dass das nur ihretwegen gemacht wurde. Es gab definitiv keine Gefahr für dieses Flugzeug. Alles war fake.”
Dieser Moment, den die belarussische Oppositionsführerin Swjatlana Zichanouskaja im ZOOM-Call beschreibt, ist der des 23. Mai 2021. Das Datum markiert eine tiefe Zäsur im Selbstbild der belarussischen Demokraten. Nicht nur wegen Lukaschenkos Verhalten, sondern auch wegen des Schicksals dieser beiden Medienleute, Sofia Sapiega, Roman Protassewitsch.
Das Liebespaar gilt dem belarussischen Regime zu diesem Zeitpunkt als Terroristen. Weil beide Demokratie-Aktivisten sind und vor allem: Weil sie via Telegram und Youtube Informationenüber die Lage der Opposition und über die Unterdrückung durch das Regime verbreiten. Nach der Festnahme auf dem Rollfeld bekennt sich der ehemalige Nexta-Chefredakteur Protassewitsch in einem anscheinend erzwungenen Statement zu seinen Taten.
Lukaschenko begnadigt Protassewitsch
Vor Gericht bereut er – und wird zu acht Jahren Haft verurteilt. Kurz darauf tauchen Aufnahmen von einer Hochzeit mit einer anderen Frau auf. Sie sind noch während der Haft entstanden. Ende Mai wird Protassewitsch von Lukaschenko persönlich begnadigt. Er trägt öffentlich eine Dankeshymne an den Diktator vor, den er mit Vornamen anspricht:
„Ich möchte zunächst vor allem dem Präsidenten unseres Landes danken, Alexander Grigorievich. Weil meine Begnadigung seine Entscheidung war. Und ich möchte unserem Land als Ganzes danken. Ich möchte allen danken, die an mich geglaubt haben, die glauben, dass Menschen sich verbessern und ihre Fehler einsehen können.“
Damit sagt sich Protasevich von Nexta und seinem bisherigen politischen und medialen Leben los. Sofia Sapiega dagegen bleibt in Haft. Doch dann, plötzlich, am 7. Juni, wird auch sie begnadigt. Kaum zehn Schritte aus dem Gefängnis raus, nimmt ein russischer Gouverneur aus ihrer Heimatregion sie in Gewahrsam, sie spricht per Telefon mit ihrem Vater, dann muss auch sie vor den Fernsehkameras Belarusslands den obligatorischen Worte aufsagen:
„Ich möchte dem Präsidenten Alexander Grigorievich Lukashenko danken. Für die Gelegenheit, heute hier draußen zu stehen und nicht mehr da drin zu sein. Ich habe eine zweite Chance bekommen. Danke!
„Ich möchte dem Präsidenten Alexander Grigorievich Lukashenko danken. Für die Gelegenheit, heute hier draußen zu stehen und nicht mehr da drin zu sein. Ich habe eine zweite Chance bekommen. Danke!
Zuckerbrot und Peitsche
Was steckt hinter diesem Vorgehen? Zuckerbrot für jene, die sich lossagen, Peitsche für die anderen? Die belarussische Exil-Politikerin Olga Kovalkova sieht einen groß angelegten Plan dahinter:
„Die Wut des Regimes richtet sich auf all jene, die dazu aufriefen, zu demonstrieren. Damals spielte Nexta dabei eine große Rolle. An diesen Feinden will sich das Regime sich rächen. Und das macht man nicht in einer unüberlegten Aktion, sondern in einer sorgfältig geplanten Spezialoperation. Die richtet sich gegen Nexta und dann gegen alle anderen, gegen Politiker und alle, die demonstriert haben.“
Polizeischutz im polnischen Exil
Tatsächlich wird Stsiapan Putsila, Gründer von Nexta, im polnischen Exil von der Polizei geschützt, Man befürchtet einen Anschlag durch den KGB. Immerhin sind er und ein ehemaliger leitender Redakteur, Jan Rudik, in Abwesenheit von einem belarussischen Gericht zu 19 bzw. 20 Jahren Haft verurteilt worden. Im gleichen Gerichtsverfahren wie Protassewitsch, der anschließend begnadigt wurde. Die Logik des Regimes ist: Indem Lukaschenko einen Überläufer wie Protassewitsch gnädig behandelt und gleichzeitig gegen Nexta vorgeht, macht er es unattraktiv, für Demokratie einzutreten.
Der Politikwissenschaftler Vitali Shkliarov lebt eigentlich in den USA. 2020 wollte er, zum Zeitpunkt der letzten Wahlen in Belarus, seine Eltern besuchen. Doch in seiner Heimatstadt Gomel wurde er von staatlichen Sicherheitskräften vom Fleck weg verhaftet, ins Gefängnis geworfen und nach Monaten wieder freigelassen. Seitdem lässt ihn der Komplex aus Medien wie Nexta, Telegram, Youtube, Lukaschenko-Regime und Demokratiebewegung in Belarus nicht mehr los.
„Unabhängige Medien sind völlig verschwunden“
Mit Geheimdienstmethoden, mit Angst, mit Folter und langen Gefängnisstrafen hat es Lukaschenko geschafft, an der Macht zu bleiben. Auch, weil er oppositionelle Medien von Belarus fernhält, sagt Shkliarov:
“Um sich da was von Nexta runterzuladen, dafür kann man ins Gefängnis kommen. Der Preis für diese Nachrichtendienste, gerade für die Weißrussen, die im Lande geblieben sind, ist so hoch mittlerweile, dass auch die rückgehenden Zahlen der Nachrichtenleser darauf zurückzuführen sind. Nexta hatte mal zwölf Millionen Subscriber und jetzt sind es nur noch ein halb oder zwei. Europäische, unabhängige Medien, auch Internetmedien sind völlig verschwunden, aus dem Land ausgetrieben mit Gewalt oder mit Verhaftungen und hohen Strafen.“