Der Unabhängigkeitsplatz im Zentrum von Minsk ist wöchentlich Schauplatz von Demonstrationen, dort hat auch die Regierung ihren Sitz. An seinem nordöstlichen Rand ragt eine rote Backsteinkirche auf, die römisch-katholische Kirche des Heiligen Simon und der Heiligen Helena. Das Gebäude, errichtet Anfang des 20. Jahrhundert, wurde in der Sowjetzeit zum Kino, überstand aber die Jahrzehnte, auch die Nazi-Besatzung.
Vor einigen Wochen riegelten Einsatzkräfte die Kirche plötzlich ab. Mehr als 100 Menschen waren in ihr eingesperrt. Einige hatten zuvor an Protesten gegen das Regime von Präsident Lukaschenko teilgenommen. Die Kirche zu verlassen, hätte für die Menschen bedeutet, umgehend in einem der bereitstehenden Polizeitransporter zu verschwinden. Erst nach einiger Zeit beendeten die Einsatzkräfte ihre Blockade.
Alexander Lukaschenko sicherte wenige Tage später zu: "Die katholischen Kirchengebäude sind geöffnet und werden weiter geöffnet bleiben. Ich habe immer gesagt, jedem Belarusse muss sein Weg zu seiner Kirche offenstehen. Das haben wir immer beachtet."
Seit jeher stabile Stütze von Präsident Lukaschenko
Die seit 2,5 Monaten währenden Proteste, die mal Zehn-, mal Hunderttausende auf den Straßen vereinen, aber außerdem kleinere Formate in Stadtvierteln in Minsk und vielen anderen Orten des Landes angenommen haben, lassen auch die Kirchen des Landes nicht unberührt. Die größte Glaubensgemeinschaft ist die Belarussisch-Orthodoxe Kirche, die zweitgrößte die Katholische Kirche. Wie in vielen Staaten, die einst zur atheistischen Sowjetunion gehörten, verstehen sich viele Menschen in Belarus als religiös, sind aber nicht unbedingt gleichzeitig offiziell Mitglied einer Kirche.
Die Orthodoxe Kirche galt und gilt als stabile Stütze von Präsident Alexander Lukaschenko, stellt Natallia Vasilevich fest. Sie ist belarussische orthodoxe Theologin und promoviert zurzeit an der Universität Bonn.
"Lukaschenko wollte als politischer Leader die Unterstützung der Kirchen, um symbolisch legitim zu erscheinen. Das heißt, dass die Kirche einfach schöne Worte und Segnungen spricht, und Geistliche daneben stellt. So wie populäre Sänger, Sportler, Fußballer eben auch religiöse Oberhäupter in ihrer Kleidung zur dekorativen Legitimierung des Regimes beitragen."
Innerkirchlicher Druck
Die schönen Worte bekam der Präsident gleich nach der Wahl übersandt. Metropolit Pawel, Oberhaupt der Belarussisch-Orthodoxen Kirche, gratulierte Lukaschenko zum Wahlsieg. Dass der massiv hatte fälschen lassen, fiel unter den Tisch. Auch die Katholische Kirche rief zunächst dazu auf, von den Demonstrationen Abstand zu nehmen. Doch die anhaltenden Proteste verändern die Gesellschaft zurzeit stark – und damit auch die Kirchen von innen.
"Priester haben Posts in sozialen Netzwerken verfasst, Priester sind auch zu den Protesten auf die Straße gegangen, Gläubige haben Petitionen und Offene Briefe an Metropolit Pawel geschrieben, haben um Treffen gebeten. Es entstand ein innerkirchlicher Druck auf die Hierarchie."
Einzelne Priester, etwa in der Stadt Grodno, verurteilten die Folter von Festgenommenen in scharfen Worten. Die Führung der Orthodoxen Kirche, die dem Präsidenten gratuliert hatte, geriet so sehr unter Erklärungszwang, dass sie sich veranlasst sah, ihren Metropoliten Pawel abzuberufen und in eine russische Region zu versetzen. Das ist so möglich, weil die Orthodoxe Kirche von Belarus dem Moskauer Patriarchat untersteht. Von dort wurde ein neuer Metropolit entsandt.
Veniamin machte gleich klar, dass er keine Position gegen die politische Führung einnehmen werde, so Theologin Vasilevich: "Er spricht öfter darüber, dass die Situation im Land mit Beten und Fasten zu lösen sei. Man sollte nicht protestieren, nicht auf die Straße gehen. Gott selbst wird es richten."
Priester unter Arrest
Darin unterstütze ihn der Teil der orthodoxen Bevölkerung, der Lukaschenko gewählt habe und ihn nach wie vor stütze. Bekannt sei zum Beispiel, dass die Gemeinde des Klosters der Heiligen Elisabeth in Minsk entschieden zum Präsidenten stehe. Gleichzeitig aber verhalten sich einige Priester weit unterhalb der Kirchenführung inzwischen ganz anders.
"Viele sind Demonstranten. Manchmal tragen sie zu ihrer Erkennung Ikonen. Andere tragen Plakate mit sich. In der Stadt Gomel musste der Priester Wladimir Drobyschewskij in Kurzzeitarrest, weil er im Priesterrock, mit Kreuz und Plakat auf die Straße gegangen war, um sein symbolisches Kapital als Priester zu nutzen. Um dem Staat und der Polizei zu zeigen, dass es nicht gut ist, was passiert. Dass man die Gewalt stoppen muss."
Es gibt auch Beispiele von Geistlichen, die Hilfe für Gefangene oder Freigelassene organisieren, in manchen Fällen überkonfessionell. Dann treten orthodoxe und katholische Geistliche gemeinsam auf.
Bischof mit Einreiseverbot
Die katholische Kirche in Belarus hat sich inzwischen weitgehend in die Reihen derer eingefügt, die Lukaschenko kritisch gegenüberstehen. Nach dem anfänglichen Aufruf, den Protesten fern zu bleiben, forderte Erzbischof Tadeusch Kondrusijewitsch bald darauf, als Tausende festgenommen worden waren, ein Ende der Gewalt. Er sprach von kriminellen Befehlen und sündigen Befehlsgebern.
Der Erzbischof reiste zwischenzeitlich nach Polen und sitzt seitdem dort fest, weil er, obwohl belarussischer Staatsbürger, nicht wieder zurückreisen darf – was womöglich eine Retourkutsche der Behörden in Minsk gegen ihn ist. "Die Einreise ins Land erfolgt nach dem Gesetz", rechtfertigte sich Präsident Lukaschenko, "uns ist nicht wichtig, wer er ist. Ob Oberhaupt der Katholiken oder der Orthodoxen oder der Muslime: Du sollst nach dem Gesetz leben. Aber wenn Du Dich in die Politik hineingedrängt hast und Katholiken, die im Übrigen wunderbare Leute sind, hinter Dir hergezogen hast, trägst Du eine doppelte Verantwortung."
Die Katholiken in Belarus müssen weiter ohne ihren Erzbischof auskommen. Selbst eine Delegation aus dem Vatikan konnte an dem Einreiseverbot nichts ändern.
Weil die Katholische Kirche eine etwas entschiedenere Haltung für die Demonstranten und ihre Anliegen einnimmt als die orthodoxe, wird sie für immer mehr Belarussen attraktiv. Es soll, so ist in sozialen Netzwerken zu lesen, einige Belarussen geben, die sich ihr anschließen wollen. Statistiken darüber werden jedoch nicht geführt.