2017 erschien das Buch "Radio Prudok" des belarussischen Autors Andrus Horvat. Horvat, gelernter Journalist und tätig als Hausmeister im Minsker Janka-Kupala-Theater, war von Minsk aufs Land in ein abgelegenes kleines Dorf in der ukrainisch-belarussischen Grenzregion gezogen. In seinem Blog erzählte er in dem dort gebräuchlichen Dialekt Geschichten von Einsamkeit, Downshifting und Gesprächen über eingelegte Salzgurken.
Bald folgten ihm tausende von Leser:innen, die einen ganz frischen Eindruck vom Landleben in Belarus bekamen. Die Hippsterisierung des Dorflebens nahm ihren Lauf. Dann erschienen Horvats Miniaturen des Dorflebens als Buch. Die erste Auflage von 300 Exemplaren war innerhalb von zwei Tagen ausverkauft, die zweite Auflage von 1.000 Exemplaren - für belarussische Verhältnisse ein Bestseller - ebenso, und das, obwohl Horvat auf die gängigen PR-Wege und auf den Vertrieb seines Buches in Buchhandlungen verzichtet hatte und sich gegenüber Journalisten recht scheu zeigte.
Welche Fragen für die Gegenwartsliteratur, welche Ideen belarussischen Lebens, welche gesellschaftliche Entwicklung sich aus dem „Phänomen Horvat“ ablesen lassen, berichtet der Essay von Nina Weller. Die Slawistin hat das "Phänomen Horvat" und die "Selbst(er)findung des Minskers auf dem Lande: Andrus' Horvat und die Hippsterisierung des belarussischen Dorflebens" auf einer Tagung über Topoi belarussischer Selbstverortungen an der Universität Potsdam 2018 untersucht und in dem von Yaraslava Ananka und Magdalena Marszałek herausgegebenen Sammelband "Heu auf dem Asphalt" (2020) detailliert erörtert.
Nina Weller ist Literaturwissenschaftlerin und Slawistin. Sie forscht an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) zu aktuellen Erinnerungskulturen und Gegenwartsliteraturen in Osteuropa und ist Autorin und Herausgeberin von Publikationen zur russischen Gegenwartsliteratur und zu alternativgeschichtlichen und fiktionalen Geschichtsbildern. "Heu auf dem Asphalt" erscheint im Dezember 2020 im Harrassowitz-Verlag.
Andrus Horvat, geboren 1983, absolvierte 2006 ein Journalismus-Studium an der Staatlichen Belarussischen Universität. 2013-2015 arbeitete er als Hausmeister im Nationaltheater. 2015 zog er nach Prudok, in der Homiel Region. Sein "Radio Prudok"-Blog wurde 2015 in Auszügen veröffentlicht in der Zeitung "Nasha Niva".
Belarus - Texte und Stimmen
Eine Reihe in sieben Teilen
- Über Minsk (20.12.2020)
- Swetlana Alexijewitsch: "Ich sah plötzlich ganz andere Menschen" (26.12.2020)
- Der Gefangenentransporter Awtosakelarus (27.12.2020)
- Die Frage der Nation (01.01.2021)
- Eine Art Zivilisationsrevolution (03.01.2021)
- Die mutigen Frauen in Kunst und Politik (10.01.2021)
Anfang des Jahres 2017 konnte man am Janka-Kupala-Theater in Minsk lange Warteschlangen beobachten. An der Theaterkasse wurde das Büchlein "Radziwa Prudok. Dzёnnik" – auf Deutsch: "Radio Prudok. Ein Tagebuch" – von seinem Autor Andrus Horvat höchstpersönlich verkauft und signiert. Horvat, Jahrgang 1983, ehemaliger Journalist und Hausmeister eben dieses Theaters, erzählt darin mit pointiertem Sprachwitz und mit viel Sinn für kleine Details und Situationskomik über seinen Umzug von Minsk in ein kleines Dorf in der ukrainisch-belarussischen Grenzregion von Homel.
Der Umzug: ein Statement
Das im Dialekt der Region verfasste Büchlein des bisher unbekannten Autors wurde zum viel diskutierten, auch umstrittenen Überraschungserfolg – gar vom "Phänomen Horvat" war die Rede. Die ersten beiden Auflagen von zusammen knapp über 1.000 Exemplaren – für belarussische Verhältnisse Maßstäbe eines Bestsellers – waren innerhalb von wenigen Tagen ausverkauft. Insgesamt erreichte das Buch eine unglaubliche Auflage von 8.000 Exemplaren.
Und das, obwohl Horvat auf die gängigen PR-Wege und auf den Vertrieb seines Buches in Buchhandlungen verzichtet hatte und sich gegenüber Journalisten recht scheu zeigte. Es folgten wichtige Literaturpreise und eine Theateradaption, die auf Monate im Voraus ausverkauft war.
So ganz aus dem Nichts, wie bisweilen betont wurde, war Horvat allerdings nicht auf der Bildfläche erschienen, hatten seine Miniaturen aus dem Leben eines Hausmeisters und Neu-Dörflers doch bereits ab 2013 auf seinem Facebook-Blog eine schnell auf mehrere Tausend Follower angewachsene Fangemeinde gefunden.
Doch was machte den Text so beliebt unter der vor allem städtischen Leserschaft?
Horvats Schritt vom Leben in der Stadt zum Neuanfang im Dorf erfolgt 2014. Er gibt seinen Job als Hausmeister des Janka-Kupala-Theaters auf, lässt Familie und Freunde vorübergehend zurück und bezieht das alte Häuschen der Großeltern im polesischen Dörfchen Prudok. Das 'Experiment' des Landlebens beginnt. In seinem Blog schreibt Horvat in der Art eines digitalen fragmentarischen Tagebuchs über seine Erlebnisse und Aktivitäten – über die Besonderheiten der Dorfbewohner, über den Charakter seiner Ziege oder über die Mühen bei der Restaurierung des maroden Holzhauses. Mal schildert er nüchtern seinen Tagesablauf, mal aberwitzige Einkaufstouren ins nächstgelegene Provinzstädtchen. Ein anderes Mal macht er sich Gedanken über die Vor- und Nachteile der Hühnerhaltung und des Gemüseanbaus, dann über Fragen des Lebensstils und über den Sinn des Lebens. Es gibt zwar kein fließendes Wasser, dafür einen Internetanschluss. Es gibt keinen konkreten Schreibauftrag, dafür einiges an handfester Arbeit auf dem Grundstück zu erledigen. Und es gibt jede Menge neugieriger Nachbarn, die sich dem Städter herzlich und zugleich ungläubig nähern.
Der Reiz des ab 2017 in Buchform vorliegenden Textes liegt darin, dass er das Format einer Story gewonnen hat, der offene und episodische Charakter des Blogs aber nicht aufgegeben wurde. Die Leser:innen können dem Livejournal Horvats nun kompakt in einem mehr oder weniger chronologischen Rahmen folgen und in die "kleinen Formen" der Erzählungen eintauchen: Jeder wird andere Textstücke finden, die zum Wiedererkennen, Lachen oder Nachdenken anregen.
Gespräch mit der Nachbarstante über das Einlegen von Salzgurken
"Andrej! – Jau! – Grüß dich. Ich bin gekommen um deine Salzgurken einzulegen. – Das ist nicht nötig, Tante. – Verdreh mir nicht den Kopf mit Dummheiten. Gib mir den Eimer. – Ich habe keine Zeit. – Dann salze ich sie dir selbst. Hör mir mal zu: bring mir eine Wanne und häute den Knoblauch. Hörst du? – Ja. – Andrej! – Jaha! – Wo ist denn das Salz? – Hier. – Andrej! – Tante, ich bin beschäftigt. – Mach einfach weiter. Stör ich dich etwa? Zeig mir mal, wo der Dill ist. – Da irgendwo. – Andrej! – Jau! – Komm her und hör zu, was ich sage. – Ja? – Geh und pflück ein paar Kirschen. – Das ist zu früh. – Andrej! – Jau! – Nimm einen Löffel und misch das Salz rein. – Aha. – So, nun habe ich dir die Gurken gesalzen. ... Und du wolltest nicht."
"Kleine Formen treten nie im Singular auf, sondern im Plural. […] Kleine Formen existieren in Text-Populationen", sagt der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl. Horvats Textpopulationen sind so etwas wie Miniaturschwärme aus dem Dorfleben. Sie leben von der Pluralität der Blickwinkel und Erzählrichtungen, die sein Ich‑Erzähler, sogar bisweilen überraschend für sich selbst, einnimmt: Kleinformatige Tagebucheinträge, Gedankensplitter, Anleitungen für praktische Tätigkeiten, Naturbeobachtungen, Stimmungsbilder oder Aphorismen wechseln einander unvermittelt und ohne rahmende Metaerzählung ab. Auch etwas längere Einschübe, wie die Lebensgeschichten der Groß- und Urgroßeltern Horvats, die in diesem Dorf ansässig waren, ebenso wie die Schwarz-Weiß-Fotos sind integriert und verleihen dem ganzen einen dokumentarischen Charakter.
Ein besonderes Herzstück des Buches sind die Gespräche mit den Nachbarn im Dorf, die dem jungen Mann um keinen guten Rat verlegen mehr oder weniger hilfreich zur Seite stehen.
Über das Schreiben
"Ich ging zur Tante. – Was schreibst du da immer? – Einen Roman. – Über was? – Ach, das werden Sie doch nicht verstehen. – Glaubst du etwa, dass Tante Dunja so blöd ist? – Also, es ist eine Antiutopie mit Elementen von… – Trinkst du Tee?"
Situationskomik trifft auf Sprachspiele mit ungewöhnlichen Wortkombinationen, mit denen Horvat selbstironisch die soziokulturelle Differenz zwischen den Lebenswelten in den Blick nimmt:
"Die Mähdrescherfahrer dreschen. Die Traktoristen traktorieren. Die Milchtanker tanken Milch. Und ich denke mir irgendeinen Unsinn über herabfallende Sterne aus. Ein Intellektueller auf dem Land ist wie eine rosa Schleife auf einem Schwein."
Bereits der Originaltitel des Buches verweist demonstrativ auf das Dorf: Der neutrale Terminus für Radio lautet im Belarussischen "radyjo", während man bei "radziwa" sofort den Dörfler sprechen hört. In den einschlägigen Wörterbüchern ist der Ausdruck nicht enthalten, wohl aber im "Mundartwörterbuch des nordwestlichen Belarus und seiner Grenzgebiete". Die Verwendung des Belarussischen mit seinen dialektalen Varianten vermittelt eine dörfliche Welt, die vielen Leser:innen von ihren familiären Herkünften oder aus Kindheitssommern bei den Großeltern vertraut sein dürfte, wobei ein Grad der Entfremdung stets mitschwingt: Das Dorf ist bei Horvat ein für Außenstehende anziehender und gleichwohl schwer zugänglicher Lebensraum. Hier kommt das titelgebende Radio ins Spiel: Einzelne Unterkapitelchen sind als "Radziwa Prudok" betitelt, sie nehmen das Format imaginierter Radiosendungen an, die dem Leser:innen beziehungsweise Hörer:innen 'Nachrichten' wie aus einer anderen, entfernten Welt zukommen lassen.
Radio Prudok: Sendung über Schmetterlinge
Radio Prudok: Sendung über mürrische Käfer und introvertierte Menschen
Radio Prudok: Lektion Belarussisch
Radio Prudok: Sendung über die Vögel Polesiens
Radio Prudok: Sendung über mürrische Käfer und introvertierte Menschen
Radio Prudok: Lektion Belarussisch
Radio Prudok: Sendung über die Vögel Polesiens
Und so weiter und so weiter.
Die imaginierte Radiostimme vermittelt nicht nur Wissen über die Natur und die Region, das den Städtern möglicherweise abhandengekommen ist, sie ist auch eine Form der Selbstvergewisserung des Erzählenden in einem von der Leserschaft scheinbar weit entfernten Kosmos Dorf:
"Radio Prudok. Abendnachrichten. Die Sterne werden am Himmel übertragen. Als schliefe man nicht im Hof, sondern im Universum. Ich bin der kleine Prinz mit dem Kater Roma statt mit einer Rose. Der Weltraumhund bellt. Die Weltraumkuh bewegt sich. Wie gestern und wie vor einer Million Jahren. Wie hier und überall. Und ich werde wohl doch kein Kosmonaut werden."
Bitterböser Rap über das Dorf
Dem Buch eilte seine Radiostimme allerdings nicht nur positiv voraus: Der belarussische Dichter Anton Rudak nahm in einem Rap-Gedicht mit direktem Bezug auf das Radio-Motiv die aus seiner Sicht trivial-narzisstische Liebeserklärung Horvats an das Dorf in wenigen Zeilen bitterböse auseinander:
"Guten Tag dem Haus im Dorf,
wie es beim Klassiker heißt:
Schaltet das Radio aus,
lasst uns hypen.
wie es beim Klassiker heißt:
Schaltet das Radio aus,
lasst uns hypen.
All jenen gewidmet,
die röchelten und buckelten,
es aber nie geschafft haben,
das Dorf aus sich zu vertreiben."
die röchelten und buckelten,
es aber nie geschafft haben,
das Dorf aus sich zu vertreiben."
Die Wiederentdeckung des dörflichen Raums ist ein ebenso erstaunliches wie ambivalentes Phänomen. Einerseits haben wir es mit dem soziostrukturellen Aussterben ganzer ruraler Landstriche und dem Verschwinden dörflichen Lebens zu tun. Andererseits sind "Land-Euphorie" und die "imaginäre Wiederbelebung" des Dorfs als Projektionsfigur medial allgegenwärtig. Dazu haben die Literaturwissenschaftler Werner Nell und Marc Weiland geforscht und stellen fest:
Der Imaginationsraum Dorf ist vor allem ein Produkt städtisch perspektivierter Wunsch- oder Schreckensvorstellungen. "Das Dorf boomt – die Dörfer sterben" – so bringen sie das auffällige "Missverhältnis von Darstellungseifer und Schwund des Dargestellten" auf den Punkt.
Horvats Bucherfolg ist bestes Beispiel dafür, dass auch in Belarus der "Imaginationsraum Dorf" eine Konjunktur erfährt. Dass es viele, vor allem jüngere Menschen wieder aufs Land zieht, trifft in Belarus auf einen besonderen kulturhistorischen und -politischen Kontext:
Von den ca. 9,5 Millionen Einwohnern leben in Belarus ungefähr 80 Prozent in den Städten, davon ein Großteil in Minsk. Die Stadtbevölkerung aber ist stark von dörflichen Herkünften geprägt, kaum eine Familie ist über mehrere Generationen im urbanen Raum verwurzelt. Der Schriftsteller Alherd Bacharewitsch formuliert in seinem Essay "Fliegen in der Milch" selbstironisch:
"Wenn ein Belarusse behauptet, er wäre ein Stadtmensch durch und durch, ist Skepsis angebracht. Wohl jeder von uns ist, ob es ihm gefällt oder nicht, dem Dorf mit hunderten feiner Fädchen verbunden, die die Stadt nicht zu zerreißen vermag. Die Stadt versucht es auch gar nicht."
Ungleiches Verhältnis von Stadt- und Landbevölkerung
Die Reflexion über das ungleichgewichtige Verhältnis von Stadt- und Landbevölkerung durchzieht die gesamte belarussische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Eines der bekanntesten Beispiele ist Michas Stralzoŭs in den 1960er‑Jahren verfasste Erzählung "Heu auf dem Asphalt". Stralzoŭ beschreibt darin die dörfliche Lebensweise als einen störrischen, nie ganz weg zu urbanisierenden Teil des städtischen Alltagslebens: Viele Zugezogene waren und sind Nachfahren von Bauern, die von der Sowjetmacht in den 1930er-Jahren enteignet wurden oder die nach dem Zweiten Weltkrieg und der Zerstörung ihrer Dörfer durch die Deutschen gezwungen waren, in die Städte zu ziehen. Ihrer kulturellen und sozialen Wurzeln entrissen sollten sie in der Stadt Urbanisierungs- und Russifizierungsprozesse durchlaufen, die nur bedingt erfolgreich waren. Etwas Heu aus dem Dorf mitgeschleppt, so Stralzoŭs sprichwörtlich gewordene Beobachtung, wird einen in Minsk immer wieder an den Füßen hängen bleiben:
"Auf dem Platz wie auf einer Wiese, wie im Sommer, der Geruch von Heu. Ich wandte mich um und ging langsam den Bürgersteig entlang und plötzlich sah ich hier, auf dem Bürgersteig, Heu. Niemand weiß, von wem das Büschel ausgetrockneten Heus herausgerupft worden war. Wie auf einer Wiese, wie im Sommer, der Geruch von Heu. 'Heu auf dem Asphalt', dachte ich, 'Heu auf dem Asphalt…' Als ob ich lange Zeit auf der Suche nach einem Wort gewesen wäre und es plötzlich gefunden habe. 'Heu auf dem Asphalt', dachte ich glücklich. 'Das Dorf in der Stadt…'"
Dem Dorf wird in Belarus spätestens seit der Moderne der Status jenes 'Anderen' der Stadt zugeschrieben, der im sowjetisierten und russifizierten Machtzentrum Minsk über Jahrzehnte unterdrückt wurde. Nationalistische Bewegungen zogen stets das Bild der Bauernnation als Inbegriff einer dörflich verankerten belarussischen Identität heran, wenn es darum ging, eine Kontinuität des ethnisch Nationalen gegenüber den vielfach wechselnden fremden, imperialen Machtstrukturen zu behaupten. Langfristig war aber dieser Versuch, wie Valentin Akudowitsch in seinem bekannten Essay "Der Abwesenheitscode" beschreibt, in dem multiethnischen und multikulturellen Gebilde Belarus zum Scheitern verurteilt.
Gründe für die Identifizierung mit dem Dorf
Die Identifizierung des Belarussischen mit dem Dorf ist auch eine Folge seines Verschwindens als sozialer und kultureller Ort: Wechselnde Okkupationsregime, rabiat durchgeführte Industrialisierungs- und Kollektivierungsprozesse in der Sowjetära, der Zweite Weltkrieg und die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten führten zur Zerstörung sowohl der multiethnischen kleinstädtischen jüdischen als auch der bäuerlichen Lebenswelten. Umso stärker wurde das Dorf deshalb als heiler Ort der Beheimatung belarussischer Identität und Sprache imaginiert, wobei sich die Bevölkerung selbst, insbesondere in den Grenzregionen zwischen Belarus, Ukraine, Polen und Litauen über Jahrhunderte als "tutejschyja", als "Hiesige" verstand. Die Tutejschyja, so auch der Titel des bekannten Theaterstücks von Janka Kupala, identifizieren sich eher mit dem lokalen Raum und der regionalen Sprache als mit einer übergeordneten ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit.
In kaum einer Region Europas musste die Bevölkerung im 20. Jahrhundert so viel Unterdrückung erfahren wie die in der Region des heutigen Belarus. In der Literatur wurde das Schicksal der Belarussen daher vielfach mit Motiven des Leidens, mit Widerstandskraft, aber auch mit einer gewissen strategischen Angepasstheit an die Umstände tradiert. Eines der prominentesten Beispiele ist die zwischen 1961 und ʹ76 erschienene Romantrilogie "Polessische Chronik" von Iwan Melesch. Die drei Romane, von denen der Titel des ersten, "Menschen im Sumpf", geradezu sprichwörtlich geworden ist, erzählen davon, wie sich in den 1920er-Jahren die einfache Bevölkerung in einem von der Außenwelt nahezu abgeschnittenen Dorf in der polesischen Sumpfgegend gegenüber Naturgewalten und Kollektivierungsmaßnahmen behaupten muss.
In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird Melesch oft als Beispiel für ein sakralisiertes Raumverständnis herangezogen: Das Bild des "Menschen im Sumpf" steht demnach für einen belarussischen Menschentypus, der sich durch die Erfahrung des Überlebens unter widrigen Bedingungen, aber auch durch die unbeirrte Wiederaneignung des fremdbestimmten Raums auszeichnet. Der "Mensch im Sumpf" verharrt eher passiv in seinem kleinen Kosmos, passt sich dem aufgezwungenen Schicksal an, doch nutzt er die Situation gewitzt auch zum eigenen Vorteil – ein Bild, mit dem sich nicht zuletzt durch seine literarische Tradierung in Werken von Janka Kupala, über Iwan Melesch bis Artur Klinaŭ viele Belarussen selbstironisch identifizieren können.
So auch Andrus Horvat: Gleich im zweiten Satz von "Radio Prudok" ist von einem erotischen Traum mit einer gewissen Hanna Tscharnuschka die Rede. Hier wissen die belarussischen Leser sofort Bescheid, kennt doch jeder die Figur der Hanna, neben Wasil Dsjatlik eine der Hauptcharaktere der Romantrilogie. Denn die Trilogie gehört zum festen Bestandteil des Schulbuchkanons in Belarus, es kursieren zahlreiche Redewendungen und Anekdoten aus dem Werk, die Verfilmungen sind fest im visuellen Gedächtnis verankert. Die beiden Protagonisten sind miteinander verstrickt in einer unglücklichen Liebesgeschichte, zerrieben im Widerstreit zwischen Anbiederung an die neue sowjetische Staatsmacht und Widerstand gegen die Unterdrückung der Bauern.
Horvats Referenz an Meleschs Hanna ist bescheidener Natur: Denn im Traum darf sich sein Ich-Erzähler mit Hanna zwar immerhin küssen, doch zeigt sie ihm nur einen weniger aufregenden Körperteil als vielleicht erwartet:
"Das Knie der Tscharnuschka, das ist ein echter belarussischer erotischer Traum."
Wenn auch nur das Knie, so gibt sich der Belarusse damit durchaus zufrieden, so könnte man die Andeutung hier lesen. Das ist Horvats Liebeserklärung an den belarussischen "Menschen im Sumpf".
Die Figur des Aussteigers
In "Radziva Prudok" ist der kanonischen Figur der Hanna die Figur des Aussteigers als Gegenkanon zur Seite gestellt: Der Aussteiger Horvat entzieht sich aktiv und eben nicht schicksalsergeben den ihm unbehaglich gewordenen gesellschaftlichen Mechanismen. Die Suche nach einer alternativen, nicht auf Berufserfolge hin optimierten Lebensform, die Stadtflucht als Weg zu sich selbst, macht ihn zum klassischen Downshifter. Bereits der erste Satz des Buches ist in dieser Hinsicht ein Statement:
"Chatschu byz dwornikam" – "Ich möchte Hausmeister sein", heißt es da und prompt arbeitet er kurz darauf als Hausmeister (dwornik) im Kupala‑Theater, glücklich, diesem Understatement-Job einer Karriere als Journalist den Vorzug zu geben.
Unter den Einengungen des Lukaschenka-Regimes ist allein schon dieser Schritt ein kleiner, aber entschiedener Akt des Widerstands. Denn Horvats Downshifting‑Impulse fallen aus der Perspektive des Regimes in das Raster dessen, was in jüngster Zeit unter dem sogenannten "Schmarotzergesetz" mit empfindlichen juristischen und finanziellen Strafen geahndet wird. Das Gesetz, im April 2015 von Lukaschenka als Dekret Nr. 3, zur "Vorbeugung der sozialen Abhängigkeit" erlassen, richtet sich gegen belarussische Staatsbürger, die über kein geregeltes Einkommen verfügen – es betraf also vor allem sozial Schwache, ältere Menschen, Selbständige und Künstler.
Die landesweiten Proteste des Jahres 2017 gegen dieses Gesetz sind bei Horvat nicht Teil der Handlung, wohl aber bleiben potentielle Bedrohungen des repressiven Staats stets präsent. So zum Beispiel, wenn der Erzähler selbstbewusst die Anwerbungsversuche für eine Arbeit im Präsidentenpalast ablehnt oder wenn er die reale Angst vor Bestrafung durch den Staatsapparat für das Hören der Musik von Ljawon Wolski beschreibt, der Ikone der alternativen Musikszene und Protestkultur in Belarus. Die Verweigerungshaltung und schließlich die Stadtflucht selbst sind vor diesem Hintergrund mehr als ein Akt des sozialen Rückzugs: Sie sind ein Akt des Widerstands gegen die Degradierung als so genannter 'Schmarotzer':
"Das Dorfhaus, das Großvater gebaut hat, verfällt. Ich gehe hin und her in teuren Stiefeln aus Białystok. Im Frühling kehre ich mit dem Vogelzug der Kraniche nach Polesien zurück und werde hier leben. Ich kann ja nicht das ganze Leben Hausmeister sein!
Im Winter ist es physisch leichter, ein Schmarotzer in einem Dorf zu sein als ein Hausmeister in Minsk."
"Zhyzze bol. A ja darmajed" – "Das Leben ist Schmerz. Ich bin ein Schmarotzer." Nicht zufällig taucht im Text der Satz öfter auf. Doch schnell wird klar: Horvat untergräbt mit Freude das moralische Stereotyp von der sozialen Unzulänglichkeit des sogenannten "Nichtstuers", er stellt ihm prompt die Schilderungen des mit Haus- und Hofarbeiten eigentlich permanent beschäftigten Aussteigers entgegen. Ironischerweise unterläuft er aber die Ernsthaftigkeit dieser Tätigkeiten selbst, indem er die Beschreibungen mit jener Floskel beginnen lässt, die in sowjetischen Zeiten üblicherweise vor der Ausstrahlung ideologischer Lieder in Radio- oder Fernsehsendungen ertönte: "Auf vielfachen Wunsch der Arbeiter hören wir nun…". In der Wendung bei Horvat heißt es stattdessen zum Beispiel "Auf vielfachen Wunsch der Arbeiter und Schmarotzer erzähle ich: wie man Wäsche einweicht". Der eigentliche Witz in Horvats fröhlichem Spiel mit dieser sprachlichen Wendung liegt darin, dass ihr umgangssprachlich eher die Bedeutung einer unsinnigen Tätigkeit anhaftet.
Belarussisches Gesetz gegen "Schmarotzer"
Das unter Lukaschenka erlassene 'Schmarotzergesetz' ist allerdings keine Neuerfindung. Gesetze gegen sogenannte Schmarotzer haben eine lange sowjetische Tradition im Zusammenhang mit dem Vorgehen des Staates gegen das so genannte "tunejadstwo", die "parasitäre Nichtstuerei": Entsprechend des 1961 eingeführten Dekrets im sowjetischen Strafgesetzbuch galt das "tunejadstwo" bis 1991 als 'Tatbestand' der Arbeitsverweigerung und damit als Strafsache. Zahlreiche Intellektuelle, Künstler und Dissidenten wurden nach diesem Gesetz schon zu Sowjetzeiten verurteilt. Aus diesem Kontext stammen die typischen Hilfsjobtätigkeiten, die uns aus den sowjetischen und postsozialistischen Literaturen so vertraut sind: Jobs als Hausmeister, Nachtwächter, Heizer etcetera bewahrten viele dissidentische Autoren und Künstler vor Bestrafung und ließen doch Freiraum genug für die schöpferischen Tätigkeiten. Hieran knüpft Horvat an.
Die 'Flucht' aufs Land ist auch von anderen Akteuren des Minsker Kulturlebens bekannt. Der Architekt, Fotograf und Schriftsteller Artur Klinaŭ beispielsweise gründete vor einigen Jahren das Künstlerdorf Kaptaruny. Im äußersten Norden des Landes, an der Grenze zu Litauen gelegen, ist es zu einem wichtigen Anziehungspunkt für Intellektuelle geworden – ein Ort der Begegnung, ein Raum des freien Austauschs fernab des hauptstädtischen Machtzentrums Während es Klinaŭ eher um einen gemeinschaftlichen kulturellen Akt der Demokratisierung und interkulturellen Öffnung der belarussischen Kultur geht, steht bei Horvat das persönliche Projekt der Selbstfindung im Vordergrund. Die Leser:innen werden Zeugen eines mentalen Wandlungsprozesses: Er entdeckt das Leben im Kleinen, die kontemplative Konzentration auf das 'Wesentliche', unmittelbar vor einem Liegende als seine persönliche Form des Glücks:
"Und der Himmel! Welch ein Himmel hier. Ganz für umsonst. Der Kosmos ist so nah."
Doch, ob Dörfler in der Stadt oder Städter im Dorf – mit welcher Rolle sich zu identifizieren sei, auf diese Frage findet sich letztlich auch für Horvat keine Antwort, zu groß bleibt der Antagonismus zwischen dem Bedürfnis nach Teilhabe am kulturellen urbanen Leben und der Sehnsucht danach, dem wiederentdeckten Landleben treu zu bleiben.
"Ich wünschte, dass es im Wald einen geheimen Pfad nach Minsk gäbe. Damit man auf ihm zu den Menschen mit höherer Bildung gehen könnte, die nicht das Gespräch mit der Frage beginnen 'Hast du dies oder das?' Damit da Cafés und Prospekte mit sauberen Pflastersteinen wären und Konzerte von Ljawon Wolski, das GUM und das ZUM. Aber dass es auch Prudok gäbe, das Haus, die Hühner, die Ziege. Vielleicht habe ich zwei Seelen. Vielleicht ist das der sogenannte innere Konflikt. Der Konflikt kam zu mir, wir haben Kaffee gekocht und überlegen, wie wir mich nun zusammenkleben können."
Annäherung an kulturelle und familiäre Wurzeln
Entscheidend für das persönliche Projekt der Selbstfindung ist für Andrus Horvat vor allem eins: Die Annäherung an seine kulturellen und familiären Wurzeln: In das polesische Dorf ziehen und nach Minsk zurückkehren könne man nur, wenn man ein Stück heimatlicher Erde mitnehme, heißt es an einer Stelle. Eine Annäherung an die Herkunft vollzieht er so auch, in dem er sich mit den teils vergessenen Lebensgeschichten seiner Vorfahren wieder vertraut macht.
Sie ziehen sich in Spuren durch die episodische Textlandschaft des Buches: Die Lebensgeschichte von Horvats Urgroßvater, der das ererbte Haus einst baute und der in der Stalin-Zeit als "Kulake" hinter den Ural deportiert wurde, ist nur eine davon. Ein entscheidender Faktor für die Wiederannäherung an die eigenen Wurzeln ist zudem die Sprache: Zu Beginn des Textes entscheidet er sich, Belarussisch mit seiner kleinen Tochter zu sprechen. Am Ende ist klar: Das sprachliche 'Wie' der Erzählungen über die Mikroereignisse in der Region ist viel wichtiger als das 'Was' der großen Geschichtsnarrative.
"Ich habe zufällig in eine Fernsehsendung über Amerika und Russland reingesehen. Die Journalistin sagt: Weswegen lieben Sie Amerika? Die Amerikanerin: Amerika ist ein freies, demokratisches Land mit einer großen Geschichte. In Russland: Weshalb lieben Sie Russland? Russland ist ein großes Land, das Land Puschkins und Dostojewskis. Der Engländer sagt: Ich liebe England, das ist ein großes Land. Der Franzose: Ich liebe Frankreich, es ist ein großes Land. Der Deutsche: Ich liebe Deutschland, es ist ein großes Land. Ich sage: Ich liebe Belarus, weil ich hier mit Wowa Sajtschikaŭ ein Geheimnis vergraben habe. Wir haben es tief unter dem Ahornbaum vergraben. Das Geheimnis liegt immer noch da. Wowa ist schon gestorben und das Geheimnis liegt trotzdem noch da. Alle Länder sind großartig. Aber mein Geheimnis ist nur in Belarus vorhanden. Und die Sprache. Ich werde die [belarussische] Sprache immer lieben, auf der man 'd' wie 'ds' ausspricht und mit einem harten 'r' sagt: 'Nje dury mne galavu' ['Mach mich nicht wahnsinnig']. Ah, und wieder ist es pathetisch geworden."