Seinen 2018 geschriebenen Essay im Auftrag der Boris Nemtsov-Stiftung für die Freiheit hat Maksim Goriunov für den Deutschlandfunk aktualisiert. In der Neufassung hat er die universellen sowie politischen Motive und die nationalen Besonderheiten in Belarus neu eingeordnet.
Maksim Goriunov, geboren in Uman, Ukraine. Abschluss an der Philosophischen Fakultät der Lomonossow-Staatsuniversität Moskau. Seit 2018 ist er ständiger Co-Präsident der Sendung "IDEA X" im Europäischen Radio für Belarus. 2020 wurde auf der Grundlage des Programms das Buch "Die belarussische Nationalidee: 85 Interviews über das, was Belarus ist und wer die Belarussen sind" veröffentlicht.
Belarus - Texte und Stimmen
Eine Reihe in sieben Teilen
- Über Minsk (20.12.2020)
- Stadt, Land, Widerstand - das Phänomen Andrus Horvatelarus (25.12.2020)
- Swetlana Alexijewitsch: "Ich sah plötzlich ganz andere Menschen" (26.12.2020)
- Der Gefangenentransporter Awtosak (27.12.2020)
- Die Frage der Nation (01.01.2021)
- Eine Art Zivilisationsrevolution (03.01.2021)
- Die mutigen Frauen in Kunst und Politik (10.01.2021)
Wie viele Intellektuelle der jüngeren Generation ist auch Maksim Goriunov Anhänger von Thesen Valentin Akudowitschs. Er nennt ihn "Patriarchen der belarussischen Philosophie". Über Akudowitschs Buch "Der Abwesenheitscode" haben wir in dieser Sendereihe bereits gesprochen. Das finden Sie online in der Dlf-Audiothek. Im Sinne von Akudowitsch geht es um die Idee eines Staates mit freien und gleichen Bürgern.
Wie sieht es aus, wenn Maksim Goriunov darüber nachdenkt, die jüngere Generation im Blick? 2018 nahm er an einer Tagung zum Zukunftsbild der neuen Generation der Boris-Nemtsov-Stiftung für die Freiheit teil. Seinen damals formulierten Essay über die gesellschaftliche Entwicklung in Belarus hat Maksim Goriunov für den Deutschlandfunk neu aufgesetzt:
Belarus
Belarus tauchte urplötzlich und gleichsam aus dem Nichts in den weltweiten Massenmedien auf. Weder internationale Experten noch solche innerhalb des Landes hatten erwartet, dass das belarussische Volk, das Alexander Lukaschenko fünfmal nacheinander gewählt hatte (beim ersten Mal im zweiten Wahlgang), plötzlich entscheiden könnte, dass das Land reif sei für Veränderungen. Alle waren davon ausgegangen, dass die Menschen in Belarus und Lukaschenko eine starke Beziehung zueinander hätten und dass die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 genauso ruhig verlaufen würden wie die Wahlen im Jahr 2015. Als im August 200.000 Bürger in Minsk auf die Straße gingen, schrieben viele, dass ein politisch aktiver Belarusse ein neuer "schwarzer Schwan" sei.
Trotz der Überraschung gab es zunächst keine Diskussionen darüber, warum der Wunsch der Bürger von Belarus, frei zu leben, seit 30 Jahren nicht mehr gehört worden war. Der Etikette folgend begegnet man Belarus als einem weiteren unbekannten, aber vielversprechenden Land Osteuropas vorsichtig und voller Optimismus.
Wenn wir uns nicht in die Vergangenheit vertiefen und nur die aktuellen Aktivitäten junger Menschen und der Diaspora betrachten, dann sieht Belarus tatsächlich wie ein Land mit guten Perspektiven aus.
Die Medien heben oft die beeindruckende Sauberkeit und den gesetzestreuen Gehorsam der Demonstranten hervor.
Wenn die Belarussen nach den Kundgebungen nach Hause gehen, räumen sie ihren Müll hinter sich auf. Sie spenden in Rekordzeit riesige Summen, um den Opfern der Behördenmaßnahmen zu helfen. Die Nachricht darüber, dass die Belarussen innerhalb von einer Woche zwei Millionen Pfund für diejenigen sammelten, die wegen ihres bürgerlichen Engagements entlassen wurden, stand in vielen Zeitungen.
Wie Leo Tolstoi in seinen Predigten gefordert hatte, dass man Böses nicht mit Bösem vergelten dürfe, so verzichten sie beharrlich auf eine Erwiderung der durch die Polizei ausgeübten Gewalt. Bis Ende November 2020 kamen 14 Teilnehmer der Proteste zu Tode. Keiner von ihnen wurde jedoch bei Rangeleien getötet. Die meisten wurden auf barbarische Weise entführt und von anonymen schwarzgekleideten Männern zu Tode geprügelt.
Ohne ins Detail gehen zu wollen: Die Wahlen in Belarus gewann wieder einmal eine Frau, Svetlana Tichonovskaja, eine Englischlehrerin, die als Kind lange in Irland gelebt hat. Die Fotos mit ihren Mitarbeiterinnen Veronika Tsepkalo und Svetlana Kolesnitschenko ähneln frappierend dem aufsehenerregenden Foto des finnischen Kabinetts mit der Premierministerin, der Finanz-, Innen-, Bildungs- und der Justizministerin im Dezember 2019. Svetlana Tichonovskaja ist 38 Jahre alt und Sanna Marin, die finnische Ministerpräsidentin, ist 35.
Vergleicht man ihre Fotos, kommt man leicht zu dem Schluss, dass es sich bei Belarus um eine hochentwickelte Gesellschaft mit der Tendenz zu Gleichheit und Freiheit handelt.
Andererseits ist es schwer nachzuvollziehen, wie eine so hochentwickelte Gesellschaft seit 26 Jahren von einer so grobschlächtigen Figur wie Lukaschenko regiert wird. Zum Beispiel hat er sich nicht davor gescheut, einen der Präsidentschaftskandidaten öffentlich als "Eber", seine Frau als "Sau" und ihre totgeborenen Kinder als "Ferkel" zu bezeichnen:
"Die Qualität der Ferkel hängt nicht nur von der Sau, sondern auch vom Eber ab."
Das Video, auf dem er dies sagt, wurde von seiner Administration veröffentlicht.
Die Einschätzungen der Experten außerhalb von Belarus lassen keine Antwort auf diese Frage erkennen. In den meisten Fällen betrachten sie Lukaschenko als einen Fehlgriff und vergleichen salopp, was in Minsk vor sich geht, mit Polen zu Beginn der achtziger Jahre, mit der Ukraine nach der Jahrtausendwende, mit Rumänien Ende der achtziger Jahre und sogar mit dem, was zur Zeit in Hongkong passiert, wobei sie das verbindende Element in der Rolle von Messenger-Diensten bei der Kommunikation zwischen den Protestierenden sehen.
Im Inneren von Belarus herrschen gänzlich andere Meinungen vor.
Auch drei Monate nach Beginn der Massenproteste weigern sich viele belarussische Experten zu glauben, dass dies tatsächlich in Belarus geschieht und nicht in irgendeinem anderen Land.
Die vielen jungen Männer und Frauen mit weiß-rot-weißen Flaggen verwirren sie völlig. Und die Nachricht, dass die Belarussen eng mit der Diaspora vernetzt sind, die die Proteste unterstützt, erstaunt sie.
Dies betrifft vor allem die "alte Garde". Lukaschenkos Herausforderer bei den Präsidentschaftswahlen 1994, Zenon Poznjak, glaubt so wenig an die Aufrichtigkeit des Geschehens, dass er bei den Kundgebungen die Hand Moskaus im Spiel sieht und vermutet, dass sich Belarus dadurch noch tiefer in die Fänge der Russischen Föderation begibt. Zwei ehemalige Präsidentschaftskandidaten aus den Jahren 2010 und 2006, der Rechtsanwalt Ales Michalewitsch und Professor Alexander Kozulin, weigern sich rundheraus, mit den Medien zu kommunizieren und die Geschehnisse zu kommentieren.
Ratlosigkeit
Der Grund für die Ratlosigkeit der Experten liegt in der seit Jahrzehnten andauernden politischen und sozialen Apathie des belarussischen Volkes.
Noch zu Beginn dieses Jahres schien es den Belarussen vollkommen gleichgültig zu sein, wer sie regiert und wie. Dafür gab es zahlreiche Beispiele.
Im Frühjahr 2020 fand sich Lukaschenko in den Schlagzeilen buchstäblich aller Medien dieses Planeten wieder, als er sich weigerte, die Gefährlichkeit von COVID‑19 anzuerkennen, und Wodka und die Feldarbeit auf einem Traktor als Medizin dagegen empfahl. Viele Experten behaupten, diese Empfehlungen hätten ihn seine Karriere gekostet. Das Problem besteht darin, dass er schon früher nicht weniger extravagante Erklärungen abgegeben hat, doch die Menschen in Belarus haben bisher so getan, als sei das nicht ihr Präsident und nicht ihr Land.
Im Juni 2017 ordnete Lukaschenko an, mit der landwirtschaftlichen Nutzung der nach dem Tschernobyl-Unfall verstrahlten Gebiete zu beginnen. Seiner Meinung nach sei die Strahlung verschwunden. Das staatliche Fernsehen sendete einen Bericht darüber, wie er in die Gebiete an der Grenze zur Sperrzone fuhr und Bienenstöcke, Bauernhöfe und Viehweiden inspizierte.
Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Krebsrate in diesem Land viel höher ist als in seinen Nachbarländern. In den ersten Jahren nach dem Unfall wurden Kinder ins Ausland gebracht, um sie vor der Strahlung zu schützen. Svetlana Tichanovskaja wuchs als Kind genau aus diesem Grund in Irland auf. Das schwerste Buch der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch ist den Schrecken des Strahlungstodes gewidmet.
Die Aussicht, dass bald Lebensmittel aus Tschernobyl in den Regalen stehen werden, hat die Menschen nicht auf die Straße getrieben. Es gab ein leises Gemurmel in den sozialen Netzwerken und die Empfehlung, Lebensmittel aus relativ sauberen Gebieten in der Nähe der lettischen Grenze zu kaufen.
Im April 2019 befahl Lukaschenko, die Gedenkkreuze von den Orten der stalinistischen Massenhinrichtungen auf dem Kuropaty-Gelände bei Minsk zu entfernen. Verschiedenen Berichten zufolge wurden hier mehr als 30.000 Menschen hingerichtet. Das Ausmaß der Repression wird durch die Tatsache erhärtet, dass 10 von 10 Führern der Zwischenkriegszeit in Belarus hingerichtet wurden. Im Jahre 1988 wurde erstmals in einem Artikel der Zeitung "Literatur und Kunst" darüber berichtet, warum in diesem Wald so viele menschliche Knochen gefunden werden. Das Vorwort zu diesem Artikel schrieb Vasil Bykov, einer der angesehensten Schriftsteller in Belarus. 1994 besuchte der US-Präsident Bill Clinton das Kuropaty‑Gelände. Lukaschenko behauptet, dass es keine stalinistischen Hinrichtungen gab. Sein ehemaliger Innenminister, Igor Schunewitsch, trug an staatlichen Feiertagen die Uniform eines NKWD-Kommissars.
Im Dezember 2019 flog Lukaschenko zu Vladimir Putin nach Sotschi, um Verhandlungen über eine neue Etappe der "tiefen Integration" von Belarus in die Russische Föderation zu führen. Vor dem Hintergrund der Besetzung der Krim, des fortdauernden Krieges im Osten der Ukraine und der toxischen Kolonialpropaganda in den russischen Medien, die auch in Minsk empfangen werden, gab es viele Gerüchte darüber, dass Lukaschenko dahin geflogen sei, um "das Land zu übergeben". Seine Regierung hat mit ihren ungeschickten Kommentaren die Situation nur verschärft. Aus Angst vor dem Verlust der Souveränität rief der Oppositionelle Pavel Severinets die Bürger auf, sich auf dem Platz zu versammeln: Fünf- oder sechshundert Menschen kamen. Sie liefen mehrere Stunden lang durch das finstere und halbleere winterliche Minsk und gingen dann wieder auseinander. Einige Wochen später erhielt Severinets eine Vorladung vor Gericht. Nur wenige Menschen kamen, um ihn zu unterstützen.
Da man Dutzende solcher Beispiele kannte, fiel es schwer sich vorzustellen, dass dieselben Leute eines Tages beschließen würden, dass es jetzt reicht. Man hätte eher annehmen können, dass sie weiterhin ihre wunderliche Anpassung demonstrieren würden.
Die Europäische Union ist immer in der Nähe
Belarus liegt an der Schwelle zur EU. Die Belarussen selbst glauben, dass sich Europa bis zum Ural erstreckt und dass sie daher in seinem Zentrum leben.
Belarus grenzt an drei EU-Staaten. Von Minsk bis zur nächsten Hauptstadt eines EU‑Staates, Vilnius, sind es zwei Stunden mit dem Schnellzug. Hinzu kommt eine Stunde Abfertigungszeit beim behäbigen litauischen Zollbeamten. Der Weg nach Riga und Warschau dauert zwar etwas länger, doch nur unwesentlich.
In Vilnius haben die Bürger von Belarus nicht das Gefühl, dass sie in einer fremden Stadt sind. Litauen und Belarus haben eine gemeinsame Geschichte im Großherzogtum Litauen. Das litauische und das belarussische Wappen (bis zu Lukaschenko) – ein Reiter auf einem springenden Pferd – unterscheiden sich nur im Detail: Beim litauischen Pferd zeigt der Schweif nach oben, beim belarussischen nach unten.
In den belarussischen Medien finden sich regelmäßig Texte des Inhalts, dass die Hauptstadt von Belarus auch das barocke Vilnius statt des konstruktivistischen Minsk hätte sein können, wenn die Geschichte zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein wenig anders verlaufen wäre. Solche Texte haben nicht zum Ziel Grenzen neu zu definieren, sie werden vielmehr als historische Anekdoten präsentiert.
Im Zentrum von Vilnius gibt es viele Gedenktafeln mit den Namen belarussischer Dichter und Politiker. Eine der ersten Zeitungen in belarussischer Sprache, "Nascha Niva" (Unsere Flur), wurde 1906 in Vilnius gegründet. Bis zur Einstellung 1912 wurden eine Million Exemplare verkauft. Für die Belarussen war es die erste Erfahrung mit einem großen Medium in ihrer Sprache. Die Zeitung wurde 1991 kurz nach dem Zusammenbruch der UdSSR ebenfalls in Vilnius wiederbelebt. Die "Nascha Niva" existiert heute noch, ihre Journalisten wurden kürzlich bei Protestaktionen festgenommen.
Es gibt keine Billigflüge von und nach Minsk: Lukaschenko schützt seine Fluggesellschaft sorgsam vor Konkurrenz. Ohne sich mit Lukaschenko anzulegen, nutzen die findigen Belarussen den Flughafen von Vilnius, von dem es günstige Flüge gibt. Sogar jetzt, während der Epidemie und der Sanktionen, fährt ein Bus von Minsk nach Vilnius mit Zwischenstopp am Hauptflughafen in Litauen, den die Belarussen scherzhaft "Minsk 3" nennen (der derzeitige nationale Flughafen von Belarus heißt "Minsk 2").
Blutiges Land, durch Strahlung verseucht
Nach allgemeiner Meinung hängen die Eigenheiten der Belarussen, ihre Apathie, Reserviertheit und Passivität, mit ihrer äußerst traurigen Geschichte zusammen. Die Menschen von Belarus begaben sich viel später als alle anderen in dieser Region in die Städte, in die Neuzeit.
Zur Zeit der Romanovs war dies die ärmste Region im Westen ihres Reiches. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts lebten die Belarussen weit entfernt von den Städten, auf Bauernhöfen, getrennt voneinander. Der sumpfige Boden im Norden warf trotz harter Arbeit nur wenig Getreide ab. Die Belarussen lebten in größerer Armut als ihre Nachbarn und konnten oft weder lesen noch schreiben. Es gab in Belarus keine Universitäten, keine Fabriken und kein weitverzweigtes Eisenbahnnetz.
Für Belarus waren die beiden Weltkriege zwei große humanitäre Katastrophen.
Während des Ersten Weltkriegs flohen als Folge des rücksichtslosen Wütens der Armee von Nikolaus II. etwa zwei Millionen belarussische Bauern bis tief ins Innere des Russischen Reiches. Die von zu Hause mitgenommenen Vorräte gingen schnell zur Neige und Pläne für eine Evakuierung sowie Flüchtlingslager wurden nicht schnell genug in die Tat umgesetzt. Die Forscherin Aneta Prymaka-Oniszk schreibt in ihrem Buch "Bieżeństwo 1915. Zapomniani uchodźcy" (Die Flucht von 1915. Die vergessenen Flüchtlinge), dass im Spätherbst 1915 die nach Osten führenden Straßenränder mit frischen Gräbern übersät waren.
In Timothy Snyders berühmtem Buch "Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin" (Blutige Länder: Europa zwischen Hitler und Stalin) bildet Belarus, in dem jeder dritte Einwohner starb, das Zentrum der blutigen Länder.
Die beschleunigte Industrialisierung und Urbanisierung nach dem Krieg führten zu einer massiven Umsiedlung in die Stadt. In den 1960er-Jahren war Minsk die am schnellsten wachsende Stadt des Ostblocks. Heute leben zwei Millionen Menschen in Minsk, was bedeutet, dass es nach dem Krieg um das 27-fache gewachsen ist.
Mit dem Umzug in die auf Ruinen errichtete sowjetische Industriestadt wurden die Bindungen zwischen den Menschen, die auch so schon durch die beiden Katastrophen geschwächt waren, noch spärlicher.
Und am Ende der sowjetischen Ära machte die Tragödie von Tschernobyl die Gebiete im Süden des Landes unbewohnbar. In den ʹ70er-Jahren gab es von den Städten an den Ufern der Nebenflüsse des Dnjepr morgens Wassertaxis nach Kiew. An einem einzigen Tag konnte man in der Hauptstadt der Ukraine die berühmte Kiewer Torte kaufen und abends auf dem Fluss nach Hause zurückkehren. Heutzutage garantiert eine solche Reise fast eine gefährliche Strahlendosis.
Bauernschläue vs. Nationalromantik
Auch heute noch leben die Belarussen in größerer Armut als ihre Nachbarn. Seit 2008 verspricht Lukaschenko, das Durchschnittsgehalt auf bis zu 500 Dollar pro Monat anzuheben: "Das ist eine heilige Zahl", bekräftigt er. Während der vergangenen zwölf Jahre gelang es ihm, diese "heilige Zahl" zwei- oder dreimal zu erreichen; es gibt den Verdacht, dass dies nur mit Hilfe von Manipulationen in der Statistik möglich war. Zum Vergleich: Das Durchschnittsgehalt im estnischen Tallinn liegt bereits seit vier Jahren höher als in Moskau: bei 1.800 €. In Riga antworten die lettischen Bürger auf die Frage nach ihrem "Traumgehalt" mit 3.000 €.
Am besten verdienen in Belarus die Bergleute, die in den Bergwerken in einer Tiefe von einem halben Kilometer Kalisalz abbauen. In der Stadt Soligorsk wird etwa ein Fünftel des gesamten Kalisalzes der Welt abgebaut. Das Durchschnittsgehalt eines Bergarbeiters liegt bei fast 1.000 Dollar. Ungefähr das gleiche Gehalt kann man in der Hauptstadt verdienen, in der Regel im IT-Sektor. Im riesigen Minsker Traktoren- und im Automobilwerk, die Belarus beide von der UdSSR geerbt hat, schwanken die Gehälter um geschätzte 500 Dollar. Dörfer und Kleinstädte leben in adretter sowjetischer Armut. Zeitungen enthalten oft Berichte über Melkerinnen, die weniger als 100 Dollar im Monat erhalten und von ihren Gärten leben.
Der niedrige Lebensstandard, das autoritäre Regime und die Nähe zur EU: Zu diesen drei universellen Motiven für die Auswanderung junger Menschen kommen nationale Besonderheiten hinzu. Genauer gesagt, ihre Schwäche bis hin zum Nichtvorhandensein.
Formell ist Belarus ein slawischer Staat mit einer einheitlichen Nation wie Slowenien oder die Slowakei. Der Volkszählung von 2010 zufolge bezeichneten sich 85 Prozent der Bürger als Belarussen. Gleichzeitig gaben 50 Prozent an, dass sie die belarussische Sprache beherrschen, doch nur 21 Prozent sprechen sie zu Hause.
Die Kluft zwischen der nationalen Identität und der Sprache des Alltags weist auf die Probleme hin, die die Slowenen so nicht kennen.
Der tschechische Nationalismusforscher Miroslav Hroch charakterisiert in seinem Buch "Im nationalen Interesse: Forderungen und Ziele der europäischen Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts ", die Belarussen als "verspätete Nation". Mit anderen Worten, die modernen Belarussen, die den IT-Markt aktiv beherrschen, und die slowenischen Bauern der Mitte des vorletzten Jahrhunderts haben eines gemeinsam: Sie sind weit entfernt von einer breiten politischen Solidarität, die Millionen von Teilnehmern umfasst.
Die letzte Nicht-Nation Europas
Von außen betrachtet unterscheiden sich die Belarussen scheinbar durch nichts von den modernen Slowenen. Wie diese haben die Belarussen eine anerkannte Republik, eine Verfassung, ein Parlament, eine Steuerinspektion und ein breites Netz von Museen. Wenn man die Armeen vergleicht, hat Belarus möglicherweise sogar mehr Flugzeuge, Soldaten und Panzer.
Der Unterschied besteht darin, dass die Belarussen kein oder fast kein Bewusstsein für ihre Nation haben, keinen Sinn für die Teilhabe an der politischen Gesellschaft; kein Bewusstsein für die kollektive Verantwortung für Recht und Ordnung im ganzen Land.
Alexej Marotschkin, ein bekannter belarussischer Künstler und politischer Dissident mit einem halben Jahrhundert Erfahrung, erzählt gerne, wie 1991, nach der Nachricht vom Zusammenbruch der UdSSR und der Unabhängigkeitserklärung von Belarus, eine Nachbarin zu ihm kam, die ihr ganzes Leben lang in einem Dorf im Norden des Landes gelebt hatte, und ihn fragte: "Alexej, und unter wem werden wir jetzt leben?" Die Vorstellung, dass die Belarussen unabhängig leben könnten, erschien ihr recht merkwürdig.
Auch im Ausland verhalten sich die Belarussen ähnlich, sie schaffen keine Diaspora, sondern bevorzugen die Assimilation. Der Vorsitzende der Association of Belarusians in Great Britain, Mikałaj Pačkajeŭ, beschrieb in einem Interview mit dem European Radio for Belarus, wie sich in London von Zeit zu Zeit Briten an ihn wenden, deren Eltern ihnen ihr ganzes Leben lang verschwiegen haben, dass sie aus Belarus nach England gekommen sind, und beschlossen haben, dies buchstäblich auf dem Sterbebett zu beichten. Kinder und Enkelkinder müssen nun selbst herausfinden, wer die Belarussen sind.
Waren zu Beginn der ʹ90er‑Jahre die traditionell im Osten Polens lebenden orthodoxen Belarussen so zahlreich, dass sie von Warschau kulturelle Autonomie forderten, so bitten sie jetzt darum, Spenden für ihre älteste Zeitung "Niva" zu erhalten. Neue Generationen, die in die Städte gezogen sind, ändern nicht nur ihre ethnische Zughörigkeit, sondern auch ihre religiöse, sie wechseln von der Orthodoxie zum Katholizismus. Menschen mit belarussischen Wurzeln sind sogar in lokalen polnischen ultrarechten Organisationen zu finden.
Daher leben junge Männer und Frauen in Belarus in einer brüchigen und zerbrechlichen Gesellschaft, die wenig Verständnis für die Grenzen zwischen sich selbst und den Nachbarn hat.
So wie die slowenischen Bauern vor dem "Völkerfrühling" ihre Identität nicht zu schätzen wussten und sie als Zeichen eines niedrigen sozialen Status ansahen, so suchen die Belarussen, die nicht frei sind vom kolonialen Minderwertigkeitskomplex, nach einer Möglichkeit, irgendjemand auf der Liste der entwickelten Länder zu werden.
Der Vorteil belarussischer Gefängnisse
Wir können nicht sagen, dass es für den belarussischen Pass aus Sicht der Belarussen überhaupt keine Argumente gibt. Wie der Patriarch der belarussischen Philosophie Valentin Akudowitsch scherzhaft bemerkte, sitzen dank der Souveränität seit 30 Jahren keine Belarussen mehr in sibirischen Straflagern. Die Gerichte und die Polizei in Belarus sind nicht besser als die russischen, aber die Gefängnisse sind um 5.000 Kilometer näher gerückt.
Neben der Freiheit von sibirischer Zwangsarbeit haben die Belarussen auch die Freiheit von der Teilnahme an den Kriegen erlangt, die Russland ständig führt.
Der letzte Krieg, an dem Belarussen teilnahmen, war der in Afghanistan. Von 1979 bis 1989 starben am Hindukusch bei der Erfüllung ihrer "internationalen Pflicht" 771 Belarussen. 1.500 wurden verwundet. Die Belarussen sprechen ohne jegliche Pietät von diesem Krieg. In Swetlana Alexijewitschs Buch "Zinkjungen", in dem Soldaten interviewt werden, sprechen diese von ihrer großen Enttäuschung. Auf Befehl Moskaus ihr Leben zu riskieren, um afghanische Bauern zu zwingen, Marx und Lenin statt Suren aus dem Koran zu lesen, ist keine offensichtliche oder logische Beschäftigung.
Neueste Nachrichten
Heutzutage hat die Situation völlig unerwartet den toten Punkt überwunden, doch wir sprechen über die allerersten Schritte.
Als im August Tausende von Menschen in Minsk auf die Straße gingen, fragten sich Politikwissenschaftler, wann die Demonstranten Anführer bekämen, doch die Protestierenden dachten darüber gar nicht nach. Sie waren unglaublich überrascht von der Tatsache, dass es sie gab, dass ihrer so viele waren und dass sie protestieren konnten. Es gab Momente, in denen die Menschen mit weit geöffneten Augen einfach auf die Demonstrationsteilnehmer blickten, ohne etwas zu skandieren.
Vereinfacht können wir sagen, dass sich die Belarussen im August 2020, als sie auf die Straße gingen, zum ersten Mal als Belarussen, als Teilnehmer einer politischen Gemeinschaft, als Bürger eines gemeinsamen Landes sahen. Gewöhnlich gehen solche Treffen dem Erscheinen eines neuen Staates auf der politischen Landkarte voraus. Im Falle von Belarus folgten diese Treffen dem Erscheinen des neuen Staates.
Harvard auf Belarussisch
Die Proteste dauern nun schon fünf Monate, doch niemand wagt es, andere Forderungen zu erheben als Lukaschenkos Rücktritt. Vor sieben Jahren erhob man bei den Protesten in der Ukraine die klare Forderung: "Wir wollen in die EU und in die NATO." Eine solche klare Forderung gibt es in Belarus nicht. Bei der Diskussion um die Zukunft sprachen sich die Präsidentschaftskandidatinnen vorsichtig für eine Neutralität wie in der Schweiz und den Status der Blockfreiheit aus.
Meiner Meinung nach zeichnen sich die Konturen zukünftiger Forderungen in der Reaktion auf die Vorschläge ab, die man den Studenten unterbreitet hat, die von belarussischen Universitäten aufgrund der Teilnahme an den Kundgebungen ausgeschlossen wurden, nämlich zur Fortsetzung ihrer Ausbildung in Russland oder der EU.
Die Belarussen zelebrieren als eine Gesellschaft, die erst vor relativ kurzer Zeit in der modernen Zeit angekommen ist, einen fast religiösen Kult der höheren Bildung. Wo sie studieren möchten, sagt viel über ihre politische Orientierung aus.
Angebote aus Russland sorgen in sozialen Netzwerken immer für Gelächter. Vorschläge aus der EU hingegen sind willkommen. Die Umstellung vom Diplom in russischer Sprache zum Diplom in Englisch ist relativ neu, gewinnt aber rasch an Dynamik.
Im Sommer 2018 diskutierten die belarussischen Familien heftig über Maxim Bogdanowitsch, einen 16jährigen Schüler aus Minsk, der sich eigenständig um eine Aufnahme in Harvard bewarb. Alle waren von der für einen Belarussen unglaublichen Tatkraft überrascht: Während er auf die Ergebnisse wartete, besuchte der Schüler in einem privaten Nachhilfeinstitut gebührenpflichtige Kurse seiner Muttersprache. Der junge Mann gab dem größten unabhängigen Portal von Belarus ein Interview in perfekter literarischer belarussischer Sprache.
Bis zu dieser Geschichte waren Harvard und die belarussische Sprache in den Vorstellungen der Belarussen so weit voneinander entfernt wie nur möglich. In den vergangenen 100 Jahren verlief der Weg der Belarussen von Minsk nach Harvard strikt über Moskau: indem man von der heimischen "bäuerlichen" Sprache zum Hochrussischen wechselte. Die Tatsache, dass es möglich ist, direkt von Minsk unter Umgehung von Moskau und Dostojewski nach Harvard zu gelangen, hat in vielen Köpfen eine Art "Zivilisationsrevolution" ausgelöst.
(Teil 7 am 10.01.2021)