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Belarus - Texte und Stimmen (7/7)
Die mutigen Frauen aus Kunst und Politik

Wie begeistert und beeindruckt sind die Belarussinnen selbst von dem weiblichen Gesicht ihrer Revolution? Und von den in den Widerstand gewechselten Politiker‑Ehegattinnen Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepklo? Da gehen die Meinungen weit auseinander.

Eine Demonstrantin bei einer Demonstration gegen Alexander Lukaschenko in Minsk
Eine Demonstrantin bei einer Demonstration gegen Alexander Lukaschenko in Minsk (imago images/ITAR-TASS)
Die edition.fotoTAPETA hat eine erstaunliche Flugschrift veröffentlicht, in der ausschließlich Frauen zu Wort kommen und ihre Sicht auf die gesellschaftlichen Veränderungen in Belarus beschreiben.
Sie stehen für Bilder und Texte, die uns in den sozialen Netzwerken und über die Medienberichterstattung erreichen. Aber sie unterscheiden sich vom medialen Mainstream, sie haben nochmal einen ganz eigenen Ton, verfolgen einen anderen kritischen Ansatz, eine intellektuelle Einordnung.
Olga Shparaga
Die Philosophin Olga Shparaga sollte das Vorwort für das Buch schreiben, wurde aber bei Protesten verhaftet und zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt, als das Buch in den Druck ging.
"Warum hat Swetlana Tichanowskaja diese Wahlen in vielerlei Hinsicht gewonnen? Weil Lukaschenko sie nicht ernst nahm.
Anders die Gesellschaft. Maria Kolesnikowa zerriss ihren Pass und durchkreuzte damit die Pläne der Machthaber. Die Frauen haben also erzwungen, dass man sich mit ihnen auseinandersetzt. Da für die Machthaber aber Auseinandersetzung automatisch Gewaltanwendung bedeutet, war die Antwort folgerichtig.
Ich glaube, dass Swetlana Tichanowskaja immer noch ein Spiegel ist, in den die Gesellschaft schaut und sich selbst sieht. Sie sagt: Wir sind keine Politiker, aber wir können nicht tatenlos bleiben, weil wir nicht im Autoritarismus leben wollen und können. Ihre Reaktion ist der der gesamten belarusischen Gesellschaft sehr ähnlich, die sich ebenfalls selbst überwindet und daraus Energie schöpft. Das ist großartig. Ich glaube, die Menschen haben sich selbst in ihr wiedererkannt. Vielleicht wollten die Belarusen gar nicht an diesen Wahlen teilnehmen, eine aktive Position einnehmen, aber es ergab sich eine Situation, die sie zu Protesten veranlasste: die Wahlfälschung, der Terror, den die Regierung entfachte … Die Menschen haben Angst, es ist schwierig, den Alltag und das Protestgeschehen in Einklang zu bringen, und dennoch tun sie es und kämpfen vereint.
Wir halten die belarusische Gesellschaft für patriarchal. Ja, im Moment verändert sich einiges, aber das bedeutet nicht, dass es morgen keinen Sexismus mehr geben wird und Männer sich nicht mehr herabwürdigend gegenüber Frauen verhalten. Daher ist es sehr wichtig, dass die Frauen, die das verstehen, die Feministinnen, die Frauen zusammenbringen, ihnen helfen, ihre Interessen und Probleme zu artikulieren und zu begreifen und sie darin bestärken, dass ihre Probleme eine Berechtigung haben."
Belarus: Die Feministinnen der Revolution bei Arte
Yaraslava Ananka
Über den Gesang auf den Demonstrationen in Minsk wurde bereits viel berichtet. Eine belarussische Gesangsstunde der Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Yaraslava Ananka
"Das erste Lied ertönte wohl am 12. August, als barfüßige und weiß gekleidete junge Frauen auf einen der zentralen Minsker Plätze gingen und dort ein Wiegenlied sangen: Es war Kalychanka, ein belarusisches Lied, welches die abendliche TV‑Show für die ganz Kleinen beendet. Für einige erklang diese Performance verzweifelt in ihrer aufrichtig berührenden Intention, zur Beruhigung und zum Ende der Gewalt aufzurufen. Andere hörten in diesem Schlaflied ein rührendes Trauerlied über das erste Opfer: In der Nacht zuvor hatte das Innenministerium mitgeteilt, dass einer der Demonstranten an seinen Verletzungen gestorben sei; später wurde bekannt, dass es sich um Aliaksandr Taraȷ̆koŭski handelte. Auf jeden Fall war es die erste spontane Gesangsaktion, welche selbst die von der eigenen Gewalt und Straflosigkeit vertierten Sicherheitskräfte nicht zu zerstreuen wagten. Danach sang man mutiger und strenger, und zwar nicht nur während der geplanten Volksmärsche, sondern auch im Verlauf spontaner Aktionen.
Die einen Lieder kennt und singt man mehr, die anderen weniger. Es gibt jedoch ein Lied im Protestrepertoire, das jeder Belaruse aus dem Gesangsunterricht in der Schule kennt, ein Lied, das noch nie zuvor Protestkonnotationen hatte und das zur Überraschung vieler zu einem der Leitmotive des Sommers und frühen Herbstes 2020 sowie zu einer spontanen Hymne des friedlichen Frauenprotests avancierte: Kupalinka.
Zum Etikett friedlich protestierender Frauen und Männer, welche Kupalinka singen, kamen später rührende Videos hinzu, in denen belarusische Demonstranten ihre Schuhe ausziehen, bevor sie sich auf Bänke stellen, nach ihren Aktionen den Müll aufräumen und während der Protestmärsche vorsichtig die Straße nur bei Grün überqueren. Zu selten und zu zurückhaltend wurden diese (Selbst-)Bilder kritisiert, auch wenn es mehrere Gründe dafür gab: Zu sehr kommunizieren sie Fügsamkeit und Demut, empörend pauschalisierend etwa auch die Geste der Verzeihung, als junge Frauen Polizisten und Soldaten küssten und ihnen Blumen schenkten ebenso wie der Mangel an Gegenwehr bei den Festnahmen und an rhetorischer Härte der Slogans. Es entstand außerdem eine Intonation, die an Selbstgefälligkeit grenzte, die wohl Maria Kolesnikowa unwillkürlich mit ihrem Spruch initiierte, der schnell zu einem geflügelten Wort wurde: 'Wir, Belarusen, wir sind unglaublich!'
Das Kupalinka-Singen ergänzte dieses Bild. Fairerweise soll hier angemerkt werden, dass jeder Massenkonsolidierungsprozess in gewissem Maße von kitschigen Elementen begleitet wird. Milan Kunderas berühmte Passage über Kitsch aus der Unerträglichen Leichtigkeit des Seins hat auch in Bezug auf die Frauenproteste in Belarus ihre Gültigkeit: An sich ist eine Träne der Rührung, die beim Anblick von barfüßigen jungen Frauen, welche Kupalinka singen, vergossen wird, noch kein Kitsch, so meine Paraphrase von Kundera. Erst die zweite, narzisstische Träne ist kitschig: Wie schön und süß ist es doch, Kupalinka singende Frauen zu beobachten."
Iryna Herasimovich
Iryna Herasimovich hat in Deutschland bereits einen Namen – die Kulturmanagerin übersetzte zahlreiche deutschsprachige Autor*innen ins Belarussische, darunter Michael Kumpfmüller, Lukas Bärfuss und Ilma Rakusa.
"Eigentlich ist es für mich noch zu früh zum Schreiben, ich würde gerne Feldforschungen betreiben, beobachten und fixieren, was ich sehe und fühle. Im Moment ist es gar nicht so selbstverständlich festzuhalten, was man wirklich fühlt. Immer wieder bekommt man tolle Bilder und Videos zu sehen, in denen alles so klar ist: da die Bösen, die Dunklen, die Verkörperung der Gewalt und Dummheit, hier die Reinen und Guten, alles entweder schwarz oder weiß-rot-weiß, 'keine Schattierungen dazwischen', wie es in einem der Protestlieder heißt. Und man atmet erleichtert durch, in den ersten Sekunden zumindest, dann kommen Fragen und Zweifel hoch, gleich von der Scham begleitet, wie kann ich es nur wagen, das Gute und Schöne zu hinterfragen. Es ist doch so klar: da die maskierten Männer, hier die weißen, barfüßigen Frauen mit Blumen, die 'für ihre Männer' auf die Straße gehen. Darf man denn überhaupt hinterfragen, welches Frauenbild dadurch vermittelt wird, ob dieses Bild nicht die bereits bestehenden patriarchalen Strukturen festigt? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht erst später. Vielleicht aber gerade jetzt. Ich weiß es nicht.
Ist es okay, wenn man die weiß-rot-weiße Fahne zwar ästhetisch schön findet und als sichtbaren Ausdruck des Protests sehr anziehend, aber sie nicht gerade überall um sich herum haben will? Fahnen lassen mich nämlich grundsätzlich ziemlich kalt.
 MINSK, BELARUS - OCTOBER 18, 2020: An opposition supporter holds a sign with a message reading University students are heroes of Belarus during an unauthorised march in Partizansky Prospekt Street. Since the official results of the 2020 Belarusian presidential election results were announced on 9 August, mass protests by opposition activists and supporters have been taking place in cities across Belarus. Natalia Fedosenko/TASS PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY TS0EB4D7
Aufstand in Belarus - „Wir haben uns vor diesem Sommer nicht gekannt"
Dieser Spruch war immer wieder auf Plakaten in Minsk zu lesen. Nur wenige Monate vorher bei einer Recherchereise Mitte März 2020 erlebte die Autorin noch überall die völlige Ohnmacht der Menschen gegenüber dem Staatsapparat.
Ich kann mir nicht vorstellen, irgendeine Fahne um die Schultern zu tragen. Gehöre ich dann immer noch zu den erwachten Belarusen? Gehöre ich dann zu diesem Wir, das siegen soll? Ich wünsche mir im Moment nichts sehnlicher, als dass wir siegen, komme aber nicht umhin, daran zu denken, wer denn genau dieses Wir ist und was 'siegen' bedeutet.
Ich kenne in Bewegung geratene Räume aus meiner Arbeit als Übersetzerin und weiß, wie gefährlich es sein kann, das scheinbar Offensichtliche nicht gründlich nach Bedeutungen und Konnotationen abgeklopft zu haben. Es kann sein, dass das Offensichtliche viel mehr Sinnschichten aufweist, als auf den ersten Blick sichtbar waren. Dann muss man zurück und von neuem im ganzen Text überprüfen, ob man alle Bedeutungen eingefangen hat. Und selbst dann ist man unsicher, ob man alles weiß. [...]
Derzeit fürchte ich mich vor Menschen, die genau zu wissen scheinen, was in Belarus passiert, wie gehandelt werden soll und was weiter kommt. Solche Menschen verteidigen ihre Ansichten oft ziemlich hart. Das gesicherte Wissen scheint nur in einem von jedem Hinterfragen gereinigten Raum überlebensfähig zu sein. Das vermeintliche Wissen, wer wie ist, führt dazu, dass es inzwischen gar nicht viel braucht, um das Label 'Lukaschist' oder 'Lukaschistin' angehängt zu bekommen. Es reicht schon, irgendwelche Aussagen oder Handlungen der Führerinnen oder Führer der Opposition in Frage zu stellen. Das ist mir auch schon passiert, als ich zum Beispiel kritisierte, dass Swetlana Tichanowskaja von dem 'weisen Moskau' spricht und nicht mit Fragen über die Krim gequält werden möchte. Ja, ich habe ihr meine Stimme als Protestkandidatin gegeben, die nichts als Freilassung der Gefangenen und Neuwahlen forderte. Dies unterstütze ich voll und ganz, aber darf ich mich jetzt etwa von keiner ihrer Äußerungen irritieren lassen?
Wenn man nichts hinterfragt, landet man doch ganz schnell auf dem gefährlichen Feld der einfachen und eindeutigen Antworten, die auch Lukaschenko seinerzeit der Gesellschaft angeboten hatte. Der Gesellschaft, die von der Wende und der auf sie eingestürzten Freiheit geplagt worden war, von der Offenheit eben und dem Unwissen, was richtig ist und was nicht. Da kam der vermeintlich starke Mann, einer aus dem Volk, der genau wusste, wer schuldig ist und bestraft werden sollte. Das scheint er bis heute zu wissen, nur dass die Gesellschaft aus dem Prokrustesbett seiner 'väterlichen' Sorge dermaßen herausgewachsen ist, dass es nicht mal ausreicht, die überstehenden Gliedmaßen abzuhacken, wie das der attische Räuber Prokrustes mit den Reisenden zu tun pflegte, denen er das Bett anbot. Die Gesellschaft ist aufgewacht und versucht jetzt mit aller Kraft, das Bett zu verlassen.
Ich hoffe sehr, dass sie sich nicht mehr in ein wie auch immer geartetes neues Prokrustesbett zwingen lässt."
Irina Solomatina
Ganz besonders kritisch geht Irina Solomatina mit der weiblichen Revolution in Belarus ins Gericht. Von Feminismus oder einem feministischen Neuanfang sei dabei keine Rede. Sie ist seit 2019 Leiterin der Organisation Working Women in Minsk.
"'Wir haben uns zusammengeschlossen, damit sich drei kleine Flüsse zu einem breiten Strom des Volkszorns vereinen.' (Swetlana Tichanowskaja, Juli 2020)
'Der Sommer 2020 wird in die neue belarusische Geschichte eingehen, da diese Revolution ein weibliches Gesicht hatte. Denn in dieser Präsidentschaftswahlkampagne sind die Frauen anstelle ihrer Männer angetreten.' (Veronika Zepkalo, Oktober 2020)
Die Präsidentschaftswahlen in Belarus wurden seit den Vorgängen nach den Wahlen 2010 mit Repressionen gegen all jene assoziiert, die ihre Unzufriedenheit mit dem Regime zum Ausdruck brachten. Bei den Wahlen 2015 und 2020 gab es jedoch ein neues Topthema: Frauen.
2015 war Tacciana Karatkievič als Kandidatin der vereinten Opposition zur Präsidentschaftswahl angetreten, 2020 kandidierten bereits zwei Frauen: Swetlana Tichanowskaja, Ehefrau des inhaftierten Bloggers Sergej Tichanowski, und Hanna Kanapackaja, ehemalige Parlamentsabgeordnete.
 Veronika Tsepkalo, Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikova (v.l.) bei einer Wahlkampfveranstaltung für Swetlana Tichanowskaja
"Der Sommer 2020 wird in die neue belarusische Geschichte eingehen, da diese Revolution ein weibliches Gesicht hatte." (Veronika Zepkalo, links im Bild neben Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikov) (imago images/ITAR-TASS)
Am 16. Juli 2020 gingen ein Foto und die dazugehörige Pressemitteilung des Wahlkampfstabes von Viktor Babariko durch alle Medien, auf die die sozialen Netzwerke mit einer Unzahl an Memes reagierten, von 'das Regime kotzt alle so an, dass sogar eine Hausfrau Präsidentin werden kann' bis 'wenn solche Schönheiten gegen die fettgesichtigen Bürokraten antreten, bin ich auch für Feminismus'.
Was war geschehen?
Die Wahlkampfstäbe der registrierten Kandidatin Swetlana Tichanowskaja und der nicht registrierten Kandidaten Valeri Zepkalo und Viktor Babariko hatten sich zusammengeschlossen.
Die Massenmedien titelten: 'Drei Frauen gegen Lukaschenko', 'Zeit der Frauen. Drei Wahlkampfteams gemeinsam gegen Lukaschenko', 'Weiberaufstand – Bringt der vereinte Stab Belarus Geschlechtergerechtigkeit?'.
Maria Kolesnikowa aus dem Wahlkampfteam von Viktor Babariko, die den Zusammenschluss initiiert hatte, berichtete auf tut.by, dass ihr Stab schon vorher eine Strategie besprochen hatte für den Fall, dass Babariko nicht zugelassen werden sollte, nämlich anderen Kandidaten anzubieten, die Kräfte für das gemeinsame Ziel zu vereinen. Das gemeinsame Ziel ist ein Sieg am 9. August, ein Regimewechsel. [...]
Die Registrierung Swetlana Tichanowskajas, einer Hausfrau, die stets ihre Erfahrung als Mutter und die Liebe zu ihrem Ehemann unterstrich, sollte zum erschöpfenden Argument werden und ein detaillierteres Programm ersetzen. Die 'Natürlichkeit' der Familienstruktur wurde direkt auf das Modell des Staates als einer großen Familie projiziert. Am 22. Juli teilte Veronika Zepkalos Ehemann Valeri mit: 'Mit den vereinten Kräften der drei Teams wollen wir zeigen, dass selbst eine Hausfrau in der Lage ist, ihn zu besiegen. Wir schaffen ein Komitee der Nationalen Einheit, als Gegensatz zur Einheitsregierung in unserem Land. Wir teilen die Ansicht, dass wir keinen geltungssüchtigen Machthaber mehr wollen.'
Der öffentliche Diskurs verweiblichte den Protest umgehend und die Wahlkampagne der 'drei Grazien' strotzte von weißer, unschuldiger Symbolik. Die belarusische Presse bezeichnete die vereinten 'Grazien' als 'Mädchen'. Gleichzeitig wurde die Teilnahme der Frauen an den Wahlen für 'ihre' Männer mit der Teilnahme von Frauen am Zweiten Weltkrieg verglichen. So sagte der Analyst Siarhiej Čaly am 18. August im Interview mit tut.by:
'Die Hälfte der männlichen Bevölkerung ist im Großen Vaterländischen Krieg umgekommen, und die Frauen mussten ihre Plätze einnehmen. Das ist ein Archetyp, gegen den keine Argumentation ankommt. Diese Ereignisse in Belarus werden als erste feministische Revolution in die Geschichte eingehen. Wohlgemerkt, Feminismus im normalen Sinne des Wortes.'
Weder patriarchale Mythen noch geschlechtsspezifische Vorurteile, die in Belarus nach wie vor zum gesellschaftlichen Konsens gehören, kamen ins Wanken. Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa kämpften im Gegenteil, wie auch Tacciana Karatkievič fünf Jahre zuvor, zugunsten von Männern, die aus verschiedenen Gründen nicht am politischen Wettkampf teilnehmen konnten. Die weißgekleideten Frauen mit Blumen, die barfuß und friedlich Wiegenlieder sangen, Sicherheitskräfte umarmten oder vor ihnen niederknieten – sie waren die zentrale visuelle Begleitung der Anti-Lukaschenko-Kampagne 2020.
Das 'weibliche Gesicht' des Protests ist vor allem ein medialer Effekt. Kaum einen Medienvertreter interessiert die Analyse des Wahlkampfes und der Proteste jenseits der konkreten Ereignisse, also die Diskussion über die Probleme der Beteiligung von Frauen an der Politik und die Genderdebatte im Land. Vermutlich, weil diese Aspekte auch den Wahlkampfstab nicht sonderlich interessieren. Denn es gibt nur ein Ziel: den Machtwechsel und eine Wiederholung der Wahlen unter fairen Bedingungen mit alternativen Kandidaten – den Ehemännern und Beratern.
Wie auch die alte Opposition bleibt die neue eine Geisel der Macht, und das Genderthema bleibt eine Geisel der Opposition und der Frauen, die 'ihren' Männern helfen, deren politische(n) Ambitionen zu verwirklichen. Frauen, die sich selbst für heteropatriarchale Werte opfern und diese für gut befinden, betrügen nicht nur sich selbst, sondern alle Frauen. Lukaschenko transportiert natürlich genau dieselben Wertvorstellungen, wenn er sich als den einzigen 'harten Kerl' geriert, der die Last des Verfassungsgaranten zu schultern in der Lage sei.
Dazu sollte man wissen, dass bereits 2001 eine Frau als starke Gegenkandidatin zu Alexander Lukaschenko gehandelt wurde: Natallia Mašerava, damals Abgeordnete in der Nationalversammlung, Tochter des ehemaligen Vorsitzenden des ZK der Kommunistischen Partei der BSSR Piotr Mašeraŭ. Ihr wurden Chancen auf den zweiten Wahlgang prognostiziert, sie zog ihre Kandidatur jedoch noch während der Unterschriftensammlung für die Zulassung zurück. Ihren Rückzug begründete sie mit der Haltung der Gesellschaft: 'Ich bin für einen dritten Weg der Entwicklung unseres Landes bei den Wahlen angetreten und wollte als unabhängige Kandidatin Voraussetzungen für Wahlen schaffen, die nicht auf dem Widerstandsprinzip, sondern im Zeichen der Konsolidierung unserer Gesellschaft stehen. Es zeigte sich aber, dass unsere Gesellschaft dafür noch nicht bereit ist.'
Der Druck, den politische Spekulationen ausübten, war zu groß: 'Ich sage offen, dass ohne meine Beteiligung eine Reihe von Szenarien entwickelt wurden, die mit mir überhaupt nichts zu tun haben. Ich möchte nicht in einem Zoo leben und bin weder ein 'Lockvogel', noch ein 'trojanisches Pferd' und auch kein 'Igelchen im Nebel'.'
Seit Mašeravas Versuch sind 20 Jahre ins Land gegangen. Diese Geschichte, wie auch viele andere, ist in Vergessenheit geraten. Bis heute fehlen den Aktivistinnen, abgesehen vom Streben nach symbolischen Führungspositionen und der Teilnahme an Wahlen, klare Vorstellungen über ihre eigenen Ziele.
Swetlana Tichanowskaja
Swetlana Tichanowskaja - "Deutschland kann einen weit größeren Einfluss ausüben"
Die ersten Schritte seien schon sehr wichtig gewesen, sagte Swetlana Tichanowskaja im Dlf. Sie rufe weiter zu friedlichen Protesten auf, wisse aber nicht, wie viel Geduld ihre Landsleute noch hätten.
Dennoch erschien am 21. August 2020 auf dem Cover der Wochenausgabe des britischen Guardian die stilisierte Abbildung einer Belarusin, die eine weiße Rose in der Hand hält und den Blick fest nach oben richtet – ein Symbol für den friedlichen Protest in Belarus. Die offensichtliche Heroisierung in der visuellen Darstellung wird durch den Titel noch verstärkt: 'Flower Power: The women driving Belarus’s movement for change'. Die belarusische Künstlerin Darja Sazanovič, die selbst an den Aktionen in Minsk teilgenommen hatte, zeigte in ihrer eigenen Darstellung der Proteste die weiße Rose anders: Die Rose hat ihre Farbe fast verloren, von der Hand, die den dornigen Stiel hält, tropft Blut. Die Künstlerin interpretiert ihr Werk folgendermaßen:
'An einem Tag der Kundgebungen war ich mit einer solchen weißen Rose unterwegs. Nach mehreren Aktionen in der Stadt war sie immer kürzer und schäbiger geworden. Ganz gleich wie 'schön' diese friedlichen Aktionen mit den Blumen tagsüber waren, nachts fiel es mir schwer zu atmen, als all diese beispiellose Gewalt ins Bewusstsein rückte.'
[...]
Die Frage jedoch, welche Möglichkeiten Frauen im modernen Belarus haben, ihre eigenen Ziele und Geschichten zu erarbeiten, sie kundzutun und beim politischen Übergang zur ersehnten demokratischen Transformation als selbständige Subjekte in Erscheinung zu treten, bleibt unbeantwortet. Und es ist unklar, wie lange offen sexistische Projekte gesellschaftlich noch anerkannt bleiben werden, wie zum Beispiel Plakate in der Minsker Metro mit Texten wie 'Belarusische Mädels – ihr seid unsere Blumen des Sieges'. Die Mädels werden nie als politische Subjekte anerkannt, solange sie für jemanden 'Blumen' darstellen. Komplimente solcher Art an die 'weiblichen Gesichter' der belarusischen Revolution unterscheiden sich in keiner Weise von den Aussagen des amtierenden Präsidenten. Schon seit vielen Jahren wird den Frauen die immer gleiche Botschaft vermittelt:
'Ihr seid unsere Kraft und unser Mut, unser Glück und unser Seelenfrieden, unsere Freude und Inspiration.'
Mansplaining ist in Belarus weit verbreitet, und dieser herablassende Kommunikationsstil drückt die bestehende Asymmetrie aus, die den Männern Vorrang und Führungsrolle zuschreibt.
'Und da das so ist, ist auch der Wunsch des Präsidenten kein Zufall, unter den Parlamentsabgeordneten nicht weniger als 30 – 40 Prozent Frauen sehen zu wollen', hieß es in Belarus segodnja am 25. 09. 2004. Wenn es nach Lukaschenko geht, gehen Frauen ihrer Berufung, die Welt schöner zu machen, sowohl in der Familie als auch im Parlament nach. Paradox an der belarusischen Situation ist die Tatsache, dass 2019 in der Nationalversammlung der Republik Belarus (Parlament und Rat der Republik) 40 Prozent Frauen vertreten waren, während der globale Durchschnitt bei 24,5 Prozent Frauenanteil in nationalen Parlamenten liegt.
[...]
Der belarusische Präsident machte im Vorfeld der aktuellen Wahlen eine solche herabwürdigende Aussage nicht auf lokaler, sondern auf nationaler Ebene: 'Selbst für einen Mann ist es schwer, diese Last zu tragen. Würde man sie einer Frau übertragen, würde sie zusammenbrechen, die Arme'. Lukaschenko benannte als zentrale Funktionen der Frauen auf der Ebene der Exekutive 'verschönern' und 'die Männer disziplinieren'. So erklärte er im September 2019: 'Ein Drittel der Parlamentsabgeordneten sind Frauen – das ist ein stabiles Parlament. Die Männer machen keinen Quatsch, die springen und laufen nicht herum – weil es ihnen vor den Frauen peinlich wäre.'"
Tatiana Shchyttsova
Die Philosophin Tatiana Shchyttsova lehrt an der European Humanities University in Vilnius. Über "Moralische Erschütterung und das Ende der Ära des belarussischen 'Gesellschaftsvertrages'".
"In der belarusischen Gesellschaft wurde der Prozess eines grundlegenden moralischen Wandels eingeleitet. Darin sind auch diejenigen involviert, die sich den Protesten noch immer nicht angeschlossen haben. Sie leben ja trotzdem in Belarus, sie gehen mit denjenigen zur Arbeit, die protestieren, sie sehen, was auf den Straßen vor sich geht.
Das autoritäre belarusische Regime hielt sehr lange am sogenannten 'Gesellschaftsvertrag' fest: Der Staat sorgte für das notwendige Mindestmaß an sozialer und wirtschaftlicher Stabilität, und die Bürger schalteten sich im Gegenzug nicht ins politische Leben ein. Nach einer sehr kurzen Zeit der postsowjetischen Demokratisierung, die 1996 mit der Verabschiedung einer Verfassungsänderung endete, passten sich die belarusischen Bürger irgendwie an die für beide Seiten vorteilhaften Bedingungen der autoritären Herrschaft an. Für die Staatsmacht war eine der vorteilhaften Bedingungen, dass die Bürger 'stillschweigend' die Lösung aller Probleme bei der Führung des Landes an sie zurück delegierten. Damit vertat die Zivilgesellschaft für viele Jahre die Chance, eine Rolle als politisches Subjekt zu spielen.
Zum charakteristischen Merkmal dieser Zeit wurde die soziale Apathie. Der moralische Wandel, den ich oben erwähnte, ist nun mit einem heftigen und sehr traumatischen Ausstieg aus diesem Zustand der Apathie verbunden. Wir alle waren schockiert über das, was zwischen dem 9. und 12. August 2020 passierte. Nach diesen Ereignissen ist eine Rückkehr zum 'Gesellschaftsvertrag' nicht mehr möglich.
Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass die einzigartige gesellschaftliche Solidarität, die im gesamten Land spürbar ist, sich auch als eine Solidarität zwischen den Generationen erweist. Unter den belarusischen Demonstranten gibt es Menschen ganz unterschiedlicher Generationen – ganz junge Leute, aber auch ziemlich alte Leute, und das ist in den Metropolen so und in den kleineren Städten und den Dörfern. Das ist ein wesentlicher Punkt: Es zeigt, dass die moralischen Empfindungen und Werte, die dem Aufstand zugrunde liegen, von verschiedenen Generationen geteilt werden.
[...]
Während die ältere Generation sich wegen des lang andauernden autoritären Regimes schuldig fühlt, merkt die jüngere Generation nun, dass sie in einer völlig anderen Welt lebt und leben will, als derjenigen, die so brutal durch den belarusischen Staat durchgesetzt wird. Die derzeitige Solidarität zwischen den Generationen ist folglich eine ausgezeichnete Grundlage für Dialog und Zusammenwirken, wie sie künftig in einem neuen demokratisches Belarus zu entwickeln sein werden.
Denn wofür steht die protestierende Zivilgesellschaft, die sich hinter ihrem Programm zusammenschloss, im übertragenen Sinne? Für ein anderes Belarus. Wir wollen die bestehende politische Ordnung durch eine grundlegend andere ersetzen."