Seit mehr als zwei Monaten gehen die Menschen in Belarus auf die Straße, um gegen Machthaber Alexander Lukaschenko zu demonstrieren. Es gab bereits mehrere Tote, Hunderte Verletzte und mehr als 10.000 Festnahmen. Auslöser war die umstrittene Präsidentenwahl Anfang August 2020, bei der Lukaschenko mit angeblich 80,1 Prozent der Stimmen für eine sechste Amtszeit bestätigt wurde. Die EU erkennt das Wahlergebnis nicht an.
Die Opposition in Belarus fordert den Rücktritt Lukaschenkos sowie die Freilassung aller politischen Gefangenen und Neuwahlen. Sie sieht Swetlana Tichanowskaja als wahre Siegerin der Präsidentenwahl. Die 38-Jährige war am 9. August gegen Lukaschenko angetreten, nachdem ihr Mann Sergej, der in seinem Videoblog regelmäßig Korruption anprangerte, festgenommen worden war.
Nach der Wahl musste die Mutter von zwei Kindern und ehemalige Englischlehrerin Belarus auf Druck der Behörden verlassen. Seitdem steuert sie aus ihrem Exil in Litauen die Proteste in ihrem Heimatland und versucht internationale Hilfe zu gewinnen – in dieser Woche bei ihrem Besuch in Berlin. Im Interview mit dem Dlf gab Tichanowskaja eine Einschätzung der aktuellen Situation in ihrem Land und betonte, dass sie nach dem angestrebten Umbruch in Belarus kein politisches Amt anstrebe.
Sabine Adler: Deutschland und die Europäische Union sind sehr vorsichtig, nichts zu unternehmen, was wie eine Einmischung in die belarussischen Angelegenheiten aussehen könnte. Sind sie Ihnen vielleicht sogar zu vorsichtig?
Swetlana Tichanowskaja: Ich als die führende Person im Kampf um die Menschenrechte in Belarus hätte es sehr gern, wenn Deutschland und die EU härter wären. Aber ich bin neu in der Politik und kenne noch nicht den Punkt, wo man Grenzen ziehen muss. Natürlich kann Deutschland einen weit größeren Einfluss ausüben, aber schon diese ersten Schritte waren sehr wichtig und ich bin sicher, dass es künftig noch mutigere Schritte geben wird, um Druck auszuüben.
"Wir möchten selbst unsere Zukunft bestimmen"
Adler: Sie sagten, Sie würden gern mit dem russischen Präsidenten, Herrn Putin sprechen, was würden Sie ihm sagen?
Tichanowskaja: Ich würde ihm sagen, dass wir den Wandel wollen, dass wir ein unabhängiges Land sind und bleiben wollen. Wir möchten selbst unsere Zukunft bestimmen. Ich würde sagen: Mischen Sie sich nicht ein! Geben Sie das Geld, das jetzt an das Regime geht, mit dem jetzt das belarussische Volk ermordet wird, in ihrem Land aus! Oder geben Sie uns das Geld, wenn neue Wahlen stattgefunden haben. Wir sind seit langem Freunde und Nachbarn. Das bleiben wir.
Ich würde wahrscheinlich sehr emotional werden, denn da Putin Lukaschenko unterstützt, unterstützt er nicht das belarussische Volk. Ich würde ihn gern dazu bringen, dass er damit aufhört. Wir, also die Belarussen werden weiter mit Russland in dem Unionsstaat leben wollen, aber wir werden auch weiter keine Integration haben wollen.
Adler: Welche Rolle spielt Russland derzeit in Belarus. Würden Sie von Einmischung sprechen?
Tichanowskaja: Natürlich, ich würde von Einmischung sprechen. Vor allem dann, wenn es um die russischen Propagandisten geht, die anstelle der entlassenen belarussischen Journalisten gekommen sind. Sie verbreiten derart furchtbare Sachen. Ihnen zufolge soll ich aufgerufen haben, Belarus zu bombardieren. Diese Propaganda ist eine klare Einmischung und die Leute, die das tun, gehören ebenfalls auf die Sanktionsliste.
Auch die russischen Streitkräfte bei Bedarf in unser Land bringen zu wollen, ist eine klare Einmischung. Wir brauchen keine fremden Streitkräfte. Wir führen einen Kampf gegen einen einzigen Menschen, auf friedliche Weise. Ohne Russlands Finanzhilfe bricht Lukaschenkos Regime viel schneller zusammen.
"Lukaschenko spuckt auf sein Volk"
Adler: Was haben Sie gedacht, als sich Lukaschenko mit einer Kalaschnikow gezeigt hat?
Tichanowskaja: Das war so dumm. Als wüsste er nicht mehr, was er machen soll, auf welche Weise er noch seine Macht demonstrieren könnte. Er hat nicht verstanden, dass ihn das Volk nicht mehr als starke Führungsfigur ansieht. Er sah einfach lächerlich aus. Sollte die Kalaschnikow sagen, dass er uns töten will? Und als er die Waffe seinem minderjährigen Sohn gab, verletzte er das Gesetz, denn das ist verboten. Er spuckt auf die Gesetze, er spuckt auf sein Volk. Das war absurd.
Adler: Wie sehr befürchten Sie die Radikalisierung der Demonstrationen?
Tichanowskaja: Mehr als alles liegen mir friedliche Proteste am Herzen, denn wir wollen nicht so sein, wie die staatlichen Einsatzkräfte, wir wollen uns unterscheiden von ihrer Gewalt. Ich bin so etwas wie ein Symbol, man schaut auf mich, ich rufe zu Frieden auf. Aber ich kann nicht alle kontrollieren.
"Wir werden nicht in diesen Sklavenzustand zurückkehren"
Adler: Belarus ist das einzige Land in Europa mit Todesstrafe. Wie wichtig ist Ihnen, sie abzuschaffen?
Tichanowskaja: Persönlich halte ich die Todesstrafe für unannehmbar, es werden immer Fehler gemacht. Aber diese Frage muss später entschieden werden, vom Volk. Es muss befragt werden. Ich bin kategorisch gegen die Todesstrafe.
Adler: Wie lange reicht Ihre Geduld noch?
Tichanowskaja: Mein Mann ist im Gefängnis. Genau wie über 70 andere Personen, die wegen fadenscheiniger Begründungen dort sind. Vielleicht gibt es Dinge, die mich von meinem Weg abbringen könnten. Aber ich habe ein starkes Team und hinter mir stehen hunderttausende Belarussen, die das gleiche wollen wie ich. Wie lange deren Geduld reicht, weiß ich nicht. Ich hoffe sehr, dass es schnell geht, aber wenn nicht, dürfen wir nicht aufhören. Eines ist klar: Dass wir nicht mehr in diesen Sklavenzustand zurückkehren werden.
Adler: Wie sehr hat die Corona-Krise die Situation im Land beeinflusst?
Tichanowskaja: Die Regierung geht mit dem Coronavirus sehr seltsam um. Wenn sie es braucht, ist es da, wenn nicht, leugnet sie seine Existenz. Lukaschenko wollte nicht von einer Pandemie sprechen, was ich verstanden habe, weil das Land ein Herunterfahren der Wirtschaft nicht überstanden hätte. Aber unsere Ärzte hatten nicht einmal Masken, das war ein Auslöser für die heutigen Proteste. Die Leute schlossen sich zusammen, sammelten Geld für Masken und Beatmungsgeräte. Sie sagten sich: Wofür brauchen wir den Staat, wir helfen uns selbst.
"Eine Kandidatur ist nichts für mich"
Adler: Sie treten jetzt als Politikerin auf, gefällt Ihnen diese Rolle? Würden Sie nach einem Wandel weiter gern Politikerin sein?
Tichanowskaja: Nein. Unter diesen schwierigen Bedingungen in der Politik zu sein, gefällt mir nicht. Auf mir lastet eine Riesenverantwortung, jeder falsche Schritt kann eine Verhaftung oder Schlimmeres auslösen. Aber ich habe so viel gelernt in dieser kurzen Zeit, dass es vielleicht auch dumm wäre, das alles wegzuwerfen. Der Schutz der Menschenrechte ist mir sehr wichtig geworden, vielleicht setze ich mich dafür ein.
Adler: Und kandidieren?
Tichanowskaja: Nein.
Adler: Auf keinen Fall?
Tichanowskaja: Auf keinen Fall. Der Schutz der Menschenrechte ist auch Politik, aber Präsidentin? Nein. Das Land braucht eine Person mit einem stärkeren Willen. Ich bin viel zu vorsichtig. Deswegen nein! Eine Kandidatur ist nichts für mich.
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