Archiv


Belgien boomt trotz Mindestlohn

Der Mindestlohn ist in 20 von 27 Ländern der Europäischen Union bereits Realität. Zum Beispiel in unserem Nachbarland Belgien. Da gibt es schon seit mehr als 30 Jahren Mindestlöhne - es existieren 200 verschiedene Modelle parallel. Noch funktioniert das System.

Von Elena Gorgis | 14.11.2011
    In den Straßen um den großen Markt im Herzen von Brüssel tummeln sich jeden Tag Tausende Touristen. Ein Stadtbummel macht hungrig und so locken zahlreiche Cafés, Imbissbuden und Restaurants mit ihrem Angebot.
    Nicht selten sind es Fastfoodketten, die es auch in anderen europäischen Ländern gibt. Und wie überall, arbeiten die Kellner und Verkäufer auch in Brüssel für einen geringen Lohn. Jedenfalls für belgische Verhältnisse.

    Doch verglichen mit ihren Kollegen zum Beispiel in Deutschland stehen sie gut da, denn in Belgien gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Der liegt bei einem Vollzeitjob bei etwa acht Euro 50 pro Stunde. Die genaue Höhe richtet sich auch nach Alter und Erfahrung des Arbeitnehmers. Den Mindestlohn gibt es in Belgien bereits seit Mitte der 70er-Jahre. Und der steht auch jetzt in der Krise nicht zur Debatte, unter anderem, weil die Gewerkschaften stark sind. Trotzdem suchen Unternehmen auch in Belgien nach Wegen, um die Lohnkosten zu senken, sagt Rafael Lamas vom Allgemeinen Belgischen Gewerkschaftsbund.

    "Es gibt immer mehr Teilzeitverträge und Leiharbeitsverträge. Also gibt es immer mehr prekäre Jobverhältnisse, weil die günstiger für die Arbeitgeber sind."

    Doch trotz dieser Entwicklung sind die meisten belgischen Arbeitnehmer noch immer in einer komfortablen Situation, verglichen mit vielen Kollegen im europäischen Ausland. Denn der gesetzliche Mindestlohn funktioniert in Belgien praktisch nur als Lohnuntergrenze. Zusätzlich zu dieser gesetzlichen Marke werden in den einzelnen Branchen Löhne ausgehandelt. Diese können höher, dürfen aber in keinem Fall niedriger liegen als der gesetzliche Mindestlohn. Das hat dazu geführt, dass es in Belgien mehr als 200 Branchenmindestlöhne gibt. Aus Sicht des Gewerkschafters Rafael Lamas, stärkt gerade der Mix aus gesetzlichen Vorgaben und Tarifautonomie die Arbeitnehmerrechte.

    "Wir sind für Tarifverhandlungen, aber die Arbeitgeber müssen wissen, dass, wenn es keine Einigung zwischen den Tarifparteien gibt, der Staat entscheidet. Es ist wirklich wichtig, die Arbeitgeber zu verpflichten, am Verhandlungstisch zu bleiben und eine Lösung zu finden."

    Zusätzlich zum gesetzlichen Mindestlohn haben die belgischen Arbeitnehmer sich aber noch eine weitere Sicherheit erkämpft, die sie vor sinkenden Einkommen bewahrt – auch wenn die Tarifverhandlungen scheitern. Jährlich werden in Belgien die Löhne automatisch an die steigenden Lebenshaltungskosten angepasst. Die Lohn-Index-Bindung ist im Gegensatz zum gesetzlichen Mindestlohn in Belgien höchst umstritten. Die jährliche Anpassung sei eine Last für Unternehmen, ärgert sich Hans-Joachim Maurer von der Handelskammer Debelux, die auch deutsche Unternehmen in Belgien und Luxemburg repräsentiert.

    "Da der Index in den vergangenen mindestens 15 Jahren regelmäßig angewendet wurde, sind zum Beispiel die belgischen Gehalts- und Lohnkosten mittlerweile deutlich höher als in Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Niederlande und Unternehmen schauen heute gerade angesichts einer möglicherweise wiederkehrenden Wirtschaftskrise unter anderem auf Standortfaktoren wie Lohn- und Gehaltskosten."

    Die belgischen Gewerkschaften wollen dieses Argument nicht gelten lassen. Die Lohnkosten seien schließlich nicht der einzige Grund, warum ein Unternehmen sich für einen Standort entscheidet. Sie verweisen auf die gute Infrastruktur, steuerliche Anreize für Unternehmen und wenig Arbeitskämpfe. Verluste durch Streiks gäbe es in Belgien kaum. Der Gewerkschafter Rafael Lamas hält die gute Ausbildung der Arbeiter für entscheidend.

    "Ich denke, dass die Qualifikation der Arbeiter eine große Rolle spielt."

    Tatsächlich steht die belgische Wirtschaft im EU-weiten Vergleich gut da. Vor allem der flämische Wirtschaftsraum gehört zu den stärksten in der Europäischen Union. Für 2011 kann Belgien mit einem Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent rechnen, die Arbeitslosenquote liegt bei 7,6 Prozent. Große Abwanderungstendenzen sieht auch Hans-Joachim Maurer von der Handelskammer Debelux bisher nicht.

    "Aber die Zuwanderung fehlt halt, die Zuwanderung von ausländischen Direktinvestitionen, die hat sich stark verlangsamt; und denken sie nur an die Schließung der Opelmontage in Antwerpen, die unter anderem die hohen Kosten in Antwerpen zum Hintergrund hatte."

    Keine Abwanderung im großen Stil also, aber es gibt sie, die Beispiele von Unternehmen, die ihre Produktion aus Belgien ins Ausland verlagert haben. Zum Beispiel ins Nachbarland Deutschland. Sollten dort nun Mindestlöhne eingeführt werden, dürften das die belgischen Arbeitnehmer nicht bedauern.