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Belgiens staatliche Strukturen
"Bürgernah, aber im Ernstfall überfordert"

20 Jahre nach dem Fall Dutroux und dem damaligen Versagen der staatlichen Strukturen in Belgien gibt es laut Christian Behrendt bei den Reformen zwar immer noch Nachholbedarf. "Ich denke allerdings schon, dass sich der Staat grundlegend geändert hat", sagte der Staatsrechtler im DLF. Die Polizei in ihrer alten Form sei mit großen Fällen überfordert gewesen.

Christian Behrendt im Gespräch mit Doris Simon | 13.08.2016
    Belgische Polizisten stehen im Brüsseler Stadtteil Anderlecht vor einer Wohnung, nachdem drei Männer festgenommen wurden.
    Der Staatsrechtler Christian Behrendt sieht beim belgischen Polizeiapparat Nachholbedarf. (picture alliance / dpa / Stephanie Lecocq)
    Vor 20 Jahren wurde in Belgien der Mörder und Sexualstraftäter Marc Dutroux festgenommen. Ein Grund, dass seine Taten so lange unentdeckt blieben, war das Chaos zwischen den Ermittlungsbehörden. Bis heute hat Belgien die damals als Konsequenz geplante Justizreform noch nicht komplett umgesetzt.
    "Alte Strukturen stammten von Napoleon"
    Staatsrechtler Prof. Christian Behrendt von der Universität Lüttich sagte im DLF, dass sich mit der Zusammenlegung der drei Polizeien Belgiens doch etwas getan hätte. "Ich denke schon, dass sich der Staat grundlegend geändert hat." Belgien habe zuvor ein System gehabt, das noch aus der Zeit von Napoleon stammte. "Der Chef der Gemeindepolizei war der Bürgermeister", erklärte Behrendt. Man könne sagen, dass das sehr demokratisch gewesen sei.
    Auch die Gerichtspolizei sei in sehr viele kleine Bezirke aufgeteilt gewesen. "Das ist bürgernah", aber mit größeren, landesweiten Fällen sei die Polizei völlig überfordert gewesen. Man habe gesehen, "zu welchen Misserfolgen und krassen Fehlleistungen die Aufsplitterung von solchen Diensten führen kann". Andererseits bestehe nach der Reform die Gefahr, dass "wenn einer alles entscheiden kann und falsch liegt, es keinen gibt, der das kontrolliert".
    "Werden nie alle radikalisierten Leute überwachen können"
    Die Zusammenlegung der drei Polizeien sei daher ein logischer Schritt gewesen. Dennoch gebe es in Belgien Nachholbedarf. "Ich stelle fest, dass in Deutschland die Bundespolizei um zehn Prozent aufgestockt worden ist." In Bezug auf die Bekämpfung von Terrorismus stellte Behrendt aber fest: "Wir werden nicht in der Lage sein, grundsätzlich alle radikalisierten Leute permanent zu überwachen. Das ist nicht möglich."

    Das Interview in voller Länge:
    Heute vor 20 Jahren endete in Belgien abrupt der Sommer. Die Verhaftung von Marc Dutroux und zwei seiner Komplizen war der Anfang einer Affäre, die das Land aufgewühlt hat und belastet hat mit Langzeitfolgen bis heute. Dutroux hatte sechs Mädchen entführt und in seinem Keller gefangen gehalten, missbraucht, gefoltert – vier überlebten die Tortur nicht. Mitverantwortlich: Polizei, Justiz und auch die Politik in Belgien. Deren totales Versagen wurde im Lauf der Ermittlungen immer deutlicher. Aber längst nicht alle Verbindungen und alle Fragen wurden in der Folge auch aufgeklärt. Auch deshalb beschäftigt die Affäre Dutroux die Belgier immer noch. Thomas Ottos Bericht beginnt mit der Entführung der achtjährigen Julie und Melissa 1995.
    Thomas Otto berichtete aus Brüssel, und mitgehört hat
    Doris Simon: Professor Christian Behrendt. Er ist Staatsrechtler an der Universität Lüttich. Guten Tag!
    "Strukturen, die bei außergewöhnlichen Fällen überfordert waren"
    Christian Behrendt: Ich grüße Sie, Frau Simon!
    Simon: Vor 20 Jahren haben der Staat und die staatlichen Strukturen, wie gerade ausführlich geschildert, in Belgien in dramatischer Weise versagt in der Affäre Dutroux. Dieses Versagen, könnte sich das heute auch wiederholen?
    Behrendt: Ich denke schon, dass sich der Staat grundlegend geändert hat. Wir hatten in den 90er-Jahren hier noch ein System, das eigentlich, was die Ermittlungs- und Polizeibehörden angeht, von Napoleon stammte. Sie hatten beispielsweise die Polizei, die pro Gemeinde organisiert war, und der Chef der Gemeindepolizei war jeweils der Bürgermeister. Der hatte den Rang eines Polizeioffiziers und stand seiner Polizei vor. Das ist natürlich – man kann sagen, das ist sehr demokratisch. Sie wählen den Bürgermeister, und der Bürgermeister ist dann der Chef der Gemeindepolizei. Aber das sind natürlich Strukturen, die großen Kriminalfällen ja gar nicht gerecht werden können. Und natürlich gab es dann nebenher noch die Gerichtspolizei, die pro Gerichtsbezirk organisiert war. Von diesen Gerichtsbezirken gibt es über 20 in Belgien – ein sehr kleines Land, Belgien ist ja deutlich kleiner als Nordrhein-Westfalen beispielsweise. Also, das waren alles Strukturen, die eigentlich für kleine Deliktfälle sehr gut organisiert waren, weil sie bürgernah waren im Prinzip, aber natürlich, wenn es um größere, landesweite und, sagen wir mal, außergewöhnliche Fälle ging, völlig überfordert waren.
    Simon: Die Polizeien sind ja im Lauf der Jahre gegen alle Widerstände alle drei zusammengeführt worden. Trotzdem, wenn wir auf dieses Jahr schauen, ist die belgische Polizei ja doch sehr überrascht worden zum Beispiel von den Terroristen, die mitten in Brüssel ihre Anschläge planen konnten.
    "Dutroux hat zu einer wseitgreifenden Polizei- und Gerichtsreform geführt"
    Behrendt: Ich denke, da muss man ein bisschen differenzieren. Ich würde behaupten, dass keine europäische Demokratie zur Zeit völlig in der Lage ist, zu wissen, was alle radikalisierten Bürger in ihrem Land präzise heute, genau um diese Zeit jetzt, am Samstagmittag, wo wir miteinander sprechen, tun. Das kann keine Demokratie. Und wir sind kein Überwachungsstaat. Das können wir als Demokratie auch nicht sein. Hingegen müssen wir natürlich wachsam sein, und wir müssen – das, denke ich, alle Demokratien in Europa müssen das tun, wahrscheinlich noch mehr tun, als wir zurzeit tun. Ich stelle fest, dass beispielsweise in Deutschland vor wenigen Tagen angekündigt worden ist, dass die Bundespolizei um zehn Prozent aufgestockt wird. Also in Deutschland nimmt man Schritte vor. In Belgien ist sicher Nachholbedarf vorhanden, aber es ist schon viel passiert. Nur, wie gesagt, man muss, ich denke, deutlich sagen als Staatsrechtler, als, sagen wir mal, Prof an der Uni, muss man den Mut haben zu sagen, wir werden als europäische Demokratie nie in der Lage sein, grundsätzlich alle radikalisierten Leute permanent zu überwachen. Das ist nicht möglich. Das führt zu einer gewissen Eingestehung einer Gefahrenquelle. Aber da sind wir natürlich jetzt bei dem Thema der heutigen Radikalisierung und nicht beim Thema von Dutroux. Also, Dutroux hat schon zu einer Polizei- und Gerichtsreform in Belgien geführt, die sehr weitgreifend war. Natürlich, wie gesagt, man kommt aus einem System heraus, wo man damals gesagt hat, es ist gut, dass es verschiedene Polizeidienste gibt, die auch nicht unbedingt miteinander zusammenarbeiten, weil das Gegengewichte, demokratische Gegengewichte bringt. Natürlich, theoretisch ist das alles richtig, aber man hat natürlich gesehen, zu welchen Misserfolgen und zu welchen krassen Fehlleistungen solche Aufteilung, Zersplitterung von Diensten führt. Das sind Fragen – man kann natürlich auf der anderen Seite sagen, wenn Sie eine Polizei haben, wo einer alles entscheiden kann, wenn der falsch entscheidet, dann haben Sie überhaupt keinen mehr, der das überhaupt überprüfen kann.
    Simon: Das sind die berechtigten demokratietheoretischen Fragen. Wenn wir noch mal auf die Affäre Dutroux schauen, glauben ja viele Belgier heute noch, dass bei der Aufklärung nicht allen Spuren nachgegangen wurde, dass vertuscht wurde. Wie sehr belastet das Ihrer Einschätzung nach das Verhältnis der Belgier zu ihren Behörden?
    "Ein großer Datenaustausch ist die Herausforderung der heutigen Zeit"
    Behrendt: An der Theorie des Netzwerks, glaube ich, ist nichts dran. Meines Erachtens ist das eine Theorie, die von Dutroux selber in die Öffentlichkeit gespielt worden ist, um sich selber auch ein bisschen weiß zu waschen. Er hat immer wieder Hinweise gegeben auf irgendwelche Leute, denen er Kinder vorgestellt haben – behauptet, Kinder vorgestellt oder überführt zu haben, aber das konnte nie bewiesen werden, und die Leute, die von ihm zitiert worden sind, haben das immer grundsätzlich bestritten, und man konnte das nie beweisen. Also wenn man das rechtsstaatlich betrachtet, muss man zu dem Ergebnis kommen – weil wir können uns ja nicht auf Gerüchte basieren –, rechtsstaatlich gesehen, muss man sagen, ist an dieser These nichts dran gewesen. Er war halt, denke ich, ein sehr gefährlicher, perfider und absolut menschenverachtender Einzeltäter, von denen es aber auch dann andere gegeben hat. Einige Jahre später ist der Fall Fourniret herausgekommen in Nordfrankreich, der Kinderentführungen in Belgien vorgenommen hat und die in Frankreich dann größtenteils ermordet hat, und da dasselbe Problem entstanden ist, nämlich, dass es keinen hinreichenden Austausch von Informationen zwischen den belgischen und französischen Justizbehörden gibt. Das ist weiterhin in einem Europa, dass so klein ist – wenn Sie die Abstände sehen zwischen Köln und Lüttich und zwischen Lüttich und Luxemburg und zwischen Lüttich und Maastricht, das sind alles Abstände von weniger als 100 Kilometern, und sind in vier verschiedenen Ländern mit vier verschiedenen Polizei- und Justizsystemen. Da ist ein großer Datenaustausch absolut notwendig. Und das ist, denke ich, die Herausforderung der heutigen Zeit.
    Simon: Sagt Professor Christian Behrendt von der Universität Lüttich. Herr Behrendt, vielen Dank fürs Gespräch!
    Behrendt: Gern geschehen, Frau Simon!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.