Bei der Generaldebatte zum Bundeshaushalt im Bundestag habe Angela Merkel nochmals deutlich gemacht, dass man sich im Kampf gegen Corona nun in einer Entscheidungsphase befinde, sagte der Publizist und Politologe Albrecht von Lucke im Dlf. Sie habe aber auch zu erkennen gegeben, dass sie ein Stück weit an den Grenzen ihres Lateins angekommen sei. Dabei ginge es nicht um Finanzielles, so von Lucke. ″Nein, es geht um die Frage, wie weit kann eine Politik die Bevölkerung überhaupt noch erreichen und mitnehmen, dass diese willens ist, die verordneten Maßnahmen wirklich umzusetzen.
Trotz der aktuellen Situation habe Corona die Kanzlerin noch einmal in eine ″solitäre Stellung″ gebracht. ″Sie spricht auch heute als die Kanzlerin, die weit mehr Reputation und Autorität genießt als jede andere Politikerin oder jeder andere Politiker im Lande.″
Das Interview in gesamter Länge
Jörg Münchenberg: Erste Station Bundestag: Generaldebatte mit der Kanzlerin, die noch einmal ihre ganze Autorität als Regierungschefin in die Waagschale geworfen hatte, um angesichts weiter steigender Infektions- und Todeszahlen für eine massive Verschärfung der Corona-Auflagen zu werben - gerade auch vor und nach Weihnachten, wohl wissend, dass es ohne die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten nicht gehen wird. Widerspruch kam natürlich von der AfD, aber auch von der FDP. Herr von Lucke, das war ja heute für die Bundeskanzlerin doch ein ungewöhnlich emotionaler Auftritt. Erleben wir zum Ende ihrer Amtszeit eine ganz neue Angela Merkel?
Albrecht von Lucke: Das kann man in gewisser Weise sagen. Sie sagen zurecht, es war für sie eine Leidenschaft, die man nicht allzu oft in dem Maße gehört hat – vor allem auch deshalb, weil in dieser Leidenschaft ein Stück weit, man kann es fast stark machen, Verzweiflung auch zum Ausdruck kam. Angela Merkel hat sehr deutlich gesagt und es war immer wieder vom Wechselbad der Gefühle die Rede. Sie hat sehr kenntlich gemacht, dass sie der Meinung ist, wir befinden uns in einer Entscheidungsphase. Es ist ja auch interessanterweise der letzte Haushalt und ein ganz besonderer Haushalt, den sie zu verabschieden hat, der in ihrer Ägide zu verabschieden ist – in einer Entscheidungsphase im Kampf gegen die Pandemie. Aber sie hat damit immer auch kenntlich gemacht, sie ist ein Stück weit an den Grenzen ihres Lateins. Sie ist an den Grenzen ihrer Macht. Sie hat immer die Notwendigkeit, davon abhängig zu sein, von einer Bevölkerung, die mitzieht, und auch von Ministerpräsidentinnen und Präsidenten, die mitziehen. Es war sehr deutlich: Sie hat wie zuvor schon, aber heute noch viel leidenschaftlicher als Mahnerin und Warnerin agiert, aber immer kenntlich gemacht, ich habe auch nur begrenzte Macht, wenn das Volk, wenn die anderen Politiker nicht mitziehen, dann komme ich an die Grenzen.
"Sie weiß um die Grenzen ihrer Zeit"
Münchenberg: Sie sagen, Machtlosigkeit. Hat das vielleicht auch was damit zu tun, dass ihre Amtszeit sich jetzt dem Ende zuneigt?
von Lucke: Ja, das in der Tat. Sie weiß um die Grenzen ihrer Zeit. Sie hat das auch mit Blick, denn auch das kam vor, der Bilanzierung beispielsweise der europäischen Krisenlage deutlich gemacht, dass auch in Europa vieles nicht so gelaufen ist, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die EU-Ratspräsidentschaft, die ja für Deutschland jetzt ausläuft, war völlig anders vorgestellt. Corona hat auch hier alles über den Haufen geworfen.
Aber es geht um noch etwas Grundsätzlicheres. Angela Merkel hat überhaupt – ich glaube, das kann man sagen – in den gesamten jetzt 15 Jahren ihrer Regierungszeit immer wieder die Grenzen der Politik erlebt und wahrscheinlich nie so dramatisch wie in dieser Coronakrise. Wenn man jetzt sieht, wie sie deutlich gemacht hat – und Sie haben ja die starken Stellen von Frank Capellan kenntlich gemacht -, wie sie an zwei Fronten gekämpft hat, erstens, dass überhaupt die Kenntnisse der Wissenschaft zur Kenntnis genommen werden, da ist sie voll noch einmal als Naturwissenschaftlerin aufgetreten. Das war ja schon fast ein Vermächtnis: Ich glaube an die Kraft der Wissenschaft. Ich glaube, dass Europa immer deshalb so stark geworden ist, weil es das Wissen ernst genommen hat. Dann weiß sie natürlich aber auf der anderen Seite ganz genau, dass ein gewisser Teil, der auch im Parlament vertreten ist mit der AfD, völlig ungeneigt ist, diese wissenschaftlichen Erkenntnisse zu nehmen, und dass auch kein ganz kleiner Teil in der Bevölkerung das ähnlich sieht. Das ist die eine Dimension, wo sie gemerkt hat, das sind die Grenzen meiner Macht.
Aber es geht um noch etwas Grundsätzlicheres. Angela Merkel hat überhaupt – ich glaube, das kann man sagen – in den gesamten jetzt 15 Jahren ihrer Regierungszeit immer wieder die Grenzen der Politik erlebt und wahrscheinlich nie so dramatisch wie in dieser Coronakrise. Wenn man jetzt sieht, wie sie deutlich gemacht hat – und Sie haben ja die starken Stellen von Frank Capellan kenntlich gemacht -, wie sie an zwei Fronten gekämpft hat, erstens, dass überhaupt die Kenntnisse der Wissenschaft zur Kenntnis genommen werden, da ist sie voll noch einmal als Naturwissenschaftlerin aufgetreten. Das war ja schon fast ein Vermächtnis: Ich glaube an die Kraft der Wissenschaft. Ich glaube, dass Europa immer deshalb so stark geworden ist, weil es das Wissen ernst genommen hat. Dann weiß sie natürlich aber auf der anderen Seite ganz genau, dass ein gewisser Teil, der auch im Parlament vertreten ist mit der AfD, völlig ungeneigt ist, diese wissenschaftlichen Erkenntnisse zu nehmen, und dass auch kein ganz kleiner Teil in der Bevölkerung das ähnlich sieht. Das ist die eine Dimension, wo sie gemerkt hat, das sind die Grenzen meiner Macht.
"Weit, weit mehr Reputation und Autorität als jeder andere Politiker"
Münchenberg: Sie treibt, sie fordert, sie mahnt, sie versucht, eine klare Richtung vorzugeben. Gleichzeitig, haben Sie jetzt auch gesagt, stößt sie an die Grenzen ihrer Macht. Könnte die Kanzlerin am Ende doch auch an Corona scheitern?
von Lucke: Das glaube ich in der Tat nicht mehr. Denn wenn man sich bewusst macht, wie ihre Werte sind, ist Corona die Wende gewesen, der Game Changer, wie wir heute sagen, der Angela Merkel noch einmal auf ganz andere Höhen katapultiert hat. Das ist ja die eigentliche Ironie dieses Jahres. Wir sind in das Jahr gestartet mit einer ungeheuren Krise für die CDU/CSU insgesamt, aber nicht zuletzt für die CDU: dem Scheitern in Thüringen, dem Abgang von Annegret Kramp-Karrenbauer, einer führungslosen CDU, einer starken AfD und auch einer hoch angeschlagenen Kanzlerin, die eigentlich gar nicht mehr präsent war. Corona hat sie noch einmal in eine solitäre Stellung gebracht. Sie spricht auch heute als die Kanzlerin, die weit, weit mehr Reputation und Autorität genießt als jede andere Politikerin oder jeder andere Politiker im Lande. Aber trotzdem weiß sie, dass sie bei dieser Coronakrise in der Tat an die Grenzen des Möglichen stößt, denn sie hat erkannt und erkennen müssen, dass ohne die Tätigkeit und das Mitwirken der Bevölkerung alle Maßnahmen im Sande verlaufen. Deswegen ist von Anfang an – erinnern wir uns an die erste Rede im März – immer der Appell da gewesen, ich finde übrigens fast schon in überzogenem Maße auch die Danksagung an die Bevölkerung. Sie bedankt sich jedes Mal für die Mitarbeit. Sie ist fast demütig, ein fast absurder Punkt, weil in gewisser Weise tätigt die Bevölkerung ja auch aus Eigenschutz die Einhaltung dieser Maßnahmen. Aber Merkel weiß, das sind die Grenzen ihrer Macht.
"So etwas wie ein absolutes letztes Flehen"
Münchenberg: Lassen Sie mich da kurz einhaken. Das Stichwort Kommunikation haben Sie gerade angesprochen. Da war ja schon der Vorwurf oder die Frage, wird richtig kommuniziert, reicht es zu appellieren. Auf der anderen Seite kommt der Vorwurf, wenn zu harte Auflagen, dann ist das zu sehr von oben bestimmt.
von Lucke: Ich glaube das in der Tat nicht. Ich glaube manchmal, dass sogar diese Kommunikation (und auch im Falle der Kanzlerin) vielleicht sogar noch härter und entschiedener hätte sein müssen. Heute war es noch einmal – Sie haben ja auch da die Stelle gebracht – das Erinnern daran, und das war eigentlich ihr Flehen, wir gehen jetzt in die Gefahr, dass schon die nächsten zehn Tage verheerend und entscheidend sein könnten. Wenn wir vor Weihnachten den großen Fehler machen, uns zu sehr zu begegnen, und dann sogar das Weihnachtsfest quasi mit neuen Infektionen begehen, dann werden wir ein Superspreading erleben - so hat sie es nicht genannt, aber das hat sie gemeint - , das wir nicht mehr im Griff haben. Das war fast schon so etwas wie ein absolutes letztes Flehen, eigentlich auch Ausdruck dieser Hilflosigkeit. Ich glaube, manchmal hätte wieder die Schärfe fast noch stärker sein können. Ich glaube, die Kommunikation ist offensichtlich in Teilen der Bevölkerung immer noch nicht angekommen, denn wenn man die Sorglosigkeit zum Teil sieht, die in den Einkaufshallen herrscht, dann ist das, was sie mahnt, gesagt hat, immer noch nicht da. Insofern glaube ich, der Appell, das Appellierende kommt vielleicht an Grenzen. Aber auch das ist das Problem: Wir leben in einer Demokratie, die darauf angewiesen ist, auf ein Mitmachen. Man denkt ja manchmal, ist es eine Blut-, Schweiß- und Tränenrede, wie sie ein Churchill hat halten können, we will never surrender, wir werden niemals aufgeben. Das hat Merkel auch heute wieder definitiv nicht getan – aus einem schlichten Grund: Sie sieht, dass dieses endgültige heroische Agieren in der heroischen englischen Gesellschaft der Kriegszeit in einer postheroischen Gesellschaft, die offensichtlich ihren Freiraum und ihre Freiheiten enorm verteidigt, dass das kaum möglich ist. Auch hier zeigt sich: Das ist ihre Begrenzung.
Münchenberg: Nun sind wir natürlich auch nicht in Kriegszeiten, Herr von Lucke. Noch eine Frage, das wurde ja heute auch deutlich. Es heißt ja immer wieder, die Auflagen sind zu hart, zu weich, sie kommen zu früh, sie kommen zu spät. Ist am Ende nicht auch Politik mit dieser Pandemie ein Stück weit einfach überfordert?
von Lucke: In der Tat! Das ist das absolute Novum, was wir mit dieser Pandemie erleben, und ich glaube, auch das wird am Ende dieses Jahres – und heute haben wir es ein Stück weit erlebt; sie hat es ja auch noch einmal deutlich gesagt, die Kanzlerin: Eine Jahrhundertkrise in ihrer Kanzlerschaft – und sie hat derartig viele Krisen erlebt, von der Finanzkrise über die Eurokrise, die Griechenland-Krise, die Flüchtlingskrise. Diese Pandemie ist noch mal von einer ganz eigenen Qualität, weil sie tatsächlich zeigt, wie begrenzt die Handlungsmöglichkeiten sind, und übrigens nicht in finanzieller Art. Das war ganz ironisch. Sie sagte auch fast lapidar, das Geld ist da. Es ist nicht das primär Finanzielle, was ihr im Wege steht. Nein, es geht um die Frage, wie weit kann eine Politik die Bevölkerung überhaupt noch erreichen und mitnehmen, dass diese willens ist, die verordneten Maßnahmen wirklich umzusetzen. Das macht das originär Neue dieser Krise aus.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.