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Belletristik
Der Mann, der die Pest besiegte

Der französische Schriftsteller Patrick Deville schreibt, wie er selbst sagt, "nicht-fiktionale Abenteuerromane". In "Pest & Cholera" lässt er uns in das Leben des Schweizer Arztes und Forschungsreisenden Alexandre Yersin hinabtauchen, der den Impfstoff gegen die Pest entwickelte.

Von Christoph Vormweg |
    Eine Frau wird 2002 in Indien auf der Quarantänestation von Ärzten untersucht, nachdem sie mit Symptomen der Lungenpest eingeliefert worden war.
    Auch heutzutage ist die Pest noch nicht völlig ausgerottet.Aber sie ist nicht mehr unheilbar. (picture alliance / dpa)
    Patrick Deville arbeitet wie ein seriöser Biograf. Monatelang hat er im Pariser Institut Pasteur die Briefe von Alexandre Yersin an andere hochkarätige Wissenschaftler analysiert – dazu die Korrespondenz mit Mutter und Schwester. Und er ist in die Schweiz gereist, wo Alexandre Yersin 1863 geboren wurde, nach Marburg und Berlin, wo er studierte, und nach Vietnam, wo er starb. Doch ist sein Buch "Pest & Cholera" keine Biografie jenes Mannes, der durch die Identifizierung des Pestbazillus berühmt wurde.
    Abenteurromane ohne Fiktionen
    Patrick Deville, der zuletzt mit Werken über den Glücksritter William Walker in Mittelamerika und über den Afrika-Erforscher Pierre Savorgnan de Brazza auf sich aufmerksam machte, hat eine ganz eigene literarische Gattung kreiert.
    "All diese Bücher sind Abenteuerromane ohne Fiktionen, also Romane, die nichts hinzuerdichten. Der Unterschied liegt in den formalen Freiheiten, die ein Biograf nicht haben kann: in der Idee, nach dem Modell von Plutarch beispielsweise die Leben von Yersin und Rimbaud parallel zu setzen. So etwas gibt es in keiner Biografie. Denn die beiden sind sich nie begegnet. Yersin hat Rimbaud nicht gelesen, Rimbaud nichts von Yersin gehört. Denn Rimbaud stirbt vor der Entdeckung des Pestbazillus, der Yersin bekannt macht. Dennoch sind sie Zeitgenossen. Mehr noch: Der letzte Text Rimbauds ist ein Forschungsbericht über Aden, der von der "Geographischen Gesellschaft" veröffentlicht wird, vier Jahre bevor auch Yersin für die "Geographische Gesellschaft" schreibt. Hinzu kommen die Briefe an Mutter und Schwester. Ich sah also viele Gemeinsamkeiten mit dem sogenannten "zweiten Rimbaud", der die Poesie aufgibt und in die Ferne reist, der von Wissenschaft und Fortschritt träumt, als Yersin diesen Traum verwirklicht."
    Das Spiel mit den historischen Fakten
    Arthur Rimbaud ist nicht die einzige Parallelexistenz, die im Roman "Pest & Cholera" auftaucht. Auch andere französische Schriftsteller, die es Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in die Ferne trieb, finden Erwähnung: etwa Pierre Loti oder Blaise Cendrars. Mit anderen Worten: Patrick Deville jongliert mit extrem vielen historischen Fakten. Umso mehr erstaunt es, dass sein Roman nie die Spannung verliert. Das liegt zum einen an seiner knapp geschnittenen, zupackenden Prosa, deren Rhythmus Sabine Müller und Holger Fock hervorragend ins Deutsche übertragen haben. Zum anderen überzeugt der Plot mit seinen zahllosen Zeitsprüngen und Ortswechseln.
    Der Roman beginnt mit dem letzten Flug im Leben des Alexandre Yersin: In Sommer 1940, als die deutsche Wehrmacht gerade den Norden Frankreichs erobert. Wir fragen uns also bis zum Schluss, ob der 77-Jährige wirklich sein Ziel in Vietnam erreichen wird. Zwischen den Beschreibungen des Flugs mit all seinen Tank-Stopps, die damals noch nötig waren, erzählt Patrick Deville die Lebensstationen des gelernten Arztes. Was gar nicht so einfach ist. Denn der Entdecker des Pestbazillus ist ein detailvernarrter Forscher, der die Einsamkeit liebt. Es gibt keine Exzesse zu berichten, keine Frauengeschichten, nicht einmal eine Ehe. Dennoch ist Alexandre Yersin alles andere als ein Beamtentyp. Denn die Karriere am berühmten Pariser Institut Pasteur, die ihm zweifellos den Nobelpreis eingebracht hätte, bricht er nach wenigen Jahren aus Langeweile ab. Lieber erkundet er Südostasien: als Schiffsarzt, als Leiter von Dschungelexpeditionen, als Gründer eines Forschungszentrums in Vietnam.
    Auf den Spuren eines ruhelosen Geistes
    Patrick Deville begibt sich mehr als ein Jahrhundert später auf die Spuren dieses ruhelosen Geistes. Sein Alter Ego nennt er im Roman das "Gespenst aus der Zukunft", "einen Rechercheur und Schreiber", "bewaffnet" mit einem in Maulwurfsleder eingebundenen Notizbuch:
    "Ein großer Teil der Arbeit ist vollkommen rational: die Reisen, die Treffen, die Recherchen, die Konstruktion. Wenn man dann aber losschreibt, ändert sich das. Deshalb ziehe ich es persönlich vor, diese beiden Tätigkeiten zu trennen. Ein Beispiel: Die Entscheidung, den Erzähler in die dritte Person Singular zu setzen, ist eine rationale Entscheidung. Denn ich wusste, dass ich Auszüge aus den Briefen Yersins in der Ich-Form zitieren wollte. Das regelt also der Verstand. Wenn ich aber erst einmal schreibe und diesen Erzähler habe und entscheide, dass er 1935 vergessen hat, sein Handy auszuschalten, und ihn die Polizei festnimmt und er zugibt, aus dem Jahr 2012 zu kommen, dann ergibt sich das im Schreibprozess. Das ist nichts, was ich mir vorher ausgedacht hätte. Das ist etwas, was einfach so kommt."
    Obsessive Wissenswut
    Und Patrick Devilles Erzähler mischt sich immer wieder ein: sei es mit schlagfertigen politischen Kommentaren zu Antisemiten oder Kolonialisten, sei es mit ironischen Seitenhieben. So beklagt er sich darüber, dass Alexandre Yersin "immer alles" habe wissen müssen und er, der Erzähler, deshalb Hunderte Notizbücher mit staubtrockenen Informationen durchstöbern musste. Und in der Tat: Yersin will einfach alles begreifen. Seine Wissenswut ist obsessiv.
    Auf so gut wie allen Spezialgebieten, für die er anfängt sich zu interessieren, entwickelt das Multitalent einen ganz eigenen genialen Zugriff: ob nun bei seiner Hobbytätigkeit als Automechaniker oder bei der gelungenen Akklimatisierung des Kautschuk- und des Chinarindenbaumes in Vietnam, die ihm viel Geld einbringt. Der vaterlos aufgewachsene Sohn eines Insektenforschers entpuppt sich als Autodidakt par excellence. Kein Wunder also, dass Patrick Devilles Recherchen für seinen Roman "Pest & Cholera" mehrere Jahre in Anspruch nahmen.
    "Im Anschluss daran gibt es eine zweite Phase, die einige Monate dauert: die der Konstruktion. Das ist die wahre Arbeit: die Unterteilung in Kapitel. Danach kommt das Schreiben, eine Phase, die ich immer sehr kurz halten will: im Allgemeinen zwei Monate von Anfang bis Ende. Denn alles ist ja bereits konstruiert und vorbereitet. Ich schreibe sehr schnell und nur eine Version. Das ist besser so. Ich schließe mich dann in einem Hotelzimmer in der Gegend ein, wo der Roman spielt. Mein Buch "Der Mexikaner", das im September erscheint, habe ich gerade in Mexiko fertig geschrieben, "Pest & Cholera" in Vietnam, "Kampuchea" in Kambodscha – auf dieselbe Art, eingeschlossen in Hotelzimmern oder in einem Appartement."
    Alexandre Yersin hat mit seiner Entwicklung des ersten Impfstoffes gegen die Pest in China zahllosen Menschen das Leben gerettet. Als Antreiber des wissenschaftlichen Fortschritts ist er aber trotz der Weltkriege nicht schuldig geworden. Zum einen hat ihn sein Fernweh gerettet, zum anderen seine feste Überzeugung, dass Politik "Schmutz" sei. Der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts grassierende Rassismus war ihm genauso fremd wie der Glaube an die Revolution. Die Widersprüche dieser entgleisenden Epoche hält Patrick Deville mit seiner Konzeption der parallelen Existenzen immer im Blick. Umso faszinierender wirkt die manchmal kindlich anmutende, aber immer wohltätige Wissenswut des Alexandre Yersin, die dem Roman "Pest & Cholera" seinen inneren Motor verleiht. Am Ende überrascht es auch nicht, dass der alternde Asket nach der Meteorologie auch noch die Literatur entdeckt. Nur hat Alexandre Yersin da leider nicht mehr die Zeit, sein Genie auch selbst zu erproben.
    Rezensent: Christoph Vormweg.
    Patrick Deville: Pest & Cholera. Roman.
    Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
    Bilgerverlag, Zürich 2013. 243 Seiten, 19,90 Euro.