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Belletristik
Die "Spiegel"-Bestsellerliste vom Februar 2014 in der Rezension

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Kommentiert von Denis Scheck | 21.02.2014
    Geschult an Literatur, ist dieses Gehirn jedenfalls gefeit gegen Unsinn wie jüngst von Maxim Biller in der "Zeit", der die deutsche Gegenwartsliteratur in Juden, Migranten und Nazi-Enkel auseinanderzudividieren versucht. Steht Literatur nicht gerade für die Befreiung von den engen Identifikationsangeboten der Religionen, Ethnien, Ernährungs- oder Sexgewohnheiten? So warten wir weiter auf den Lessing unserer Tage.
    Platz 10: Yasmina Reza: "Glücklich die Glücklichen". (Deutsch von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkels, Hanser, 176 Seiten, 17,90 Euro)
    Die Französin Yasmina Reza ist die erfolgreichste Dramatikerin der Welt. In ihrem an die Struktur von Schnitzlers "Reigen" angelehnten Roman erzählt sie von Entfremdung und Einsamkeit, Seitensprüngen und den Schlachten des Alltags und dekliniert unter der Oberfläche des Banalen elegant die ganz großen Fragen des Lebens durch. Das legt einen Vergleich mit der ziselierten Prosa des deutschen Dramatikers Botho Strauß nahe: Yasmina Reza ist leichter, direkter und gefälliger, aber keineswegs trivial.
    Platz 9: Timur Vermes: "Er ist wieder da" (Eichborn, 400 Seiten, 19,33 Euro)
    Ein alberner Nazi-Porno über einen im heutigen Berlin wiederauferstandenen Adolf Hitler, eine schlechte und viel zu breit ausgewalzte Satire, die sich nun wirklich lange genug in der deutschen Bestsellerliste festgekrallt hat.
    Platz 8: Khaled Hosseini: "Traumsammler" (Deutsch von Henning Ahrens, S. Fischer, 448 Seiten, 19,99 Euro)
    Scheck: Hänsel und Gretel in Afghanistan: dieser Roman ist eine Art Wischmob, der alles an Klischees zusammenfegt, was man über das Land am Hindukusch zu wissen glaubt. Stilistisch hilflos, inhaltlich indiskutabel.
    Denis Scheck, Literaturredakteur im Deutschlandfunk
    Denis Scheck, Literaturredakteur im Deutschlandfunk (Deutschlandradio - Bettina Fürst-Fastré)
    Platz 7: John Williams: "Stoner" (Deutsch von Bernhard Robben, Dtv, 352 Seiten, 19,90 Euro)
    Für manche Menschen ist die Liebe ihres Lebens ein Shakespeare-Sonett. So geht es dem Helden dieses berührenden Romans, der sich in die englische Sprache verliebt, als er im College ein Sonett von William Shakespeare hört. Stoner heißt dieser Mann, der später dann ein ganz bescheidenes Leben als Englischprofessor führt und eine grässliche Ehe durchlebt. Der Clou: der Roman lässt die Frage, ob Stoners Leben nun gelungen oder gescheitert ist, in reizvoll ambivalenter Schwebe. Ein kleines Meisterwerk.
    Platz 6: Lucinda Riley: "Die Mitternachtsrose" (Deutsch von Sonja von Hauser, Goldmann, 576 Seiten, 19,99 Euro)
    Die Handlung dieses Schmachtfetzens darf man sich auf der Zunge zergehen lassen: eine einhundertjährige Inderin mit paranormalen Fähigkeiten beauftragt ihren Urenkel, nach dem Verbleib ihres Sohnes zu forschen, den sie nach dem Ersten Weltkrieg in England zur Welt gebracht und als Dreijährigen dort zurückgelassen hat, als sie nach Indien heimkehrte und mithilfe eines vergrabenen Rubins zu Vermögen kam. Die Spur führt den Urenkel in ein Herrenhaus im Dartmoor, wo ein Lord residiert, mit dessen Vorfahr Uroma einst eine Liebschaft hatte, aus der ihr Sohn hervorging. Zufällig dreht eine weltberühmte junge amerikanische Schauspielerin namens Rebecca - ja, Daphne du Maurier lässt heftig grüßen! - einen Film in diesem Herrenhaus, die wiederum jener Amerikanerin aufs Haar gleicht, die in den 20er Jahren der Lord der indischen Großmutter heiratete, um seinen überschuldeten Besitz zu retten. Der Dreijährige von einst ist inzwischen als hochbetagter Kinderarzt verstorben, die amerikanische Schauspielerin wirft sich statt ihrem koksenden Starkollegen dem jungen Inder in die Arme - und wir, wir lassen fein die Hände von diesem Humbug und lesen statt dessen einen wirklich guten Herrenhaus-Roman, nämlich "Wiedersehen mit Brideshead" von Evelyn Waugh.
    Platz 5: Sebastian Fitzek: "Noah" (Bastei-Lübbe, 560 Seiten, 19,99 Euro)
    Für die Wahl seines neuen Thrillerthemas ist Sebastian Fitzek unbedingt zu loben: Überbevölkerung ist tatsächlich die größte Herausforderung der Menschheit, auch wenn uns der moralisierende Autor in seinem Nachwort einreden möchte: "Überbevölkerung ist nicht das primäre Problem."
    Aber Fitzeks Behandlung dieses Themas fällt tatsächlich noch kruder und eindimensionaler aus als bei Dan Brown: "Noah" zu lesen ähnelt Fitzeks Schilderung der Bemühung einer Slumbewohnerin in Manila, aus Steinen Suppe zu kochen. So gibt es im 21. Jahrhundert nicht nur zu viele Menschen, sondern auch zu viele Büchern.
    Platz 4: Haruki Murakami: "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" (Deutsch von Ursula Gräfe, Dumont, 350 Seiten, 19,99 Euro)
    Während seiner Schulzeit war der Titelheld Tsukuru Tazaki mit drei Jungs und einem Mädchen aufs Engste befreundet. Diese Freundschaft wird ihm mit Anfang 20 von einem Tag auf den anderen gekündigt. Tsukuru Tazaki stürzt daraufhin in eine Depression, die ihn bis an den Rand des Selbstmords führt. Selbst 16 Jahre später ist Tsukuru Tazaki noch traumatisiert - so sehr, dass seine Geliebte darauf besteht, dass Tsukuru eine Recherche zu den Freunden seiner Vergangenheit unternimmt, quasi eine Pilgerreise zu sich selbst. "Tsukuru" heißt als Verbum im Japanischen "etwas machen" oder "etwas herstellen", und natürlich haben wir mit dem Ingenieur Tsukuru Tazanaki eine japanische Version von Max Frischs "Homo faber" vor uns. Wie Murakami aus diesem Zusammenbruch eines Weltbilds erzählerisches Kapital schlägt und dabei souverän die heikle Balance zwischen Literatur und Lebenshilfe hält, ohne je in Kitsch abzugleiten, zählt zu den großen Lesefreuden dieses Frühjahrs.
    Platz 3: Graeme Simsion: "Das Rosie-Projekt" (Deutsch von Annette Hahn, Krüger, 352 Seiten, 18,99 Euro)
    Don Tillmann ist Ende 30, Professor an einem Institut für Genetik und hat seinen Tagesablauf ausschließlich nach Kriterien der Effizienz optimiert. Genau so möchte er nun mithilfe eines seitenlangen Fragebogens auch eine Ehefrau finden. Und gerät an die chaotische Rosie, die ihren Vater sucht. Mit Verlaub: so schlicht ist mein Gemüt denn doch nicht gestrickt, dass ich mich mit einer solchen Parade billigster Pointen zufriedengeben kann.
    Platz 2: Jonas Jonasson: "Die Analphabetin, die rechnen konnte" (Deutsch von Wibke Kuhn, Carl’s Books, 448 Seiten, 19,99 Euro)
    Weniger ein Roman als ein Unterhaltungsautomat: Jonasson hat mit seiner Geschichte über ein mathematisches Supertalent aus Soweto und eine nach Schweden verirrte Atombombe eine Art Literaturflipper konstruiert. Lustig, literarisch aber bloßes Gedaddel.
    Platz 1 der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Belletristik:
    Simon Beckett: "Der Hof" (Deutsch von Juliane Pahnke, Wunderlich, 464 Seiten, 19,95 Euro)
    Ein Brite flüchtet vor einer Straftat auf einen Schweinezüchterhof in Frankreich mit zwei schönen Frauen, wo noch die Werte der Provinz hochgehalten werden: Gewalt, dumpfe Selbstzufriedenheit und Inzest. Wollte man den Entwicklungsstand dieses Thrillers auf der Evolutionslinie des Automobils ansiedeln, er wäre eine Kutsche. Mit drei Rädern.