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Ben Ferencz wird 100
Der unermüdliche Advokat für den Frieden

Der US-Amerikaner Ben Ferencz ist der letzte noch lebende Chefankläger der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kämpft er für eine friedlichere Welt. Er meint: "Krieg macht aus sonst anständigen Menschen Massenmörder."

Von Rita Schwarzer | 11.03.2020
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Benjamin Ferencz beim Memorium der Nürnberger Prozesse im Jahr 2010 (picture alliance / dpa)
Von Ben Ferencz bescheidenem Bungalow in Delray Beach zu Donald Trumps pompösen 126-Zimmer-Palazzo Mar-a-Lago sind es knapp 30 Kilometer. Doch zwischen den beiden Männern liegen Welten: Ben Ferencz ist klein und schmächtig. Er hat einen scharfen Verstand und ein sonniges Gemüt. Er ist immer liebenswürdig und respektvoll - und er macht sich nichts, aber auch rein gar nichts aus Golf:
"Ich finde es lächerlich, meine Zeit damit zu verbringen, einen Ball in ein Loch zu schlagen. Ich kann mir nichts Nutzloseres vorstellen!"
Ben Ferencz. 100 Jahre alt wird er heute. Und noch immer ist er frischer und fitter als manch ein 50-Jähriger. Nicht nur geistig. Auch körperlich hält sich der Mann in Form. Jeden Morgen das gleiche imposante Fitnessprogramm, stets gekrönt vom selben Highlight.
"Zum Schluss absolviere ich meine weltberühmten Push-ups. Heute Morgen brachte ich es auf 80 Stück. Bis vor kurzem schaffte ich 100, aber einer meiner Ärzte fand, ich solle besser etwas drosseln. Also mache ich 70 oder 75. Heute war ein guter Tag, heute waren es 80."
Befreiung der Konzentrationslager
Von Statur mag Ben Ferencz mit 1,54 Meter zwar klein sein, aber als letzter noch lebender Chefankläger der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse und als unermüdlicher Advokat für den Frieden gehört er zu den ganz Großen unserer Zeit:
Während des Zweiten Weltkriegs ermittelte der Harvard-Absolvent im Auftrag des US-Militärs gegen deutsche Kriegsverbrecher. - Bei der Befreiung der Konzentrationslager war er stets einer der ersten an Ort und Stelle.
"Das erste Lager war ein Ableger des Konzentrationslagers Buchenwald. Bei meiner Ankunft fuhren gerade amerikanische Panzer auf, die SS rannte davon, die Leichen lagen auf dem Boden, das Krematorium war noch in Betrieb."
Ein Schwarz-Weiß-Foto des Chefanklägers der Nürnberger Prozesse Ben Ferencz in jungen Jahren.
Der Chefankläger der Nürnberger Prozesse Ben Ferencz in jungen Jahren. (Ben Ferencz)
Nach Kriegsende war es wiederum Ben Ferencz, der dafür sorgte, dass ein als "geheime Reichssache" getarnter Genozid öffentlich wurde und in Nürnberg vor Gericht kam: die systematische Massenerschießung von über 1.000.000 meist jüdischer Zivilisten durch sogenannte "Einsatzgruppen" der SS in Osteuropa. Ben Ferencz wurde zum Chefankläger gegen 24 Kommandeure dieser SS-Killer-Kommandos. Er war damals gerade einmal 27 Jahre jung und hatte keinerlei Prozesserfahrung. Die Presseagentur AP bezeichnete das "Einsatzgruppen"-Tribunal damals als "größten Mordprozess in der Geschichte der Menschheit".
Ben Ferencz im Jahr 1947: "Dies war die tragische Erfüllung eines Programms der Intoleranz und Arroganz. Rache ist nicht unser Ziel. Auch suchen wir nicht bloß nach einer gerechten Vergeltung. Stattdessen bitten wir dieses Gericht, durch Anwendung des Internationalen Strafrechts das Grundrecht jedes Menschen auf ein Leben in Frieden und Würde zu bekräftigen, unabhängig von seiner Rasse oder seines Glaubens. Der Fall, den wir präsentieren, ist ein Appell der Menschheit an das Recht."
Was Ben Ferencz während des Zweiten Weltkriegs und als Chefankläger im "Einsatzgruppen"-Prozess erlebte, hat ihn für den Rest seines langen Lebens geprägt. – Viele Jahre setzte sich der aus ärmsten Verhältnissen stammende Jurist für die Restitution der Überlebenden und Nachkommenden des Holocaust ein und für die Entschädigung der Zwangsarbeiter.
Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag
Als die USA Ende der 60er-Jahre immer tiefer im Sumpf des Vietnamkriegs zu versinken drohten, beschloss er, seine Anwaltstätigkeit aufzugeben und den Rest seines Lebens nur noch für den Weltfrieden zu arbeiten. Er begann Bücher, Artikel und Leserbriefe zu schreiben, hielt zahllose Vorträge, meist in kleinen, friedensbewegten Zirkeln junger Leute. Er saß jahrelang als unbezahlter Beobachter bei den Vereinten Nationen und lobbyierte dort für eine übergeordnete Sanktionsmacht nach Nürnberger Vorbild. Anfänglich verspottet und verlacht, wurde er Ende der 80er-Jahre zu einem wichtigen und geachteten Protagonisten des heutigen Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag.
Noch in hohem Alter erhebt der renommierte Völkerrechtler seine Stimme gegen jede Art von kriegerischer Aggression: In "Prosecuting Evil", einem berührenden kanadischen Filmporträt, das erst auf Streaming-Plattformen in Nordamerika zu sehen ist, mahnt Ben Ferencz zum Beispiel:
"Krieg macht aus sonst anständigen Menschen Massenmörder. Seien es nun Amerikaner, Deutsche oder jemand sonst. Das ist die Wirkung des Krieges. Meine Antwort darauf ist: Stoppt den Krieg."
"Was ich gesehen habe, hat mich derart traumatisiert, dass ich nicht aufhören kann"
Noch jetzt ist Ben Ferencz immer am Arbeiten. Manchmal bis zu 12 Stunden am Tag. Er beantwortet seine elektronische Post, liest Fachliteratur, hält Vorträge, gibt Medien in aller Welt Interviews. - Was hält diesen kleinen, großen Mann, der 100 Jahre alt wird, davon ab, etwas kürzer zu treten und gelegentlich eine Pause einzulegen? Es muss ja nicht unbedingt Golfen oder Angeln sein?
"Ich habe keine Wahl. Was ich gesehen habe, hat mich derart traumatisiert, dass ich nicht aufhören kann. Ich arbeite dauernd und ich arbeite für etwas im Grunde ganz Einfaches: Recht nicht Krieg. Regelt eure Konflikte friedlich, so, wie es die Charta der Vereinten Nationen verlangt. Gelingt euch dies nicht, werdet ihr nicht imstande sein, jemals die Tragödien zu verhindern, die sich noch immer abspielen: die Missachtung des Rechts eines jedes Menschen auf ein friedliches Leben, unabhängig von Rasse, Glaube oder wirtschaftlichen Verhältnissen. - Aber es verlangt eine Umerziehung schon im frühesten Kindesalter, um die Herzen und das Denken der Menschen zu ändern. Damit sie verstehen: Wir sind alle Teil einer einzigen, großen Familie. Und wir müssen den Ressourcen unseres Planeten Sorge tragen, damit wir alle in Frieden und Würde leben können."