Mit Benedikt Weibel meldet sich in der Debatte jemand zu Wort, der das Mobilitätsgeschäft kennt wie wenige andere. Seit vier Jahrzehnten stellt er die Weichen in europäischen Verkehrsunternehmen, 13 Jahre lang war er Chef der Schweizerischen Bundesbahn SBB. Dort also, wo die Züge pünktlich fahren, mit Panoramafenstern und sauberen Toiletten. Trotzdem spricht Weibel nicht von der Kanzel herab. Im Gegenteil: Er stößt das Thema Verkehrswende vom ideologischen Sockel und erzählt die Geschichte der Mobilität kompakt und humorvoll noch einmal von vorne – vom Römischen Reich bis heute, mit allen markanten Stationen:
„Einige Erkenntnisse aus dem Fahrradbau übernehmend tüftelten findige Geister an einem Gefährt, für das es noch keinen Namen gab. Der bekannteste unter ihnen war Henry Ford. 1875, er war zwölf Jahre alt, begegnete er das erste Mal in seinem Leben einem nicht von Pferden gezogenen Fahrzeug, einer Lokomobile. Es bestand ‚aus einer primitiven fahrbaren Maschine mit Kessel und einem hinten angekoppelten Wassertank und Kohlekarren‘. Wenig später hieß das Ding Automobil, und bereits 1906 exponierte sich die deutsche Allgemeine Automobil-Zeitung mit einer gewagten Vorhersage: ‚Das Auto, es will dem Menschen die Herrschaft über Raum und Zeit erobern.‘“
Muster der Mobilität sitzen fest
Der historische Exkurs ist die Voraussetzung für ein tieferes Verständnis. Für die Einsicht, warum die Verkehrswende ein so mühseliges Geschäft ist. In den Köpfen müsste sie stattfinden. Doch solange Eltern ihre Sprösslinge im SUV zur Schule fahren, die Sonntagsbrötchen beim Bäcker mit dem Auto besorgt werden und gestresste Geschäftsreisende von Frankfurt nach Berlin fliegen, ist offenkundig: Genau dort, in den Köpfen, bewegt sich wenig. Die Muster unseres Mobilitätsverhaltens sind uns kulturell eingebrannt.
„Die uneingeschränkte Mobilität ist längst zu einem Wesensmerkmal des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats geworden. Die freie Verkehrsmittelwahl zu ihrem Dogma.“
Wie also können die Grenzen der Mobilität so klug gezogen werden, dass wir „Mobilitätsmenschen“ uns auch künftig noch an unserer Bewegungsfreiheit erfreuen können, ohne die Grundlage des Lebens auf diesem Planeten zu zerstören?
Künstliche Intelligenz in der Bahn-Betriebsleitzentrale
Weibels zentrale These lautet: An erster Stelle müssen die brachliegenden Potenziale bestehender Verkehrsmittel genutzt werden – mithilfe von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz.
„Wie würde man heute, auf der grünen Wiese, mit all den Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet, ein Zugsteuerungssystem konzipieren? These: Mit Radarkameras (die Objekte auf dem Gleis erkennen), drahtloser Übertragung, Sensorik und künstlicher Intelligenz in einer Betriebsleitzentrale könnten Sicherheit und Kapazität erhöht und gleichzeitig die Kosten reduziert werden. Ein idealeres Anwendungsgebiet für künstliche Intelligenz als eine Bahn-Betriebsleitzentrale lässt sich kaum denken.“
Auf knapp 200 Seiten leuchtet Weibel alle Dimensionen der Mobilität aus, die ökonomische, psychologische und soziale, die individuelle, politische und historische Ebene: Velo und Auto, Bus und Fußverkehr, Schifffahrt und Flugzeug, Öffentlicher Verkehr und Micromobility. Eines der größten Probleme sieht der promovierte Betriebswirt in der „wesensfremden“, also inadäquaten Nutzung von Verkehrsmitteln. Das Auto in der Großstadt ist das Paradebeispiel:
„Über die Hälfte aller Autoetappen sind kürzer als zehn Kilometer. Es mag gute Gründe für Kurzdistanzfahrten mit dem Auto geben, was aber einen derart hohen Anteil nicht rechtfertigt. Die gute Nachricht: Hier besteht ein großes und leicht umsetzbares Optimierungspotenzial. Der wesensgerechte Einsatz eines Verkehrsmittels kann durch technologische Entwicklungen verändert werden. Den größten Sprung machte in der jüngeren Vergangenheit das Fahrrad. Mit dem E-Bike wurden Reichweite und Geschwindigkeit in einer Weise verbessert, dass der Privatwagen im urbanen Verkehr seinen Vorteil sogar bei der Geschwindigkeit verloren hat.“
Weibel ist nicht grundsätzlich gegen das Fliegen
Weibel plädiert dafür, die Autos schrittweise aus den Innenstädten zu verbannen. Unumstritten ist für ihn dabei die Notwendigkeit der monetären Steuerung, etwa nach dem Vorbild des „Verkehrslaboratoriums“ Singapur. Dort wurde bereits 1975 eine nach Tageszeit variable Citymaut eingeführt und das Autofahren seither konsequent verteuert. Auch die Parkplatzbewirtschaftung trage ihren Anteil an der Veränderung. Da jubelt die grüne Seele, an anderer Stelle hingegen nicht: etwa wenn Weibel ausgerechnet die Renaissance der Nachtzüge kritisiert und das Fliegen nicht grundsätzlich verteufelt.
Am Ende seines Buches definiert der Autor konkrete Aktionsfelder und listet elf „Werkzeuge“ auf – von der Infrastruktur- und Raumplanung über die Umwidmung von Verkehrsflächen bis hin zu Kommunikationskampagnen. Weibels Fazit:
„Die Verkehrswende ist zwingend und dringend. Sie ist machbar, auch finanziell, und in einer Weise umsetzbar, dass die Freiheit der Mobilität erhalten bleibt und die Lebensqualität steigt. Die Ingredienzen, die es für die Umsetzung braucht, sind politischer Wille, Bewusstsein für die Dringlichkeit, technischer Fortschritt sowie tatkräftige, kluge Köpfe in einer effizienten Umsetzungsorganisation.“
Weibel liefert genau das, was man von einem Experten erwartet: strategische Ideen, konkrete Vorschläge, unterhaltsam und mit humanistischem Weitblick beschrieben. Vielleicht beginnt die persönliche Verkehrswende für den einen oder die andere genau hier.
Benedikt Weibel: „Wir Mobilitätsmenschen. Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr“. NZZ Libro, 200 Seiten, 34 Euro.