Die Lebensgeschichte des einstigen KZ-Häftlings Ben Lesser ist die Geschichte einer Wiedergeburt.
"Ich wurde befreit in Dachau. Und zwei Tage später wurde ich bewusstlos. Sie haben mich dort in einen Graben gelegt, dann in ein Krankenhaus auf dem Gelände in Dachau. Und das ist das Letzte, an das ich mich erinnere. Dann bin ich hier aufgewacht, es könnte einer dieser Räume hier gewesen sein. Es war ein Krankensaal. Zwei Monate später."
Ben Lesser, 89 Jahre alt (*), geboren in Krakau als Kind einer jüdischen Familie, verdankt diesem Ort sein Leben - einem Kloster in Bayern.
"Die Leute in St. Ottilien haben mich so wunderbar behandelt. Sie waren so überrascht, als ich aus dem Koma erwacht bin. Und dann brachte mir die Krankenschwester einen Spiegel, damit ich mich sehen konnte. Und ich sah in den Spiegel - und sah ziemlich gut aus. Weil ich ja davor ein Muselmann war."
Unbemerkt von der SS wurden jüdische Überlebende gepflegt
Muselmann - so bezeichneten KZ-Insassen ihre ausgehungerten Mithäftlinge. Das medizinische Personal in St. Ottilien hatte Ben Lesser wieder aufgepäppelt. In der Benediktinerabtei St. Ottilien entstand kurz nach dem Krieg ein jüdisches Krankenhaus.
In diesen Tagen erinnert das Kloster an seine Geschichte mit einer großen Ausstellung; Zeitzeugen und Forscher wurden zu einer Tagung eingeladen. Etwa Peter Kubierschky, heute 88 Jahre alt. Während des Krieges arbeitete sein Vater als Arzt im Kloster. Es war seit 1941 von der Wehrmacht beschlagnahmt und diente als Lazarett für deutsche Soldaten.
"Das war drei Tage, bevor die Amerikaner hier einrückten, da hat er uns besucht, und hat erzählt: Stell dir vor, gestern war ein jüdischer Arzt bei uns in Ottilien. Und zwar war ja in Schwabhausen dieser Fliegerangriff auf den Zug, weil die Amerikaner nicht wussten, dass da nun ehemalige KZler in dem Zug sind."
Dieser jüdische Arzt war Dr. Zalman Grinberg, aus Litauen ins Dachauer Außenlager Kaufering deportiert. Er nahm die Rettung der Überlebenden des Fliegerangriffs in die Hand. Er überzeugte die Ärzte des Wehrmachtslazaretts in St. Ottilien, einen nicht belegten Saal für jüdische KZ-Häftlinge freizumachen.
"Da war natürlich die Gefahr, wenn jetzt das die SS merkt, dann werden sie an die Wand gestellt. Das war ziemlich gefährlich für sie und deswegen stieß das dann auch auf Ablehnung."
Die Mönche wollten ihr Kloster zurück
Doch die siegreichen Amerikaner schafften Fakten. Aus den anfänglich 40 befreiten KZ-Häftlingen wurden schnell 200. Das stieß schnell auf weiteren Protest - und zwar bei den Benediktinern, die 1941 von den Nazis enteignet worden waren. Eva Wiecki sagt:
"Wir können aus den Dokumenten gut nachzeichnen, dass sie darüber nicht glücklich waren, dass sie sich eigentlich mit Kriegsende und mit Rückkehr der Mönche von der Front und der Zwangsarbeit oder aus anderen Klöstern, wünschten, ihren eigenen Lebensraum zurückzubekommen."
Eva Wiecki, Dozentin für Jiddisch an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat die Geschichte des Krankenhauses aufgearbeitet. St. Ottilien wurde in den ersten Nachkriegsjahren sehr schnell zu einem Lager für Displaced Persons. Für die in ganz Europa verstreuten Holocaust-Überlebenden war St. Ottilien Zwischenstation auf ihrem Weg nach Amerika, Australien - oder Palästina und später Israel.
"Politisch war St. Ottilien insofern auch wichtig, weil wir im Juli 1945 auch Vertreter der Überlebenden aus den verschiedenen Besatzungszonen hatten. Das heißt, es war so eine Art Keimzelle der Selbstvertretung, der jüdischen politischen Interessenvertretung. Das waren so zwei Sachen, das eine ist ja die eigene Vertretung hier vor Ort, das andere ist: Politisierung im Interesse der zionistischen Ideologie. Ja. Deswegen war ja auch Ben Gurion hier vor Ort, um das Ganze ein bisschen anzufeuern."
Der erste Talmud nach Kriegsende
Auch eine Talmud-Ausgabe verdankt St. Ottilien ihre Existenz. Julia Schneidawind, Historikerin am Lehrstuhl für Jüdische Studien der Ludwig-Maximilians-Universität München.
"In St. Ottilien wurde tatsächlich der erste Talmud nach dem Krieg gedruckt, aber auch der erste Talmud, der sozusagen von der amerikanischen Armee herausgegeben wurde, also das sind zwei Besonderheiten. Was wirklich erstaunlich ist, dass man so kurz nach Kriegsende die Möglichkeit hatte, diesen Talmud hier in St. Ottilien zu drucken."
Die Amerikaner hatten das Papier beschafft, drucken ließen zwei Rabbiner in der Klosterdruckerei. Diese Entdeckung belege, sagt Jeremias Schröder, Abtpräses von St. Ottilien, wie wichtig dieser Ort für die jüngere Geschichte der Juden in Europa sei. Er hat mehrere Bücher im Arm und steht zusammen im Gespräch mit amerikanischen Wissenschaftlern.
"Eine spannende Frage beim Symposium war jetzt: Welche Quellen wurden damals benutzt? Es ist ja sehr viel vernichtet worden, zusammengetragen, weggeräumt worden von den Nazis. Wo gab es denn noch Vorlagen für diesen Talmud? Und es gibt tatsächlich einige Talmudausgaben oder Teile des Talmudtextes, die schon in den 40er-Jahren in dieser Klosterbibliothek waren. Wir konnten aber noch nicht nachweisen, ob das jetzt die Vorlagen waren oder ob da andere Bücher genutzt worden sind."
"Bei den alten Mönchen gab es noch Ressentiments"
Die Benediktiner haben die Forscher eingeladen, die gemeinsame Geschichte vor Ort aufzuarbeiten. Doch möglich war das erst nach einem Generationswechsel, sagt Jeremias Schröder, Jahrgang 1964.
"Wir haben eigentlich erst sehr spät gemerkt, dass es bei den alten Mitbrüdern noch Reste von Ressentiments gab. Dass vor allem die Zeit direkt von 1945 bis '48 für die hiesigen Mitbrüder eher schwer war, weil sie das nicht leicht ertragen konnten, dass sie selber aus der Vertreibung zurückkamen und dann ihr Kloster anderweitig besetzt fanden. Das hat aber dann im Leben der Gemeinschaft keine Rolle mehr gespielt. Und bei der jüngeren Generation ganz im Gegenteil. Da ist es ein Kapitel der Geschichte dieses Ortes hier, unseres Klosters, auf das wir eigentlich stolz sind."
Optimismus und Fröhlichkeit - direkt nach dem Holocaust
Nach dem Krieg war St. Ottilien vor allem ein Ort der Hoffnung. Davon zeugen über 400 Kinder, zur Welt gebracht von jüdischen Paaren zwischen 1945 und '48. Baby Nr. 363 ist der Israeli David Avnid, der nun auf dem Podium die Geschichte seiner Eltern erzählt. Sie lebten in Polen und flohen vor Hitler nach Sibirien. Nach dem Krieg kamen sie nach München - und bekamen ihr Kind im nahen St. Ottilien:
"Die Jahre direkt nach dem Holocaust waren geprägt von großem Enthusiasmus, von viel Optimismus und Fröhlichkeit. Die Bilder meiner Eltern aus diesen zwei Jahren in München zeigen ein junges Paar, das sein Leben beginnt, das nicht ertrinken will in den Erinnerungen an die Schrecken des Holocaust, in dem Wissen, dass die Familie total zerstört war. Und um ganz offen mit Ihnen zu sein: Ich denke, dass ich in späteren Jahren kein Bild gesehen habe, auf dem mein Vater so glücklich aussah wie in seiner Zeit in St. Ottilien und München."
(*) Anmerkung der Redaktion: Anders als ursprünglich behauptet ist Ben Lesser 89 Jahre alt. Wir haben sein Alter korrigiert und entschuldigen uns für den Fehler.