Anselm Grün ist ein Phänomen. Seine Bücher erreichen Millionen-Auflagen; und kaum war die Corona-Pandemie ausgebrochen, legte der Benediktiner ein entsprechendes Buch vor: "Quarantäne! Eine Gebrauchsanweisung". Während die Kirchenleitungen sich mit theologischen Antworten auf diesen existenziellen Einschnitt zunächst schwertaten, veröffentlichte der Benediktinermönch bereits Ende März 96 Seiten. Sie wirkten für viele Leser wie ein Rettungsanker, wie Überlebenshilfe und Sinnstiftung.
Ende Juni hat der Bestseller-Autor bereits das nächste Buch vorgelegt - als vorläufige Bilanz und Reflexion dessen, was Menschen in unsicheren Zeiten durchleben und durchleiden. Es ist ein Corona-Buch. Aber es ist es auch mehr. Es hat den Titel: "Was gutes Leben ist: Orientierung in herausfordernden Zeiten".
Anselm Grün ist 75 Jahre alt und er lebt seit rund 55 Jahren als Ordensmann in der Abtei Münsterschwarzach. Katholiken nennen ihn Pater Anselm, im bürgerlichen Leben hieße er Wilhelm Grün.
Andreas Main: Pater Anselm oder Herr Grün, beschreiben Sie doch bitte mal Ihre Zelle, in der Sie in dieser Minute sitzen.
Anselm Grün: Gut, da ist ein Bett. Da sind zwei Schränke. Da ist ein Regal mit Büchern, ein kleiner Tisch mit meinem Laptop, an dem ich dann die Bücher schreibe.
Main: Ist das ein selbst gewählter Ort sozialer Distanzierung, des Abstands, der Quarantäne?
Grün: Ja, unsere Zelle, die gehört uns. Normalerweise besuchen wir uns auch nicht auf den Zellen. Da ist jeder ganz für sich. Und ich habe auch eine Gebetsecke in meiner Zelle, wo ich eine Christus-Ikone habe, wo ich dann für mich auch meditiere.
Die Vorteile von Distanz
Main: Also, Abstand, Distanz kann auch was Positives haben?
Grün: Ja, eine Gemeinschaft von 80 oder 90 Mönchen kann nur gut leben, wenn das Verhältnis von Nähe und Distanz gut geregelt ist. Wenn man immer zusammenhockt, geht man sich auf die Nerven. Das gilt ja auch für die Familie.
Main: Das Ordensleben ist ja eine Lebensform, die schon vieles überlebt hat, und zwar Jahrhunderte, um nicht zu sagen Jahrtausende. Ist es vor diesem Hintergrund für Sie leichter als für mich, den Durchschnittsbürger, diese Pandemie zu durchleben und zu durchleiden?
Grün: Ja, ich habe die Pandemie bis jetzt gut durchlebt, denn ich hatte mehr Zeit zum Lesen und zum Schreiben. Das hat mir gutgetan. Sonst war ich oft abends zum Vortrag und komme nachts spät wieder heim. So war das Leben jetzt viel geregelter – also so, wie Klosterleben eigentlich sein sollte. Wir konnten miteinander leben. Wir konnten gemeinsam das Chorgebet feiern und die Eucharistiefeier.
"Wir brauchen wieder feste Wurzeln"
Main: Anselm Grün, Mönch in Unterfranken, soweit die Ouvertüre. Anselm Grün, wir haben in den vergangenen Monaten erlebt, wie Vertrautes weggebrochen ist. Aber Menschen brauchen Fundamente, schreiben Sie an irgendeiner Stelle Ihres Buches. Woher kann neue Sicherheit, woher können neue Fundamente kommen?
Grün: Gut, ein Fundament ist sicherlich für mich der Glaube. Und ich denke, auch für den Menschen. Das Fundament ist eine klare Ordnung, dass ich meinem Leben eine Ordnung gebe. Zum Beispiel Rituale geben auch so ein Stück Anteil an Wurzeln. Und wir brauchen gerade in dieser unsicheren Zeit auch wieder feste Wurzeln. Ein Baum, der keine Wurzeln hat, der fällt leicht um, wenn ein Sturm entsteht. Rituale geben Anteil an der Lebenskraft unserer Vorfahren. Wichtig ist, dass der Mensch aktiv reagiert auf die Krise und nicht passiv. Wenn er sich nur als Opfer fühlt, dann wird er immer schwächer. Und, wenn wir aktiv das als Herausforderung sehen, unseren Tag neu gestalten, Rituale schaffen, dann bekommt auf einmal die Krise eine andere Qualität.
"Emotionen sind einfach da"
Main: Rituale und Wurzeln und die Zusage, dass wir getragen sind von etwas, das größer ist als die nächste Party oder das nächste teure Auto mit großem Auspuff - dies ist ja eigentlich das Kerngeschäft von Kirchen und Theologie. Mal abgesehen vom Mantra, dass Covid-19 keine Strafe Gottes sei, habe ich phasenweise Sinnstiftendes vermisst. Es gibt Ausnahmen, nicht zuletzt Sie. Dennoch, widersprechen Sie meinem Eindruck einer gewissen kirchlich-theologischen Lethargie? Oder gibt es da etwas aufzuarbeiten?
Grün: Gut, ich kann es nicht genau beurteilen, aber so vom Eindruck, was man in den Medien gehört hat, hat die Kirche doch nicht sehr kreativ und nicht sehr aktiv reagiert. Sie hat viele Gottesdienste über Livestream gemacht. Das war durchaus eine gute Leistung. Sie ist in die digitale Werbung hineingegangen. Aber gute Anregungen, Fantasie habe ich schon teilweise vermisst.
Main: In welche Richtung könnte die gehen?
Grün: Einfach den Menschen Hilfen geben. Wie gehe ich mit meinem Alltag um? Da braucht es eben nicht nur fromme Worte, sondern auch konkrete Weisungen. Wie gehe ich damit um, wenn die Enge zu groß wird in der Familie, wenn man sich auf die Nerven geht? Wie gehe ich mit meinen Emotionen um, mit meinen Aggressionen um? Das sind ja ganz praktische Dinge.
Wir haben in der Kirche oft zu sehr moralisiert. Aber die Mönche moralisieren nicht, sondern sie sagen: Die Emotionen sind einfach da; und wir sind nicht verantwortlich für die Emotionen, die kommen, sondern verantwortlich nur dafür, wie wir damit umgehen. Wie gehe ich um mit den Aggressionen, die einfach ganz normal aufsteigen, wenn wir zu eng zusammen sind? Die Aggressionen wollen immer, dass ich für mich selber sorge, dass ich mehr Distanz brauche auch zu den anderen.
Neue Formen der Volksfrömmigkeit
Main: Sie schreiben in Ihrem neuen Buch viel darüber, was wir als Einzelne aus dieser Krise lernen können. Was könnte Ihre Kirche lernen?
Grün: Die Kirche könnte lernen, auch neue Formen einer sogenannten Volksfrömmigkeit zu haben. Die Volksfrömmigkeit war eigentlich das, was den Glauben über die Zeiten hinweggetragen hat. Die Theologen allein haben den Glauben nicht gerettet, sondern die Formen, wo das Volk sich verstanden fühlte.
Wir brauchen auch Fantasie. Wir müssen nicht alles nur in der Kirche machen über die Eucharistiefeier, sondern wir brauchen auch Formen für das Haus, für den Alltag. Wie kann ich den Glauben mitten in meinem beruflichen Leben leben? Welche Formen finde ich, den Glauben auszudrücken?
Main: Volksfrömmigkeit und Frömmigkeit im Alltag. Sie plädieren recht vehement in Ihrem Buch für Gemeinschaft von Angesicht zu Angesicht. Also, die reine Virtualität wird es wahrscheinlich nicht reißen? Oder überinterpretiere ich Sie da?
Grün: Also, das Virtuelle kann helfen. Es kann eine gute Ergänzung sein. Aber das ist nicht die Lösung. Wir brauchen wirklich wieder Begegnungen. Wir brauchen Menschen, die etwas ausstrahlen. Und wir brauchen auch Gemeinschaft. Hausgemeinden zum Beispiel. Das kann die Familie sein, ein Freundeskreis, ein Frauenkreis, die einfach neue Formen für sich selber auch entwickeln. Was trägt uns? Woraus leben wir? Was sind Quellen, aus denen wir schöpfen können? Und da müsste die Kirche einfach noch Anregungen geben und spüren: Wir können nicht einfach die Volksfrömmigkeit von vor 100 Jahren übernehmen. Wir brauchen neue Formen, die in die heutige Zeit passen.
"Aggressionen, Verschwörungstheorien, Ungeduld"
Main: Anselm Grün, insgesamt scheint es doch aber so zu sein, dass sich die Haltungen zur Krise differenzieren. Sie beobachten – und da waren sich wohl die meisten einig –, im März, April, Mai war das Vertrauen in die Grundwerte unserer Gesellschaft und in ein angemessenes Regierungshandeln stark ausgeprägt. Was hat sich seitdem verändert aus Ihrer Sicht?
Grün: Gut, die Aggressionen sind gewachsen, auch die Ungeduld, damit umzugehen. Und man muss ja differenzieren bei diesen Protesten. Die einen sind sicher berechtigt. Einfach zu fragen: Sind die Maßnahmen alle angemessen oder kann manches nach den neuesten Erkenntnissen der Ärzte auch etwas anders gesehen werden? Also, man muss da immer wieder auch dranbleiben. Was ist wirklich eine Hilfe? Aber manch andere Proteste sind einfach nur Aggressionen, Verschwörungstheorien, Ungeduld. Man will, dass es immer so weitergeht wie bisher. Man kann sich nicht auf das Neue einstellen. Die Krise hat unser Leben verwandelt. Wir können nicht einfach so weitermachen wie vor der Krise. Wir müssen ja auch die Botschaft hören.
"... dann tun wir den Menschen sehr, sehr weh"
Main: Anselm Grün, Sie kommen in Ihrem Buch immer wieder auf Alte, Leidende, Sterbende. Vielleicht liegt es an meinem eigenen Fokus des Interesses, aber kann es sein, dass Sie, obwohl doch sehr viel versucht wird, diese Gruppe zu schützen, dass Sie sich besonders über diese sehr alten Menschen, dass sie sich da besonders Sorgen machen?
Grün: Ja, am Anfang der Corona-Krise durften die ja nicht besucht werden. Das war einfach eine Überforderung. Die Begleitung von kranken Menschen, von sterbenden Menschen, das ist einfach ein ganz hohes Gut. Das schützt die Würde des Menschen. Keiner will allein sterben. Keiner will allein mit dem Schmerz bleiben. Da haben wir sicher nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Natürlich ist es wichtig, die Gesundheit zu schützen. Aber, wenn ich nur die medizinische Gesundheit schütze und nicht die seelische Gesundheit, dann ist das eben zu kurz gesehen.
Main: Also, Sie meinen, dass zum Beispiel Seelsorger nicht in Krankenhäuser und Altenheime durften phasenweise - das war definitiv ein Fehler?
Grün: Das war ein Fehler, ja. Natürlich ist es wichtig, die Menschen vor Infektionen zu schützen. Da könnte man eben genügend Schutzanzüge oder Schutzmasken haben und schauen: Welche Möglichkeiten sind da - und welche nicht? Aber einfach zu sagen, keiner darf begleiten - damit tun wir den Menschen sehr, sehr weh.
Main: Was waren weitere Fehler beim Schutz der Alten, Schwerstkranken und Sterbenden in den vergangenen Wochen und Monaten?
Grün: Gut, auch die Beerdigungen: Mir hat ein alter Mann geschrieben, er sei bereit zu sterben - aber jetzt nicht in dieser Zeit, er habe das Bedürfnis, dass bei seiner Beerdigung einfach genügend Freunde und das Dorf auch dabei sind. Und wenn ein Sterbender jetzt an so eine einsame Beerdigung denkt, tut es ihm schon weh.
Wenn die Beerdigung im Freien stattfindet, kann man doch mehr Leute zulassen als in der Kirche. In der Kirche - das sehe ich ein. Da kann die Kirche nicht voll sein. Das ist unmöglich. Aber da waren einfach zu viele Ängste auch da.
"Der Gedanke an den Tod wird das Leben intensivieren"
Main: Wobei die Ängste ja auch verständlich waren. Sie sind ja selbst 75 Jahre alt, mithin Risikokandidat.
Grün: Ja. Manche haben sich dadurch auch ein bisschen abgestempelt gefühlt. Wir sind alle Risikokandidaten. Natürlich müssen wir sorgfältig umgehen, aber ein alter Mitbruder sagt auch: Ich bin 87. Ich habe da keine Angst. Wenn ich daran sterbe, sterbe ich halt daran. Irgendwann muss ich sterben. Also, die haben das lockerer gesehen, die Mitbrüder. Aber natürlich: Wir im Kloster haben auch versucht, uns zu schützen. Denn, wenn einer im Kloster krank wird, dann wird der ganze Konvent erst mal lahmgelegt.
Main: Anselm Grün, dennoch wird selbst in Corona-Zeiten wenig offen und ehrlich über den Tod geredet. Sie tun es in Ihrem Buch. Woraus resultiert die Angst, über die Angst vor dem Tod zu reden?
Grün: Vielen ist jetzt der Tod sehr nahe gerückt, denn viele Verwandte sind gestorben. Man hat die ganzen Leichenwagen im Fernsehen gesehen, in Italien, in Spanien. Also, der Tod ist ganz nahegekommen. Und die Menschen verdrängen halt gern den Tod. Aber an den Tod zu denken, gehört auch zur Spiritualität und auch zur Lebenskultur. An Tod zu denken soll ja keine Angst machen, sondern soll mich einladen, jetzt intensiv zu leben und zu spüren: Mein Leben ist begrenzt; und weil es begrenzt ist, lebe ich jetzt bewusst und lebe ganz im Augenblick. Also, der Gedanke an den Tod wird das Leben intensivieren.
Main: Welche Tendenzen im Umgang mit dem Tod erscheinen Ihnen zweifelhaft?
Grün: Die Verdrängung. Darüber hinaus: dass man den Sterbenden allein lässt - das ist auch zweifelhaft. Oder Beerdigung: Es gibt anonyme Beerdigungen. Man will einfach mit Trauer nichts zu tun haben. Das sind falsche Entwicklungen.
Wie eine Gesellschaft mit Krankheit, mit Tod, mit Trauer umgeht - das zeigt ihre Kultur oder ihre Kulturlosigkeit. Eine Gesellschaft, die Leid verdrängt, wird immer härter und kälter.
"Wir können unser Leben nicht kontrollieren"
Main: Als Alternative zu dieser Härte und Kälte schlagen Sie in Ihrem Buch vor, es gelte für jeden Einzelnen die eigene Sterblichkeit anzunehmen. Wie kann mir das gelingen?
Grün: Dass ich einfach spüre: Ich bin jetzt 75. Ich lebe nicht ewig. Es kann ein Schlaganfall kommen. Es kann irgendetwas kommen. Und einfach die Dankbarkeit für das Leben: dass ich lebe. Aber zu wissen, es ist endlich. Und dieses Bewusstsein für Endlichkeit – das führt zu einem bewussten Leben. Nicht, dass ich daran festhalte, krampfhaft festhalte, sondern mit dieser Leichtigkeit, mit dieser Gelassenheit im Augenblick zu leben - das macht alte Menschen weise.
Jemand, der krampfhaft am Alten festhalten muss, der mit 80 noch ganz fit sein und beweisen muss, dass er schneller Ski fahren kann als seine Nichten, das ist eher pervers für mich. Also, dann will ich Jugend festhalten, anstatt in einer guten Weise alt zu werden, in einer guten Weise mit dem Tod mich auszusöhnen.
Und einfach die Frage: Wer ist der Mensch? Wir können unser Leben nicht kontrollieren, weder am Anfang noch am Ende. Sondern sich einzulassen auf meine Hinfälligkeit, dass ich krank werden kann, dass ich sterben kann.
Meine Mutter hat immer gesagt: Ich lebe gern, aber wenn Schluss ist, dann ist Schluss. Dann bin ich auch einverstanden. Also, diese innere Freiheit dem Tod gegenüber. Das heißt nicht, dass ich ständig fixiert bin auf den Tod. Sondern, wenn ich darum weiß, dann lebe ich jetzt im Augenblick in einer inneren Leichtigkeit und muss mich nicht so absolut schützen.
"Dankbarkeit verwandelt das Leben"
Main: Angst vor dem Tod erleben wohl alle Menschen irgendwann. Angst im Allgemeinen und Besonderen ist Teil unseres Lebens. Sie empfehlen, Angst grundsätzlich zu umarmen, sie anzunehmen. Wie schaffe ich das, wenn Corona oder andere Krisen jemanden depressiv machen?
Grün: Gute Frage. Wenn ich depressiv werde, warum werde ich depressiv? Depression ist ja oft ein Hilfeschrei der Seele, weil mein Leben nicht mehr so weitergeht wie bisher. Und statt depressiv zu werden, muss ich betrauern. Betrauern, dass mein Leben anders wird, dass es nicht mehr so weitergeht wie bisher.
Wenn ich betrauere, dann kann ich auch Ja sagen zu meiner Realität - so, wie sie jetzt ist. Die Angst vor dem Tod zu umarmen, heißt: Natürlich habe ich Angst. Es kann sein, dass ich sterbe. Aber die Angst will mich auch einladen, jetzt bewusst zu leben, die Gespräche bewusst zu führen, dankbar zu sein für die Schönheit der Natur, für das gute Essen, für die Gemeinschaft. All das soll ich bewusster wahrnehmen.
Dankbarkeit verwandelt das Leben. Es gibt ja den deutschen Spruch: Ich bin nicht dankbar, weil ich glücklich bin, sondern ich bin glücklich, weil ich dankbar bin. Die Dankbarkeit verwandelt ja auch die innere Haltung.
Stabilitas loci
Main: Anselm Grün, wir erleben jetzt über Monate hinweg Instabilität. Dieser Instabilität setzen Sie in Ihrem Buch die Stabilitas loci entgegen, eine Stabilität, wie sie ihrem Ordensgründer Benedikt von Nursia vor knapp 1.500 Jahren wichtig war. Sie sagen, so eine Stabilitas sei heute neu gefragt. Warum wäre sie für uns, die wir ja fast alle keine Benediktiner sind, wichtig?
Grün: Blaise Pascal sagt schon um das Jahr 1600: Das Problem des modernen Menschen ist, dass keiner mehr allein in seinem Zimmer bleiben kann. Wir sind ständig auf der Flucht vor uns. Und Stabilitas heißt: mal sich aushalten, mal im Zimmer sein. Nicht sich als Opfer fühlen, sondern neugierig sein. Was kommt denn da hoch in mir? Viele können die Stille nicht aushalten, weil sie in Panik geraten. Sie geraten in Panik, weil sie Angst haben: Mein Leben stimmt nicht. Oder da kommt ein Vulkan in mir hoch. Eine Frau sagte mir: Ich kann nicht in die Stille gehen. Da geht ein Vulkan in mir hoch. Da merke ich: Sie hat Angst vor sich selber. Und die Stabilitas ist eine Einladung, sich selber auszuhalten, aber sich selber auch kennenzulernen. Das kann ich aber nur, wenn ich weiß: So, wie ich bin, alles darf sein, weil ich ganz und gar mit all dem Graus in mir auch von Gott angenommen bin.
"Solidarität ist ganz entscheidend"
Main: Sie sind ja von der Grundhaltung her jemand, der eher Chancen als Gefahren sieht. Dennoch die Frage: Inwieweit fürchten Sie sich vor Corona-bedingten Entwicklungen in unserer Gesellschaft, die es zu verhindern gilt?
Grün: Die Gefahren bestehen darin, dass wir falsch reagieren, dass wir einfach meinen, es muss so weitergehen wie bisher. Also, dass wir keine Bereitschaft haben zur Wandlung. Aber da sehe ich durchaus auch bei den Politikern manche neuen Ansätze, Fantasie zu entwickeln.
Eine andere Falschentwicklung: die Schuld anderen zuzuweisen. Also, jeder ist davon betroffen. Und die Frage: Wie geht jeder verantwortlich damit um?
Eine falsche Reaktion wäre, nur die eigenen Interessen zu leben. Die Solidarität ist ganz entscheidend. Wir spüren, wir gehören zusammen. Wir können uns negativ anstecken mit dem Virus - oder wir können uns positiv anstecken mit einer guten Gesinnung, dass wir mit Hoffnung, mit Zuversicht, mit Liebe in die Gesellschaft gehen. Jeder hat eine Auswirkung auf die anderen. Und, wenn ich negative Gedanken habe, dann wirken die auch in die Gesellschaft hinein. Deswegen müssen wir die Verantwortung für meine eigene Seele, aber auch für die Gemeinschaft neu lernen. Wenn wir einfach nur voller Aggression sind und denken, es muss so sein wie früher, dann haben wir die Chance verpasst, darauf gut zu antworten.
Main: Stichwort Solidarität. Wir verinnerlichen ja seit einem halben Jahr, dass Abstand wichtig ist. Mitleid oder Solidarität brauchen Nähe. Besteht die Gefahr, dass sich die Gesellschaft weiter fragmentiert und entsolidarisiert?
Grün: Am Anfang hat man durchaus eine Solidarität gespürt. Junge Leute haben für die Alten eingekauft, man hat Kerzen angezündet, hat Gemeinschaft gespürt. Aber momentan ist es eher so eine Gegenrichtung. Natürlich, jetzt braucht es wieder Nähe. Wir dürfen uns nicht einrichten, immer nur Distanz zu haben. Denn das tut der Seele nicht gut. Wir brauchen auch Berührung. Wir brauchen Umarmung. Und, wenn wir vor lauter Angst vor Umarmung gar nicht mehr uns umarmen können, dann wäre das schon auch ein großer Verlust.
"Nicht auf jeden Schreihals hören"
Main: Sie sind Theologe, haben auch mal Betriebswirtschaft studiert. Sie sind aber kein Politiker. Welche Impulse aus einer theologischen Perspektive würden Sie Politikerinnen und Politikern mitgeben, wenn die sich von Ihnen beraten lassen würden, mit welcher Haltung sie als Verantwortliche uns durch die kommenden Herbst- und Wintermonate bringen?
Grün: Dass sie hören auf die Menschen, also, auf ihre Bedürfnisse, nicht auf jeden Schreihals, sondern auf die Bedürfnisse. Was sind die Ängste? Was sind die Bedürfnisse? Was sind die berechtigten Anliegen? Und was ist mein Anliegen als Politiker, das Land zu schützen, die Gesundheit zu schützen? Und wie kann ich diese verschiedenen Sehnsüchte miteinander in Einklang bringen? Ich muss sagen, viele Politiker erlebe ich da durchaus als verantwortlich, dass die wirklich auch ringen um Antworten.
Vielleicht haben manche zu sehr auf manche Virologen gehört und nicht auf andere. Aber es ist natürlich immer schwierig. Auf wen soll ich hören? Ich muss versuchen, meine Ohren offenzuhalten für alle Menschen, für die verschiedenen medizinischen Fachkräfte, für Soziologen, für Psychologen, aber auch für die einfachen Menschen. Womit kommen sie nicht zurecht? Und wie kann ich es gut erklären, so dass meine Maßnahmen nicht nur als autoritäre Maßnahmen gelten, sondern als Dienst an den Menschen?
Main: Und für uns als Einzelne, abschließend gefragt, egal, ob religiös oder nicht: Was ist jetzt dran? Mit welcher Haltung kommen wir durch diesen Winter?
Grün: Einmal mit Solidarität. Also, ich schütze mich, um andere zu schützen. Und das Zweite: die Hoffnung. Die Hoffnung, dass wir durch diese Krise durchkommen, auch die Hoffnung, dass Gott uns genügend Kreativität und Halt gibt, dass wir durch diese Krise aktiv kommen und etwas lernen, ja, ein neues Miteinander lernen, eine neue Form von Spiritualität, die uns trägt. Gerade mitten in dieser Unsicherheit. Und die Bereitschaft, sich auf Wandel einzulassen.
Main: Und gemeinsam schaffen wir diesen Wandel sicher leichter als allein, wenn ich das so kommentieren darf. Anselm Grün war das mit Anmerkungen zu diesem Corona-Jahr an der Schwelle vom Sommer zum Herbst und Winter. Anselm Grün, für Ihre Zeit und für Ihre Einschätzungen ein herzliches Dankeschön.
Grün: Bitte. Ich habe gerne mit Ihnen gesprochen.
Anselm Grün: "Was gutes Leben ist: Orientierung in herausfordernden Zeiten"
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