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Beneš-Dekrete
Die Vertreibung der Sudetendeutschen

Mit den sogenannten Beneš-Dekreten legitimierte die damalige Tschechoslowakei die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg – eine Folge der vorhergegangenen brutalen NS-Herrschaft in dem Land. Ein Exodus von drei Millionen Menschen begann, begleitet von Rache, Willkür und Gewalt.

Von Otto Langels |
Sudetendeutsche werden am 1. Januar 1946 aus der Tschechoslowakei in Richtung Bayern geschickt.
Ausbürgerung und Vertreibung traf Deutsche, die in böhmischen, mährischen und schlesischen Grenzgebieten lebten (picture-alliance / CTK)
"Das war so ein riesengroßer Fluchttreck. Wir sind gelaufen, Berge hoch, Berge runter – so habe ich das in Erinnerung als kleines Kind. Und mussten in Wäldern übernachten, und irgendwo an einer Bahnstation stiegen wir dann mal ein, in so einen Viehwaggon, und wurden nach Dresden gekarrt."
Ellen Thiemann war acht Jahre alt, als sie 1945 mit ihrer Mutter und zahllosen anderen Deutschen das Sudetenland verlassen musste. Grundlage für die Massenvertreibungen waren die so genannten Beneš-Dekrete, benannt nach dem tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš. Betroffen waren rund drei Millionen Sudetendeutsche. Als Sudetendeutsche wurden alle in den böhmischen, mährischen und schlesischen Grenzgebieten der Tschechoslowakei lebenden Deutschen bezeichnet.
Die Sudetendeutsche Partei und die NSDAP
Noch ein Jahrzehnt zuvor, bis in die 1930er Jahre, hatten sie als Minderheit weitgehende Rechte genossen, so der Osteuropahistoriker Detlef Brandes.
"Die Sudetendeutschen waren gleichberechtigte Bürger, sie hatten ihre eigenen Parteien, sie hatten ihre eigenen Universitäten, das gab es sonst in Ostmittel- und Osteuropa nicht, eigene Schulen."
Doch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland knüpfte die Sudetendeutsche Partei unter Führung Konrad Henleins enge Kontakte zur NSDAP. Sie gewann zunehmend an Einfluss und Macht und terrorisierte Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden, staatstreue Böhmen und Tschechen. Die Rufe nach der Abtretung des Sudetengebietes an Nazi-Deutschland wurden zusehends lauter, bis das Münchner Abkommen vom September 1938 vollendete Tatsachen schuf.
"Gibt es ein größeres Glück als das unsere? Wir kehren heim ins Reich."
Erklärte Konrad Henlein nach der Einverleibung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich.
Ein halbes Jahr später folgte die "Zerschlagung der Rest-Tschechei", wie es hieß, und die Errichtung des "Reichsprotektorats Böhmen und Mähren" als Teil des "Großdeutschen Reichs".
"Es wird häufig das NS-Regime im Protektorat verglichen mit jenem in den polnischen Gebieten oder gar in der Sowjetunion oder in Serbien. Es war bei weitem nicht so hart, aber hart genug, um Hass hervorzurufen. Eine starke Verschärfung trat ein, als Heydrich als so genannter stellvertretender Reichsprotektor ins Protektorat geschickt wurde im September 41 und sich einführte mit einer Terrorwelle, der Ermordung in wenigen Wochen von 400 Menschen."
Das einschneidende Ereignis: die Zerstörung Lidices
Vor seinem von Hitler persönlich befohlenen Einsatz in Prag war Reinhard Heydrich Chef des Reichssicherheitshauptamtes gewesen und hatte den Massenmord an den europäischen Juden vorbereitet.
Ende Mai 1942 verübten von der tschechoslowakischen Exilregierung in London beauftragte Attentäter einen Mordanschlag auf Heydrich. Wenige Tage später erlag er seinen Verletzungen.
Als Vergeltung zerstörte die SS das Dorf Lidice unweit von Prag. Als Vorwand diente die – falsche – Behauptung, Einwohner hätten den Attentätern Unterschlupf gewährt.
"Die Männer wurden alle erschossen, die Frauen kamen nach Ravensbrück, die Kinder gehörten zu den ersten vergasten Kindern."
Über 300 Einwohner von Lidice wurden ermordet, das Dorf in Brand gesteckt, vollständig zerstört und dem Erdboden gleichgemacht, um es von der Landkarte auszuradieren.
Aus London meldete sich Edvard Beneš, Präsident der tschechoslowakischen Exilregierung, zu Wort:
"Die Nazis können vielleicht jedes Gebäude zerstören, und sie können sogar den Namen Lidice aus ihren Unterlagen löschen. Aber in unseren eigenen Aufzeichnungen und im Gedächtnis der Menschheit wird der Name Lidice von großer Bedeutung bleiben, Lidice wird weiterleben."
Deutsche Soldaten am 10. Juni 1942 in Lidice vor brennenden Gebäuden. Als Vergeltungsaktion für das von tschechoslowakischen Widerstandskämpfern am 27.5.1942 verübte Attentat auf den Nazi-Statthalter in Prag, Heydrich, den stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, überfiel die SS am 9. Juni 1942 die fast 500 Einwohner zählende Gemeinde Lidice. In der Nacht zum 10. Juni wurden alle Männer erschossen, Frauen und Kinder in das Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Das Dorf wurde dem Erdboden gleichgemacht.
Die SS zerstört 1942 das tschechische Dorf Lidice als Vergeltungsaktion für das Attentat auf Heydrich (picture alliance / CTK)
Lidice sei ein einschneidendes Ereignis gewesen und habe die Kluft zwischen Tschechoslowaken und Sudetendeutschen weiter vertieft, meint Michael Schwartz vom Münchner Institut für Zeitgeschichte.
"Das ist eine traumatische Erfahrung, vor allem für die damalige tschechoslowakische Politik- und Bildungselite gewesen, und die hat dazu geführt, dass man darüber nachdachte, wie können wir ein zweites München verhindern, nach dem Sieg über Hitler. Wir können dieser Bevölkerungsgruppe so nicht mehr trauen."
"Entgermanisierung" der tschechischen Länder nach dem Krieg
Unmittelbar nach der Rückkehr im Mai 1945 erklärte Edvard Beneš in Prag vor einer begeisterten Menschenmenge:
"Es wird notwendig sein, kompromisslos die Deutschen in den tschechischen Ländern völlig zu liquidieren. Unsere Losung muss es sein, unser Land kulturell, wirtschaftlich und politisch endgültig zu entgermanisieren."
Die andere Seite von Edvard Beneš
Wenn von der Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg die Rede ist, fällt meist auch der Name Edvard Beneš. Sein Wirken als überzeugter Demokrat ist darüber fast in Vergessenheit geraten.

Edvard Beneš brachte in drastischen Worten das zum Ausdruck, was die tschechoslowakische Regierung dann in Form von Dekreten in staatliches Handeln umsetzte. Die insgesamt 143 Verordnungen gingen als "Beneš-Dekrete" in die Geschichte ein. Detlef Brandes:
"Die Beneš-Dekrete wurden zum Teil schon während des Krieges ausgearbeitet durch die Exil-Regierung in London. Das wichtigste Dekret ist gewiss das mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft, die dann die Zwangsaussiedlung ermöglichte. Die anderen Dekrete laufen auf die Enteignung hinaus. Also erst wurde der Boden enteignet, dann der gesamte industrielle und Hausbesitz. Und dann gibt es noch Dekrete zur Schließung der deutschen Universitäten und so weiter."
Edvard Beneš 1946 sitzt an einem Schreibtisch, zeitgenössisches Schwarz-weiß-FotoBenes ist einer der Mitbegründer der Tschechoslowakei sowie tschechoslowakischer Außenminister (1918–1935), Ministerpräsident (1921–1922) und Staatspräsident (1935–1938 und 1945–1948 sowie 1940–1945 als selbst ernannter Präsident im Londoner Exil). Er ist Namensgeber der Beneš-Dekrete.
Zwei Mal tschechoslowakischer Staatspräsident (1935–1938 und 1945–1948): Edvard Beneš (CTK)
Dekret Nr. 33 vom 2. August 1945 über die Regelung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft der Personen mit deutsch-nationaler Zugehörigkeit.
Dekret Nr. 123 vom 18. Oktober 1945 über die Auflösung der deutschen Hochschulen in Prag und in Brünn.
Dekret Nr. 108 vom 25. Oktober 1945 über die Konfiskation des feindlichen Eigentums.
Erste Ausweisungen geprägt von Rache und Gewalt
Die provisorische tschechoslowakische Nationalversammlung billigte die Beneš-Dekrete nachträglich im März 1946. Die Verordnungen legitimierten Regierung und Behörden, Menschen allein auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Bevölkerungsgruppe pauschal zu Staatsfeinden zu erklären, sie ihrer Rechte zu berauben, auszubürgern und zu vertreiben.
"Es kam ein Tscheche, verkündete: In 30 Minuten oder einer Stunde müsst ihr raus. Es wurden zuerst Mitglieder der NSDAP, Beamte und so weiter, ausgewiesen, aber das ging dann weiter."
Gerhard Engel musste als 15-Jähriger mit seiner Familie das nordböhmische Kratzau verlassen.
"Auf einer alten Kiste saß eine Frau, die war vielleicht zwischen 70 und 80, und die weinte dermaßen bitterlich und so hoffnungslos. Dieses Bild sehe ich heute noch."
Sudetendeutsche betreten die Güterwaggons, mit denen sie 1946 die Tschechoslowakei verlassen müssen.  
Nur 40 Kilogramm Gepäck pro Person: Sudetendeutsche 1946 bei ihrer Vertreibung (picture alliance / CTK)
Die ersten Ausweisungen begannen unmittelbar nach Kriegsende als so genannte "wilde Vertreibungen", geprägt von Rache, Willkür und Gewalt.
"In Prag gab es Lynchjustiz. In den Grenzgebieten entstanden so genannte Revolutionsgarden und rückte die neu aufgestellte Armee ein und begann mit Vertreibungen schon sehr früh. Und diese Vertreibungen waren, besonders wenn sie von den Revolutionsgarden, also zusammengewürfelte Partisanenhaufen, durchgeführt wurden, waren mit sehr vielen Opfern verbunden. Es gibt große Exzesse - wird es jetzt in der tschechischen Historiographie genannt – Exzesse wie zum Beispiel den so genannten Brünner Todesmarsch."
Ende Mai 1945 mussten sich in Brünn über 25.000 Sudetendeutsche an Sammelstellen einfinden, meist Kinder, Frauen und alte Männer, und zur 60 Kilometer entfernten Grenze laufen. Walter Saller war unter ihnen.
"Die Behandlung war allgemein sehr schlecht und brutal. Jeder hatte eine Peitsche und einen Karabiner. Sie haben geschlagen, sie haben mit Gewehrkolben die Leute aufgefordert, weiterzugehen, wenn sie nicht mehr konnten."
Mindestens 2.000 Menschen starben an den Folgen von Erschöpfung, Hunger und Durst oder wurden umgebracht. Von den Tätern musste sich später niemand verantworten. Sie gingen aufgrund eines Amnestie-Gesetzes straffrei aus.
In Kommotau, einer Kleinstadt in Nordböhmen, trieben tschechische Revolutionsgarden Anfang Juni mehrere tausend Deutsche auf dem Sportplatz zusammen, darunter Franz Benisch.
"Hier links stand das eine Tor, und hier wurden wir hereingetrieben von allen Straßen von Kommotau. Die Stadt war hermetisch abgeschirmt, alle Straßen wurden durchgekämmt. Und hier landeten alle, in Reihen aufgestellt. Am zweiten Tor war ein Haufen von Fleisch, totgeprügelten SS-Leuten, junge Kerle, die vom Leben noch keine Ahnung hatten."
Siegermächte beschließen Zwangsumsiedlungen
Bis zu 20 Menschen wurden erschlagen oder erschossen. Erst im Sommer 1945 gingen die "wilden Vertreibungen" und damit auch die Opferzahlen zurück; ein Resultat der Potsdamer Konferenz. In Potsdam beschlossen die drei Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkriegs die Zwangsumsiedlung der Deutschen aus dem Osten, eine der bittersten Konsequenzen des von Hitler entfesselten Weltkriegs. Bereits zuvor hatten Politiker Bevölkerungstransfers als stabile Grundlage für eine künftige Friedensordnung in Europa betrachtet.
"Vertreibung ist, soweit wir in der Lage sind, es zu überschauen, das befriedigendste und dauerhafteste Mittel."
Erklärte Winston Churchill 1944 im britischen Unterhaus:
"Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, denn dadurch würden endlose Unannehmlichkeiten entstehen."
Die Umsiedlung von Millionen Menschen sollte nach dem Willen der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion human und in geordneten Bahnen verlaufen. Doch die Formel von der "ordnungsgemäßen Überführung" war reiner Zynismus und ein beispielloser Akt der Selbsttäuschung. Der Regensburger Historiker Manfred Kittel:
"Es gibt in der Geschichte der so genannten modernen Vertreibungen kein zweites Dokument, das eine Gewaltmigration derartigen Ausmaßes einseitig verfügt hätte wie das Protokoll dieser Potsdamer Konferenz vom 2. August 45. Im Artikel 13 vereinbarten die Siegermächte explizit die bekannte, berühmt-berüchtigte so genannte ordnungsgemäße Überführung der noch in ihrer Heimat verbliebenen Deutschen aus Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen."
Umstrittene Opferzahlen
Wie viele von den drei Millionen Sudetendeutschen in Lagern, bei Gewaltexzessen oder auf den Transporten ums Leben kamen, lässt sich nicht mehr ermitteln. Die Opferzahlen sind umstritten. Manche Quellen sprechen von mehr als 200.000 Vertreibungsopfern, dazu zählen aber auch viele ungeklärte Fälle.
Detlef Brandes ist Mitglied der deutsch-tschechischen Historikerkommission, die in ihrer Untersuchung nur die Opfer direkter Gewalt berücksichtigte und zu weit niedrigeren Zahlen kam.
"Man rechnet mit mindestens 18.000, eventuell 36.000 Toten."
Die meisten Vertriebenen wurden in die amerikanische Besatzungszone abgeschoben, vor allem nach Bayern, wo man auf die Aufnahme der Sudetendeutschen nicht vorbereitet war.
"Wir wussten, es geht nach Bayern, das war aber auch alles. Und dann wurden wir am Sonntagmorgen hier um acht Uhr ausgeladen."
Unerwünschte Fremde in Deutschland
Werner Sepp kam 1945 als sechsjähriger Junge nach Geretsried, in das Barackenlager eines ehemaligen Rüstungsbetriebs.
"Und ich sehe meine Großmutter noch auf ihrer Kiste sitzen und sagen, da sollen wir wohnen? Dieses Barackenlager hatte doppelten Stacheldraht drum herum. Bei den Baracken waren zum Teil Fenster rausgerissen, Türen rausgerissen, so in einem absolut desolaten Zustand."
Die Vertriebenen kamen in ein zerstörtes, vom Krieg gezeichnetes Land. Sie stießen auf eine Bevölkerung, die sie alles andere als freundlich aufnahm. Der Historiker Andreas Kossert hat dafür den Begriff der "Kalten Heimat" geprägt. Auf die Vertreibung folgte die bittere Erfahrung von Ausgrenzung und Ablehnung. Sudetendeutsche wie Marlene Wetzel-Hacksbacher waren unerwünschte Fremde.
"Mit dem ersten Transport sind wir dabei gewesen, und da sind wir dann nach Dillingen gekommen, und dann ist kein Zug mehr gefahren. Und da habe ich gesagt, Herr Wirt, da ist doch schön warm, lassen Sie uns halt bis früh da, bis der erste Zug geht. Und da hat er gesagt, ja, Mädle, das denkst bloß du. Und morgen früh komme ich, und meine Wirtsstube ist ausgeräumt. Das war der Empfang in Dillingen. Bös war’s, wir waren nicht gut angesehen."
Ein Pferdefuhrwerk mit Vertriebenen fährt über eine Straße mit zerbombten Häusern.
Vertriebene - Ablehnung und Verachtung für Landsleute aus dem Osten
Nach Kriegsende strömten Millionen Menschen aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern und dem Sudetenland gen Westen. Dort waren sie jedoch oft höchst unwillkommen und stießen auf Vorurteile.

Die Volksgemeinschaft, wie sie die Nazis zwölf Jahre lang propagiert hatten, war nach dem Untergang des Deutschen Reiches vergessen.
Die Alteingesessenen und die Neuankömmlinge konkurrierten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren um knappen Wohnraum, um Arbeit und Lebensmittel. Franz-Josef Strauß, der spätere langjährige bayrische Ministerpräsident, war am Anfang seiner politischen Karriere von 1946 bis ‚48 Landrat in Schongau.
"Zunächst haben wir die Unterkünfte in Notlagern, in Schulen, in Pfarrgemeindesälen, in Sporthallen, das waren Bilder der Not und des Elends, wie sich heute ja kaum mehr die älteren Menschen, geschweige denn die jungen, vorstellen können. Es gab natürlich auch Spannungen zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Flüchtlingen und Vertriebenen. Da sah es so aus, dass alle zwei Wochen ein Transportzug aus der Tschechoslowakei kam, und diesem Transportzug entstiegen 250, 300 Menschen."
Im Wirtschaftswunder gelingt die Integration
Doch in den Zeiten von Wiederaufbau, Marshallplan und Arbeitskräftemangel trugen die Sudetendeutschen durch Leistungs- und Anpassungsbereitschaft erheblich zum Wirtschaftswunder bei. So gelang letztlich die oft gepriesene Integration der Sudetendeutschen, wie sie der damalige bayrische Ministerpräsident Alfons Goppel hervorhob.
"Die Sudetendeutschen sind aufgeschlossene und verantwortungsbewusste Mitbürger geworden, ohne dabei auf ihre Geschlossenheit und ihre Eigenart zu verzichten. Wir bezeichnen sie deshalb nicht ohne Stolz und in aufrichtiger Verbundenheit geradezu als den vierten Stamm in Bayern."
Die Eingliederung der Flüchtlinge war ein Glücksfall der Geschichte, erleichtert durch das Wirtschaftswunder und die gemeinsame Sprache und Kultur. Ob das Beispiel aus der deutschen Nachkriegszeit als Lehrstück für weitere Migrationsprozesse taugt, wie Michael Schwartz meint, ist daher fraglich.
"Das wäre vielleicht auch für heutige Flüchtlings- oder Einwanderungsprozesse nicht uninteressant, dass eine große Gruppe von Millionen von Menschen, die zunächst einmal von den Einheimischen nicht nur als fremd, sondern auch als ökonomische, als finanzielle Belastung betrachtet worden ist, binnen weniger Jahre durch Integration in den Arbeitsmarkt, vor allem der jungen Generation, zu einem wichtigen Träger des Aufschwungs geworden ist."
Versöhnung und gemeinsames Gedenken
Was trotz gelungener Integration nicht verschwand, war der Schmerz über den Verlust der Heimat, befeuert von Funktionären der Sudetendeutschen Landsmannschaft, die alljährlich auf ihren Pfingsttreffen ein Recht auf Rückkehr reklamierten.
"Versöhnung ja, Verzicht nein, alles für unsere sudetendeutsche Heimat."
19.05.2018, Bayern, Augsburg: Besucher in Wischauer Tracht sitzen beim 69. Sudetendeutschen Tag.
In Wischauer Tracht: Sudetendeutsche (picture alliance / Karl-Josef Hildebrand)
Inzwischen bekennen sich die Vertriebenenverbände zu Ausgleich und Verständigung und akzeptieren die gemeinsame Erklärung der tschechischen und deutschen Regierung vom Januar 1997. Darin heißt es unter anderem:
"Die deutsche Seite bedauert das Leid und das Unrecht, das dem tschechischen Volk durch die nationalsozialistischen Verbrechen von Deutschen angetan worden ist. Die tschechische Seite bedauert, dass durch die nach dem Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde."
Zeitzeugin Annelies Schwarz erzählt vor Prager Gymnasiasten von ihrer Vertreibung.
Tschechisches Versöhnungsprojekt - Vertriebene als Zeitzeugen in Schulen
(Ein Projekt in Tschechien versucht, im Sinne der Versöhnung alle Aspekte von Krieg und Vertreibung aufzuarbeiten. Jugendliche haben Vertriebene nach Prag eingeladen, damit diese in Schulen als Zeitzeugen berichten.

Deutsche und Tschechen halten inzwischen gemeinsame Gedenkstunden für die Opfer der Vertreibung ab, sie haben Mahnmale errichtet und organisieren Versöhnungsmärsche; in Aussig und München sind Museen geplant oder gerade fertiggestellt, die an das Schicksal der Sudetendeutschen erinnern. In deutschen Großstädten existieren tschechische Zentren und in Prag sogar eine Vertretung der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
Beneš-Dekrete bis heute nicht aufgehoben
Gleichwohl hat die tschechische Regierung trotz aller Freundschaftsbekundungen auch unter dem gemeinsamen Dach der EU keines der 143 Beneš-Dekrete bis heute aufgehoben. Warum? Detlef Brandes:
"Das hat sicherlich erstens symbolischen Wert. Zweitens können sich tschechische Politiker vorstellen, dass bei einer Aufhebung der Dekrete auch die Eigentumsübertragungen in Frage gestellt werden. Das würde eine Riesenumwälzung bringen."
Unter den Sudetendeutschen denkt ohnehin kaum noch jemand an eine Rückkehr in die alte Heimat. Franz Benisch, einst aus Kommotau vertrieben, kommt nur besuchsweise in das heutige Chomutov.
"Man denkt halt an die Jugendzeit zurück, aber ansonsten, vorbei ist vorbei. Die Leute sind auch froh, dass sie jetzt ein Haus haben, nee, gut. So ist das Leben, c’est la vie. Aber die Erinnerungen sind halt da, das ist das Einzige, was bleibt."