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Benjamin Myers: "Offene See"
Flucht ans Meer

Ein junger Mann flieht 1946 in England vor einer tristen Existenz im Bergbau in den Süden des Landes ans Meer. Hier begegnet er einer Exzentrikerin mit einem Geheimnis. Eine atmosphärische Geschichte vom Erwachsenwerden, die von intensiven Naturschilderungen lebt, aber zuweilen das Schwülstige streift.

Von Christoph Schröder |
Aufgewühlte graue Wellen und stürmische See bei Newhaven, East Sussex.
Im Zentrum der Geschicht steht ein geheimnisvolles Manuskript mit dem Titel "Offene See" (picture alliance / Susan Robinson )
Es ist eine geradezu klassische Ausgangssituation, in der sich Benjamin Myers‘ Ich-Erzähler zu Beginn des Romans befindet: Als alter und einsamer Mann sitzt er, körperlich geschwächt, aber geistig hellwach, an seinem Schreibtisch und rekapituliert aus seiner Lebensgeschichte jene Episode, die einen Wendepunkt markierte. Von Beginn an ist seine große literarische Ambition spürbar. Er schlägt einen hohen Ton an, der sich stets an der Grenze zum Pathos bewegt.
Im Frühjahr 1946 macht sich der Erzähler Robert Appleyard auf in Richtung Süden, um das englische Land zu erkunden, vor allem aber, um der Bestimmung zu entgehen, die für ihn geradezu unausweichlich scheint. Robert stammt, ebenso wie Benjamin Myers selbst, aus der Bergbauregion Durham im Nordosten von England.
Rebellion gegen die Familientradition
Wer hier in unterprivilegierte Verhältnisse hineingeboren wird, landet in schlechtester Familientradition unweigerlich unter Tage. Robert aber, ein introvertierter, verträumter Sechzehnjähriger, entzieht sich dem familiären Zwang:
"Es gab Jungen, mit denen ich aufgewachsen war, die bereits zwei oder drei Jahre unter Tage arbeiteten, doch für jemanden, der frische Luft und Einsamkeit so sehr liebte wie ich, war gerade die Erwartungshaltung, dass ich ebenso meinem Vater in den Schacht folgen würde, wie er seinem Vater in den Schacht gefolgt war, ein Grund dafür, dass ich jetzt über Englands Landstraßen zog. Es war ein Akt der Befreiung und der Rebellion."
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Ein Ton, der oft die Grenze zum Pathos streift: der Roman "Offene See" von Benjamin Myers (DuMont Verlag / Collage: Deutschlandradio)
Robert sieht in den ersten Wochen seiner Wanderschaft ein Land, in dem der Krieg tiefe Spuren hinterlassen hat: Es gibt Frauen, die der Kampf gegen die Deutschen zu Witwen gemacht hat und es gibt Männer, die so traumatisiert wie körperlich versehrt aus dem Kampf nach Hause gekommen sind. Robert hingegen ist der Vertreter einer Generation, die den Krieg nur mittelbar kennt, und er ist hungrig nach echten Erfahrungen, nach einem Neuanfang – und nach Schönheit. Robert schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Das Ziel seiner Sehnsüchte ist das Meer.
Trinkende Heldin in viktorianischen Klamotten
Eines Frühlingstages erreicht er die Küste von Yorkshire. Auf einem Hügelkamm stehend, sieht er das Wasser in einiger Entfernung unter sich. Dazwischen befindet sich ein Cottage, umgeben von einer ausgedehnten, verwilderten Landschaft. Als Robert das Grundstück betritt, wird er zunächst von einem bedrohlichen deutschen Schäferhund gestellt und macht kurz darauf mit der Besitzerin des Cottages Bekanntschaft:
"Die Frau war groß, knapp einen Meter achtzig, ihre Haltung keck und unverfroren, stolz, was sie nur noch größer wirken ließ, und obendrein würdevoll. Trotz ihrer ungemein altmodischen Kleidung – vielleicht viktorianisch – bewegte sie sich leichtfüßig auf mich zu."
Diese Frau ist die eigentliche Hauptfigur des Romans: Dulcie Piper ist eine schöngeistige Exzentrikerin, deren Unkonventionalität Robert zugleich befremdet und fasziniert. Dulcies Vorratskammer ist, trotz der strengen Lebensmittelrationierung, stets gut gefüllt. Dulcie trinkt exzessiv, gibt nichts auf Manieren und sie predigt den Genuss des Augenblicks, das klassische "Carpe diem".
Ein anarchischer Lebensstil
Entgegen seiner ursprünglichen Pläne verbringt Robert den Sommer in dem Cottage über dem Meer. Die Frau und der Neuankömmling essen Hummer, sie trinken Wein, und dabei erzählt Dulcie dem Jungen Bruchstücke aus ihrer Biografie, von ihren Reisen und ihren Bekanntschaften mit Schriftstellern wie beispielsweise D.H. Lawrence. Die ungebändigte Natur ihres Grundstücks spiegelt sich in Dulcies anarchischem Lebensstil.
Dulcie ist als eine Figur mit Lücken und Brüchen angelegt. Etwas Schwermütiges, Tragisches umgibt sie. Im Dorf gehen Gerüchte um. Den Gründen dafür kommt Robert auf die Spur, als er eine herunter gekommene, halb zugewachsene Hütte auf dem Grundstück renoviert. Dort fällt ihm ein Bündel mit Papieren in die Hände:
"In dem Koffer lag eine Mappe mit einem getippten Manuskript. Es war ebenfalls zusammengebunden, aber mit einem dieser rosa Bänder, die normalerweise für juristische Dokumente verwendet werden. Es lag dünn in meiner Hand. Auf der ersten Seite stand in Schreibmaschinenschrift:
Offene See
von
Romy Landau"
Verrutschte Erzählebenen
Wer jene mysteriöse Romy Landau war und was sie wiederum mit Dulcies tiefer Abneigung gegen das Meer zu tun hat, wird an dieser Stelle nicht verraten. Die Schwächen und die Qualitäten von Myers Roman und seinem romantisch getönten Realismus liegen dicht beieinander. "Offene See" lebt von seiner starken Atmosphäre, von den intensiven und detailreichen Beschreibungen der Natur und deren Wandel und von der zwar nicht klischeefreien, aber durchaus plausiblen Herzensbildung und Künstlerwerdung eines jungen Menschen.
Andererseits schlägt sich Myers Drang, große Kunst zu schaffen, nicht selten in allzu schwülstigen oder unfreiwillig komischen Bildern nieder. Da brüllt das Meer wie "ein Fußballstadion, das eine Fehlentscheidung in der Nachspielzeit erlebt", und Hundeohren fühlen sich an "wie eine Flanellhose, die auf der Heizung gelegen hat." Wie die sich wohl anfühlt? Genau – warm. Wie auch sonst? Auch verrutschen Myers hin und wieder die Erzählebenen, und sein jugendlicher Protagonist verfügt plötzlich über Kenntnisse, die eigentlich nur seine gealterte Erzählerfigur haben kann.
Was von Myers wohlig nostalgisch angehauchter Coming-of-Age-Geschichte in Erinnerung bleibt, ist die durchaus geschickt hergestellte Atmosphäre eines Sommers, die Stimmung der großen und kleinen Umbrüche. Der lyrischen Überambitionen des Autors hätte es dafür allerdings nicht bedurft.
Benjamin Myers: "Offene See".
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
DuMont Buchverlag, Köln, 268 Seiten, 20 Euro.