"Für immer die Alpen" ist der Titel des 585 Seiten fassenden Kolosses und wie es sich für ein Nationalepos gehört, so fasst auch Benjamin Quaderers Roman sein Land an der Wurzel seines weltgeschichtlichen Glanzes. Der Glanz ist noch recht frisch, ganze zwölf Jahre alt: Damals, 2008 war es, trat das Fürstentum mit einem Mal aus dem Nichts in das Licht der internationalen Öffentlichkeit – wenn auch, zugegeben, nicht ganz freiwillig. Ein Mitarbeiter der LGT-Bank, Heinrich Kieber mit Namen, hatte die Daten hunderter Bankkunden aus aller Welt entwendet und durch den Verkauf seiner Daten-CDs an den deutschen Bundesnachrichtendienst einen der größten Steuerskandale der Bundesrepublik ausgelöst. Während das deutsche Gedächtnis in diesem Zusammenhang vor allem den Namen Klaus Zumwinkels erinnert, seinerzeit Vorstandsvorsitzender der Deutschen Post AG und schon bald wegen Steuerhinterziehung zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt, verschwand der Datendieb Heinrich Kieber – trotz eines 2010 gedrehten Dokumentarfilms – alsbald wieder aus den Annalen des 21. Jahrhunderts. Quaderer hat ihn wieder aufgespürt – und ihm in seiner Geschichte vom Hochstapler Johann Kaiser eine neue Identität gestiftet.
Ein Muttersohn
Nun, wer ist dieser Johann Kaiser? Zunächst einmal: der am 31. März 1965 in Vaduz geborene Sohn eines Liechtensteiner Pressefotografen und einer spanischen Mutter. Johann ist das dritte Kind dieses Paares. Zwei ältere Zwillingsschwestern beäugen ihn misstrauisch und unternehmen recht früh bereits den Versuch, den Bruder mit einem Kissen zu ersticken. Da der Versuch fehlschlägt, wächst Johann jedoch zu einem anhänglichen wie wagemutigen Jungen heran, in dessen Leben die Weltgeschichte immer einmal wieder hereinschaut. Die Gunst des zeitweilig in Liechtenstein ansässigen Heinrich Harrer gewinnt er nach einem aus Neugier begangenen Einbruch in dessen Haus; das Herz von Liechtensteins Fürstin Gina hingegen erobert er als Aushilfe im einem Gemischtwarenladen. Schon bald wird Johann diesen prominenten Beistand nötig haben, denn im Frühjahr 1971 zerbricht die Familie. Während der Sechsjährige sich noch an der Fernsehshow "Wünsch dir was" berauscht, kommt es zwischen den Eltern zu einem heftigen Disput: Die liechtensteinischen Männer haben gegen die Einführung des Frauenstimmrechts votiert, die liechtensteinischen Frauen den Entscheid mit einer Großdemonstration quittiert, an der auch Johanns Mutter teilgenommen hat. Und so nehmen die Dinge ihren Lauf:
"Die Stimmen überschlugen sich in der Küche. Ich schlich mich näher heran, um Mamá zu unterstützen, doch sie schlug die Tür vor mir zu. Sämtliche Geräusche wurden dumpf, als befände ich mich unter Wasser. Wenn ich gewusst hätte, dass das die letzte Gelegenheit sein würde, um Mamás Stimme zu hören, wäre ich nicht in mein Zimmer gegangen. Doch weil ich es nicht wusste, legte ich mich auf mein Bett und begann mit geschlossenen Augen bis dreißig zu zählen. Als ich die Sechsundzwanzig erreichte, schlief ich ein."
An diesem Punkt beginnt nun die Odyssee des Johann Kaiser, die immer auch eine Suche nach der Mutter bleiben wird. Aus dem Kinderheim, in das er verbracht wird und in dem ihm die tyrannische Heimleiterin Frau Büchel das Leben zur Qual macht, türmt er auf einem gestohlenen Moped. Seine Flucht führt ihn bis nach Barcelona, wo er durch die Fürsprache Heinrich Harrers schließlich in einem Eliteinternat Aufnahme findet – und sich einen neuen Namen, eine neue Biographie zulegt. Aus dem mittellosen Heimkind Johann Kaiser wird Johann Hilti, der Sprössling einer Liechtensteiner Industriellenfamilie, der mit der weltläufigen Großbürgerlichkeit seiner Mitschüler problemlos mithalten kann.
Das Hohnlachen der Alpen
Quaderers Roman scheint somit eine Abzweigung zu nehmen, die geradewegs in das Genre der Hochstaplererzählung hineinführt, zu Gottfried Kellers Wenzel Strapinski, Thomas Manns Felix Krull und Patricia Highsmiths Tom Ripley. Und fürwahr: Johann Kaisers Spiel mit den Identitäten, die scheinbare Leichtigkeit der Lügen, die immer tonnenschwere, schmerzhafte und vor allem teure Folgekosten haben – das fesselt natürlich. Indessen wird rasch deutlich, dass Kaisers Rollentäusche sich keinem ausgeklügelten Karriereplan verdanken, sondern dass man es hier mit einem Getriebenen zu tun hat. Was aber treibt ihn? Nun: Dieses Buch trägt seinen Titel nicht umsonst. Es ist die Scham. Die Scham der flüchtigen Kultur vor der unverbrüchlichen Natur. Eine Scham, die sich an Johann Kaisers neuen Nachnamen Hilti knüpft.
"Die Nächte in den Alpen sind die schwärzesten, die es gibt. Man spürt die Jahrtausende. Ich ging an der Bohrmaschinenfabrik Hilti vorbei und dachte: ‚Was für ein Witz.‘ Mühselig hatte der Urrhein diese Landschaft geformt, hatte über die Jahrhunderte hinweg Gestein abgetragen und eine Schleuse gebildet: das Tal. Um mich lag Kalkstein und Sand, Granit war da, genauso wie Schiefer und Kreide. Und mittendrin stand dieses Gebäude, in dem Bohrmaschinen hergestellt wurden, Muttern, Schrauben und Dübel. Was für ein unfassbar schlechter Witz. Alles um mich herum lachte. Die Tannen lachten, die roten genauso wie die weißen, die Fichten, die Föhren, die Buchen, die Eiben, die Linden. Die Füchse lachten, die Dachse und Waschbären, die Hirsche, die Rehe, die Steinböcke, die Gämsen. Das Wasser des Rheines lachte, sogar die Luft. Sie lachten mich aus, weil ich ein Mensch war."
Geraubte Geschichten
Die Ahnung, zu klein geraten zu sein für eine eigene Erzählung, das Unbehagen, für bedeutsam halten zu müssen, was vor dem Bergesfirn sich als Lächerlichkeit erweist – das ist der eigentliche Antrieb dieses Lebens. In den Mittelpunkt seines Romans stellt Benjamin Quaderer die Frage nach der Geschichtsfähigkeit des Menschen: Wem gehören eigentlich all die Erlebnisse, Biographien, Identitäten, die uns umgeben? Wer darf mit ihnen wirtschaften? Und wen geht das eigentlich etwas an? Nicht von ungefähr genießt der Australienentdecker James Cook bei Quaderers höchste Bewunderung – sie teilen ein Schicksal. So, wie sich Kaiser als weltreisendes Pseudonym nach und nach aufzulösen droht, so wird auch Cooks Weltumseglung am Ende von einem Journalisten zu Geld gemacht werden, der die südliche Hemisphäre zwar nie gesehen hat, aber Cooks Aufzeichnungen in Literatur zu verwandeln versteht. Der Heroismus des Südseekapitäns ist nicht in seiner Kühnheit oder seiner Neugierde zu suchen. Held ist, wer es zu ertragen versteht, weder Urheber noch Eigentümer der eigenen Geschichte zu sein. Noch sinniert Johann Kaiser darüber, dass James Cook lernen musste, "wie es sich anfühlt, wenn man seiner Geschichte beraubt wird, wie er selbst die Geschichten derer geraubt hatte, in deren Länder er gekommen war, um alles zu kartographieren, zu vermessen und umzubenennen". Tatsächlich bekommt Kaiser hier auch den Wesenskern seines eigenen Lebens zu fassen: Er, der sich Namen ausborgt, um sich Respekt zu erwerben, Geschäfte zu machen und die weite Welt zu erkunden, wird am Ende derjenige sein, der ohne Geschichte bleibt.
Im Zuge einer undurchsichtigen Immobiliengeschichte ersteht Johann nämlich nicht nur eine Liegenschaft in Barcelona, sondern prellt die Verkäufer – die Familie seines Schulkameraden Carl Tobler – auch gleich noch um den Kaufpreis. Die Familie rächt sich, indem sie den Betrüger nach Argentinien lockt, dort in einem Wasserturm foltern lässt und ihn zur Überweisung seines Vermögens zwingt. Obgleich es Johann gerade noch gelingt, den Geldfluss zu unterbinden, markiert die Episode eine Zäsur in diesem Leben. Von nun an besitzt es Zweck und Ziel: die Herstellung von Gerechtigkeit, die Rache an den Peinigern.
Ein realer Kohlhaas?
So wird aus Johann Kaiser nach seiner Rückkehr ins Fürstentum ein alpenländischer Michael Kohlhaas, dem niemand so recht beistehen will. Die Fürstin Gina ist tot und weder die heimische noch die internationale Justiz nimmt sich seines Anliegens an. Der dokumentarische Aufwand, den Kaiser betreibt, um das erlittene Unrecht zu beweisen, ist so immens wie irrwitzig: Vom Areal seiner Gefangenschaft fertigt er ein Miniaturmodell an. In seinem Elternhaus lässt er sich nochmals anketten und von seinem ihm verhassten Vater fotografieren. Vor allem aber verfasst er zahlreiche Schriftstücke, die seinen Akt beim Landgericht Liechtenstein füllen und sich von Erinnerung zu Erinnerung wälzen, immer wieder in die Fiktion abgleiten, sprich: seine Narben zur Literatur werden lassen.
Die fantastischen Züge, die Kaisers juristischer Feldzug annimmt, sind freilich nicht Quaderers Verdienst. Vieles von dem, was sich in jenem sagenhaften "Akt 103" finden lässt, entstammt bis in den exakten Wortlaut hinein Heinrich Kiebers 2009 veröffentlichtem "Tatsachenbericht" "Der Fürst. Der Dieb. Die Daten". Es läge nahe, aus diesem Sachverhalt eine Diskussion über das Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit, ja: auch eine Diskussion über literarisches Eigentum abzuleiten. Mit Blick auf die Logik des Romans ist es freilich nur konsequent, dass ein in die Pseudonymität abgetauchter Verfasser von seinem literarischen Wiedergänger um seine Geschichte gebracht wird. Überhaupt ist das eine der großen Einsichten, die dieses Buch zutage fördert: Jedes Geheimnis führt seine Vervielfachung mit sich. Und jeder, der die Heimlichkeit suchen muss, geht aus ihr als ein Gespaltener, Verdoppelter hervor. Heinrich Kieber ist ein Vielfacher geworden – und sein literarisches Echo Johann Kaiser nur der Deckname für eine weitere Variation seiner Lebensgeschichte.
Die Allegorien Liechtensteins
Zu kurz also würde es greifen, Quaderers Leistung an seiner Erfindungsgabe zu messen. Er erzählt Kiebers Fall nicht einfach nur ein weiteres Mal nach. Vielmehr lässt er ihn verstehbar werden im Horizont einer Welt, die sich ganz und gar verflüssigt hat. Liechtenstein, das wird mit einem Mal deutlich, ist nicht zufällig der Schauplatz dieser Geschichte geworden. Liechtenstein: so heißt das Königreich globaler Fluidität:
"Aus dem Kleinstaat, dessen Bewohnerinnen und Bewohner sich noch vor sechzig Jahren kaum von ihrer eigenen Arbeit hatten ernähren können, war ein Ort des Überflusses geworden, dessen Grundlage nicht mehr die Welt der materiellen Dinge war, nicht mehr die Rüben und Kartoffeln, nicht mehr die Bohrmaschinen und die künstlichen Zähne, sondern das Immaterielle, das, was nur Wert war, ohne Gegenstand zu sein. Ein Zeichen, das sich selbst bezeichnete. Als wäre das, was dieser Ort einmal gewesen war, so unsichtbar geworden wie das, was ihn zu dem gemacht hatte, was er jetzt war. […] Die Banken. Die Treuhand. Das Kapital. Die Ställe von früher waren die Finanzinstitute von heute. Die Häuser. Die Bauten. Fassaden aus Glas. Das Alte war schlecht, weil es nicht neu war, und das Neue war gut, weil es die Spuren des Alten beseitigte. Weil es die Geschichte auflöste."
Figuren wie Johann Kaiser oder Heinrich Kieber kommen nicht einfach aus Liechtenstein. Sie fungieren vielmehr als Allegorien dieses Staates. Die Auflösung der Geschichte, das Verschwinden der Fakten und der Realia, die sich selbst bezeugende Identität: ja, das ist natürlich Spätkapitalismus, eine Wirtschaftsform, die eigentlich ortlos ist, die im Grunde nur dort zuhause sein kann, wo ihr sich keine Geschichte mehr einzuschreiben vermag. Zugleich aber treffen all diese Attribute auch auf die Herren Kieber und Kaiser zu. Im Lichte von Quaderers Roman erscheinen sie als Charaktere, die erkannt haben, was ihr Staat aus ihnen macht – und die sein Wesen so stark verinnerlichen, dass sie ihn zwangsläufig letzten Endes verraten müssen.
So avanciert der Bankangestellte Johann Kaiser schließlich zum per internationalem Haftbefehl "Datendieb". Ein trügerischer, den Sachverhalt trivialisierender Begriff: Handelt es sich bei Kaiser doch um jemanden, der mit der Struktur der Datenwelt so verschmolzen ist, dass er zuallererst seinen eigenen Datensatz dem Zugriff der zuständigen Behörden zu entziehen vermag. Er vermag sich nicht immer nur neu zu kodieren, Namen und Adresse zu wechseln, sondern eben auch Kopien seiner selbst zu erzeugen, Trittbrettfahrer nachzuziehen. Ein Johann Kaiser lässt sich nicht ermitteln, sondern er liest und manipuliert seine Ermittler, wie etwa den von Fürst Hans-Adam eigens angeforderten Kriminalpsychologen, dem es schon bald vorkommt, als habe "der Datendieb Zugriff auf sein Denken erlangt."
Ich bin ermordet worden
Man kann diese Geschichte nun bis an ihr vorläufiges Ende erzählen, sich über Erpressung und Gegenerpressung, Täuschung und Gegentäuschung auslassen. Natürlich kann man gestohlene Daten nicht einfach wieder einfangen; natürlich gab es eine Kopie der CD mit den Kundendaten der "Liechtenstein Global Trust"-Bank in einem Genfer Tresor; natürlich waren die Behörden des Fürstentums dazu verurteilt, mehr oder weniger machtlos zuzusehen, wie die Geschäftsgrundlage ihres Staates in den Händen eines Mannes lag und aus diesen Händen in die der internationalen Steuerfahnder überging. Die große Stärke von Quaderers Text liegt indessen darin, dass ihm die Verwandlung seiner Figur ungleich wichtiger ist als der Skandal, den sie hervorruft. Unablässig mit Perspektiven und Schreibweisen experimentierend umkreist er seinen Johann Kaiser, lässt ihn mal wahrhaft, mal wahnhaft erscheinen. Sein Drama hängt nicht am Schicksal von deutschen Millionären, die ihr Geld in Stiftungen verschieben, deren Zweck sie selber sind. Nein: Im echten Sinne tragisch ist dieser Mensch, weil er sein Recht in einem Raum suchen muss, der sich die Verschleierung von Identität geradezu zum Prinzip gemacht hat. Und dieser Raum beschränkt sich keineswegs nur auf Liechtenstein – Liechtenstein ist die ganze Welt.
Ist aber erst einmal erkannt, dass die mit vielen Namen, also die mit gar keinem Namen ohne Gerechtigkeit bleiben müssen, dann sind diese auch vor sich selber nicht mehr sicher. Wenn gegen Ende des Romans jene Person, die einmal Johann Kaiser war, in ihrem Verschlag sitzt und die Aufzeichnungen der Überwachungskameras kontrolliert, wähnt sie eine fremde Erinnerung vor sich, fremde Gestalten, ein fremdes Ich. Und sie beschleicht der schwerwiegende Verdacht, sich längst verloren zu haben, ja: "ermordet worden zu sein." Erzählt wird dieser Roman folglich von einer Instanz, die nicht mehr weiß, ob sie am Leben ist, ob sie unsere Welt noch teilt oder nicht. Ein Datensatz, der keinen Referenzwert mehr besitzt und auch aus sich heraus keinen mehr entwickeln kann.
"Außerhalb dieses Textes gibt es mich nur noch als den, der diesen Text schreibt. Was bleibt von mir übrig, wenn alles gesagt ist? In der Vergangenheit bin ich lebendig. In der Gegenwart bin ich ein schreibender Geist. Und nicht einmal dessen bin ich mir sicher."
Einer von uns
Bis zu diesen Zeilen liegen bereits 578 Seiten Geistergespräch hinter dem Leser. Er oder sie kann sich sicher sein, dass diese Lektüre nicht spurlos an ihm oder ihr vorbeigegangen sein wird. Immerhin liegt der Verdacht nahe, dass diejenigen, die Romane von Geistern zu lesen verstehen, selbst zur Welt der Geister zählen, sich selbst bereits in Auflösung befinden. Gestaltenwandler, ja: "Datendiebe" sind sie. Sind wir. Die Landschaften, die wir noch als die unsrigen wähnen, sind nurmehr blasse Erinnerung, sie kümmern sich um uns ebenso wenig wie wir um sie. Nur manchmal sehnt man sich nach ihnen, aber das geht vorbei. Alles andere sind "Wolken und Bäume, Gras […] und Tiere, die das Gras fressen", "fließend Wasser und Strom". Häuser. Balkone. Rasenmäher-Roboter. Keine Menschen. Keine Berge. Johann Kaiser ist einer von uns. Mit "Für immer die Alpen" ist Benjamin Quaderer ein wundersam anzuschauendes Gleichnis unseres Verschwindens gelungen.
Benjamin Quaderer: "Für immer die Alpen"
Luchterhand Verlag, München. 585 Seiten, 22 Euro.
Luchterhand Verlag, München. 585 Seiten, 22 Euro.