Stefan Heinlein: Wenn eine Ehe am Ende ist, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat, aber dennoch eine Trennung vorerst scheut, geht man in Therapie, um der eingeschlafenen Beziehung frischen Wind zu geben. Nach dem Wochenende sind die Partner CDU und SPD wieder zurück im grauen Berliner Alltag. Allerdings ist offen, ob die getrennten Therapiesitzungen dauerhaft reichen für eine gemeinsame glückliche Zukunft. Der Praxistest folgt Mitte der Woche im Koalitionsausschuss, heute aber zunächst noch einmal getrennte Fraktionssitzungen. Und dort in der Hauptstadt begrüße ich jetzt den Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke von der renommierten Fachzeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik". Guten Tag, Herr von Lucke!
Albrecht von Lucke: Guten Tag, Herr Heinlein!
"Profilierung beider Parteien in beide Richtungen"
Heinlein: Politik auf dem Prüfstand, das findet Sigmar Gabriel gut. Wir haben ihn gerade gehört. Ist das auch gut für den Fortbestand der Koalition, Herr von Lucke?
von Lucke: Das ist zumindest zweifelhaft. Man hat ja nun wirklich scharfe Töne gehört. Auf der anderen Seite, und das macht die Ironie aus, wir haben gewissermaßen die Profilierung beider Parteien in beide Richtungen erlebt in den letzten Tagen. Das hat die SPD klar nach links gemacht. Sie hat sich ein Profil verliehen, das sie über Jahre nicht mehr hatte. Das macht eine gewisse natürlich neue Stärke und ein gewisses Selbstbewusstsein bei ihr aus, denn sie hat offen den Abschied von der Agenda 2010 postuliert. Auf der anderen Seite hat die CDU sich stark nach rechts, also eher ins Konservative konsolidiert. Gestern auf dem Werkstattgespräch hat man eine ganz andere Form der Konsequenz herausgehört. "Mehr Härte wagen", kann man sagen. Also ein Rechtsstaat, der sich auf der Nase nicht mehr herumtanzen lässt. Das waren die Worte von Annegret Kramp-Karrenbauer. Wir haben es also ironischerweise mit einer Konsolidierung in beide Richtungen zu tun. Beide verleihen sich das Profil, das sie in zukünftigen Wahlkämpfen brauchen. Das ist also eine Munitionierung für einen Wahlkampf, der in der Tat sehr bald kommen kann, wenn die Koalition nicht mehr allzu lange halten sollte.
Heinlein: Stichwort Profilierung, Herr von Lucke. Wenn die Partner in der großen Koalition jetzt also offensiv wieder ihren Markenkern betonen, wieder unterscheidbarer werden, welche Auswirkungen hat das auf die Zusammenarbeit in Berlin. Wenn man jetzt, ein Jahr nach Beginn der großen Koalition, schon wieder an den Wahlkampf denkt, der vielleicht in drei Jahren erst kommen wird.
von Lucke: Das ist eine ganz ironische Frage, denn einerseits ist es ja ein Manko dieser Koalition gewesen, dass sie sich in ihrer Tätigkeit kaum mehr kenntlich machen konnte, die beiden Volksparteien. Wenn sie sich jetzt also neu munitionieren, kenntlich machen, dass die eine stark die linke Seite abdecken will, die andere eher die rechte Seite, also auch die AfD-Wählerinnen und -Wähler wieder einbeziehen will, dann ist genau das das, was in den letzten Jahren vermisst wurde. Es könnte also ironischerweise die große Koalition durchaus stärken. Auf der anderen Seite, und das könnte sehr bald geschehen, ist es natürlich ein gewaltiges Risiko gerade auch seitens der SPD, wenn sie Ansprüche anmeldet, also ein Konzept vorlegt, das weit stärker den Sozialstaat in den Mittelpunkt stellt, also weit sozialer, durchaus linker sein will, dass sich diese Anforderungen und diese Ansprüche in den harten Realitäten dann als unterlegen erweisen. Das könnte schon in der nächsten Koalitionsausschusssitzung der Fall sein, wo die CDU deutlich angekündigt hat, dass mit ihr beispielsweise die Grundrechte, die Respektrente von Herrn Heil nicht zu machen sein wird. Dann ist das Problem da, dass Anspruch und Realität auseinanderklaffen. Und das macht es dann gerade für die SPD sehr schwierig, damit zu punkten.
"Befreiungsschlag" in letzter Minute für Nahles
Heinlein: Dann sprechen wir weiter über die SPD zunächst, Herr von Lucke. Wie erfolgversprechend ist denn dieser Versuch von Andrea Nahles, der neuen Vorsitzenden, sich in der Regierung inhaltlich zu erneuern? Das ist ja der Spagat, vor dem viele Genossen gewarnt hatten vor dem Ja zur großen Koalition.
von Lucke: Das war das Problem von Anfang an. Aber, und das macht es so ironisch, ich glaube tatsächlich, Andrea Nahles ist vor allem für sich selbst der Befreiungsschlag in letzter Minute geglückt. Denn wir müssen uns eines bewusst machen: Die SPD speziell steht in einem Schicksalsjahr. Die Wahl am 26. Mai, das ist sowohl die Europawahl, aber auch die Wahl in Bremen, einer der letzten Ministerpräsidenten, der zu verteidigen ist, aber auch zehn Kommunalwahlen, die manchmal vergessen werden. Dieses Datum ist bereits das erste Schicksalsdatum. Noch sind es nur noch dreieinhalb Monate. Und jetzt hat die SPD gezeigt, übrigens in erstaunlicher Geschlossenheit – auch Kevin Kühnert war ja voll einbezogen, steht voll hinter dem neuen Projekt – jetzt hat sie gezeigt, dass sie inhaltlich zu einer neuen Position in der Lage ist. Bürgergeld, das ist ein neuer Ansatz, das ist tatsächlich etwas, was in einem gewissen Maße Abstand nimmt von der starken Forderungsperspektive von Hartz IV, also eher das Fördern in den Mittelpunkt stellt. Damit ist die Erneuerung jedenfalls rhetorisch, nennen wir es so, zunächst einmal gelungen. Und das ist die Voraussetzung dafür, dass die SPD überhaupt in einem Wahlkampf, der jetzt ja bereits läuft mit diesen Wahlen am 26. Mai, überhaupt ein Profil vorzeigen kann. Insofern hat sie den Beweis erbracht, wir können ein Projekt anschieben, auch aus der Regierung heraus. Die Frage wird bloß sein, und das ist die entscheidende Frage, kann sie damit auf der linken Seite von Grünen und Linkspartei so viel gewinnen, während sie in der Mitte also an die CDU/CSU mit Sicherheit einiges verlieren wird. Also wären die Gewinne, würde die Konsolidierung auf der linken Seite, größer sein als die Verluste an CDU/CSU, die jetzt ja für sich reklamieren, dass sie die eigentlich Erben der Agenda 2019 und Hartz-Politik von Gerhard Schröder sind.
"Keine große Neigung, die Koalition aufzukündigen"
Heinlein: Ein Schicksalsjahr für die Genossen, sagen Sie, in diesem Jahr 2019 mit diesen vielen Wahlen. Was erwarten Sie denn, wenn es für die Genossen weiter in den Keller geht bei diesen Wahlen. Man landet bei 15 Prozent oder noch weniger, wird dann Andrea Nahles die Reißleine ziehen und die große Koalition vorzeitig verlassen?
von Lucke: Ich glaube, und das ist die Ironie der gestrigen Tage und der letzten Tage, der Ereignisse, dieses Datum, der gestrige Tag hat die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Wahlen im Mai überleben kann, erheblich vergrößert, denn sie hat damit durch den Druck auch von außen die inneren Reihen stärken können. Der äußere Gegner stärkt immer die inneren Reihen. Also, die großen Worte der CDU/CSU, "wir haben es mit der Abschaffung der sozialen Marktwirtschaft zu tun", das ist ja jetzt der Vorwurf in Richtung der SPD, stärkt die inneren Reihen, es stärkt die Geschlossenheit – übrigens auch die fatalen Angriffe von Sigmar Gabriel, der, wenn er sich denn Hoffnung gemacht haben sollte, noch einmal wiederzukommen, durch seine Invektiven gegen Andrea Nahles und das Stänkern gegen die Parteivorsitzende sich letztlich auch wieder fast aus dem Spiel genommen hat. Auch das hat die inneren Reihen der SPD gestärkt. Selbst Kevin Kühnert steht jetzt hinter der Parteivorsitzenden. Mit diesem inhaltlichen Aufschlag wird Andrea Nahles auch eine herbe Niederlage bei der Europawahl, und die dürfte kommen, denn die SPD kommt von 27 Prozent, da wird sie mit Sicherheit um die zehn Prozent verlieren. Sie wird sie eher überleben können, als wenn sie nichts vorgelegt hätte. Das heißt, die SPD weiß, dass sie jetzt ein inhaltliches Konzept hat. Sie muss dann, und das wird die entscheidende Frage sein, sie muss sich die Frage stellen, kann sie es riskieren, auch nach Niederlagen im Mai, dass sie dann mit Blick auf den Herbst, denn dann stehen die nächsten dramatischen Wahlen an, nämlich im Osten Deutschlands, in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, kann sie es riskieren, dann aus der großen Koalition auszutreten, um dann möglicherweise auch im Bund noch gleich einen Wahlkampf schlagen zu müssen, bei dem sie auch keine guten Voraussetzungen mehr hat, nämlich noch nicht mal über einen Kanzlerkandidaten zu verfügen. Das ist die große Frage, und insofern sehe ich noch nicht, dass die SPD allzu große Neigung haben könnte, diese Koalition aufzukündigen. Aber es ist keineswegs ausgemacht, dass die CDU/CSU so lange stillhält. Denn auch die CDU hat angekündigt, dass sie die Koalition auf den Prüfstand stellen will. Und wir werden erleben, dass die nächsten Wochen einen permanenten Abgleich bedeuten werden. Auch die CDU wird genau gucken, ob ihre Werte nach oben gehen, ob nach dem Mai sie vielleicht die Exit Option sucht und sagt, jetzt sind die Differenzen zweier Parteien, die sich anders profiliert haben, so groß, jetzt müssen wir die Koalition beenden, um mit einer dann vielleicht erstarkten Kanzlerkandidatin Annegret Kramp-Karrenbauer unsererseits Neuwahlen zu suchen.
Alter "Kanther-Konservativismus" wird nicht wiederkehren
Heinlein: Und diese Annegret Kramp-Karrenbauer, Herr von Lucke, hat ja jetzt angekündigt, die Grenzen notfalls dicht zu machen. Das ist also eine Abkehr von der Merkel-Flüchtlingspolitik. Ist das etwas, was enttäuschte CDU-Wähler von der AfD tatsächlich zurückholen kann? Denn das steckt ja sicherlich im Hintergrund.
von Lucke: Ich glaube in der Tat, dass Annegret Kramp-Karrenbauer von ihrer ich nenne es mal Neuigkeit auf der bundespolitischen Ebene sehr geschickt Profit machen kann, dass sie davon profitieren kann, dass sie sich absetzt, sehr klar absetzt, zumal das genau in einer Situation kommt, da die AfD ohnehin schwächelt. Sie schwächelt ob der Beobachtung durch den Verfassungsschutz, jedenfalls ihres Flügels. Sie schwächelt aber auch ob der Tatsache, dass das Migrationsthema ein Stück weit in den Hintergrund getreten ist. Und wenn es jetzt Annegret Kramp-Karrenbauer gelingt, mit einer sehr viel stärkeren Law-and-order-Position deutlich zu machen, wir haben aus den Ereignissen von 2015 gelernt, wir werden uns beim nächsten Mal anders verhalten, und vor allem, man merkt es ja auch, Angela Merkel gar nicht mehr in diesen Debatten eine Rolle spielt, dann könnte die CDU/CSU tatsächlich einen Neustart auf der rechten Seite versuchen. Und ich glaube, manche der Wählerinnen und Wähler könnte tatsächlich aus den Reihen der AfD zur CDU/CSU zurückkehren.
Heinlein: Hat denn die CDU, hat die Union überhaupt das Personal, um überzeugend mit einem konservativen Profil auf den politischen Markt zu gehen, denn die Führungsriege der Union ist ja geprägt von den Jahren Angela Merkels.
von Lucke: Ja, aber wir müssen feststellen, dass diese Führungsriege ja in Teilen, wir haben es gerade gestern auch wieder erlebt, sich gewissermaßen die Debatten noch einmal im Off liefert. Also wir erleben, dass Thomas de Maizière mit seiner Attacke auf Herrn Seehofer prompt von Herrn Seehofer gekontert wurde, dann sind das gewissermaßen noch mal die alten Spieler gewesen. Angela Merkel hat sich derweil in beredtes Schweigen gehüllt und hat Frau Kramp-Karrenbauer die Bühne überlassen. Nein, ich glaube auch nicht, dass das Profil unbedingt der klassischen Kantherschen Couleur einer alten Law-and-Order-Politik entsprechen muss. Es kann durchaus ein mitfühlender Konservatismus sein, der durchaus klar macht, dass man für die eigene Bevölkerung hart in der Grenzfrage ist, aber auf der anderen Seite auch die Rentenfrage, auch die soziale Frage sehr ernst nimmt. Denn das ist ja in den letzten Jahren und vor allem mit Blick auf Ostdeutschland die Erfolgsmaxime der AfD gewesen. Sie will auch die soziale Frage sehr bespielen. Und da kann durchaus eine Frau wie Annegret Kramp-Karrenbauer, ich glaube, mit ihrem sozialen Image, aber auf der anderen Seite auch mit dem klaren Image, Law-and-order durchzuziehen, da kann sie meines Erachtens punkten. Also, es wird aber damit nicht mehr der alte Kanther-Konservatismus der früheren Jahre sein oder gar der Dregger-Konservatismus. Den wird die CDU in dieser Weise nicht mehr erleben.
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Albrecht von Lucke von den "Blättern für deutsche und internationale Politik". Ich danke ganz herzlich für das Gespräch, und auf Wiederhören nach Berlin!
von Lucke: Ich danke Ihnen!
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