Seit Dezember 2022 blockiert Aserbaidschan den einzigen Zugang zur von Armenien beanspruchten Enklave Bergkarabach im Kaukasus, den Latschin-Korridor. Die Bevölkerung leidet unter Versorgungsproblemen und fürchtet einen möglichen Genozid. Seit Jahrzehnten gibt es einen Konflikt um Bergkarabach. Die Region im Südkaukasus befindet sich innerhalb von Aserbaidschan und ist völkerrechtlich auch diesem zugeordnet. Doch ein Abschnitt ist unter armenischer Kontrolle.
Wie ist die Situation vor Ort?
Die Situation in Bergkarabach ist katastrophal, folgt man den Berichten der Karabach-Armenier auf Social Media. Unabhängige Berichte gibt es nicht, denn die Region ist blockiert, Journalisten haben keinen Zugang. Berichte von Menschen aus Bergkarabach stimmen mit den Beobachtungen von NGOs überein.
Die Menschen – es sollen mehr als 100.000 sein, darunter 30.000 Kinder – leiden demnach unter erheblichen Versorgungsengpässen. Supermarktregale sind leer, die Menschen müssen lange warten, um Lebensmittel wie Brot zu erhalten. Die medizinische Versorgung ist stark eingeschränkt. Apotheken haben kaum noch Medikamente vorrätig, auch Krankenhäuser haben kaum noch Kapazitäten.
Chronisch kranke Menschen haben Schwierigkeiten, benötigte Medikamente zu bekommen. Sie sind teilweise auf Tauschbörsen angewiesen.
Krankentransporte in die armenische Hauptstadt Eriwan sind derzeit nur sehr eingeschränkt möglich. Außerdem ist es wegen der Blockade und fehlenden Treibstoffs schwer, medizinische Notfälle in Bergkarabach angemessen zu transportieren und zu versorgen.*
Gibt es in Bergkarabach eine Hungersnot?
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Ian Bremmer warnte auf Twitter ausdrücklich vor einer Hungersnot.
Tatsächlich soll es bereits einen Hungertoten gegeben haben: Am 15. August hat der Ombudsmann für Menschenrechte in Bergkarabach mitgeteilt, dass ein 40-jähriger Mann wegen starker Mangelernährung verstorben ist. Im Juli wurde gemeldet, dass sich die Zahl der Fehlgeburten aufgrund von Mangelernährung der Schwangeren verdreifacht hat.
Warum gibt es den Konflikt um das Gebiet Bergkarabach?
Seit Jahrzehnten besteht der Konflikt um Bergkarabach zwischen Aserbaidschan und Armenien. Die Region im Südkaukasus, vergleichbar groß wie das Saarland, gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan. Ein Abschnitt der Region ist indes unter armenischer Kontrolle; der Großteil der etwa 150.000 Bewohner sind Armenier.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärte sich Bergkarabach für unabhängig. Das wurde international nicht anerkannt. Es folgte ein Krieg in den 90er-Jahren, den Armenien mit Unterstützung Russlands zunächst für sich entschied. Trotz internationaler Konfliktlösungsversuche hielten die Spannungen an, es gab langwährende Auseinandersetzungen sowie Verluste entlang der Frontlinien.
Im Herbst 2020 führte Aserbaidschan mit Unterstützung der Türkei eine gewaltsame Offensive durch und entschied den Konflikt zugunsten Aserbaidschans. Russland, das zuvor Armenien unterstützt hatte, hatte sich dieses Mal zurückgehalten.
Was befürchten die Armenier in Bergkarabach?
Armenien hat den Vorschlag gemacht, seine territorialen Ansprüche auf das Gebiet Bergkarabach in Aserbaidschan offiziell aufzugeben. Dies löste unter den ansässigen Armeniern erhebliche Besorgnis aus. Sie befürchten, verdrängt zu werden – oder Schlimmeres:
"Sollte unsere Regierung die Forderung Aserbaidschans akzeptieren und Bergkarabach aufgeben, befürchte ich, dass wir von Aserbaidschanern in unseren Wohnungen ermordet werden – so wie es schon 1915 passiert ist", sagte die Armenierin Shogher Sargsyan angesichts der Traumata vom Völkermord im Osmanischen Reich. Sie ist 23 Jahre alt und lebt in der größten Stadt der Region, Stepanakert.
Nicht nur Armenier und Armenierinnen fürchten Völkermord
Auch der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, hat sich in einem Report zu der Situation geäußert: „Aushungern“ sei eine der unsichtbaren Waffe eines Genozids und es bestehe die Gefahr, dass die armenische Bevölkerung Bergkarabachs vernichtet werde, sollte sich die Situation nicht bald drastisch ändern.
Die NGO "Genocide Watch" sprach bereits im September 2022 von einem drohenden Genozid auf Basis von Hassrede und Kriegsverbrechen.
Welche internationalen Reaktionen gibt es auf die Situation in Bergkarabach?
Die Blockade war auch Thema in einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats. Dieser fordert in einer Mitteilung die Öffnung des Korridors und eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Bei der Sitzung wurde zudem bestätigt, dass das Internationale Rote Kreuz seit einigen Wochen keinen Zugang in die Region hat.
Die derzeitige Präsidentin des Rats, die UN-Botschafterin der Vereinigten Staaten, Linda Thomas-Greenfeld, hat Aserbaidschan aufgefordert, die Bewegungsfreiheit über den Korridor wieder herzustellen. Ob Aserbaidschans Regierung dieser Forderung nachkommt, ist unklar.
In den vergangenen Monaten haben internationale Bemühungen wenig bewirkt. Es gab bereits zwei Urteile des Internationalen Gerichtshofs mit der Anordnung an Aserbaidschan, den Korridor freizugeben. Auch Gespräche zwischen der armenischen und der aserbaidschanischen Führung – vermittelt durch die EU – waren diesbezüglich ohne Auswirkungen.
Marianna Deinyan, og
(*) Redaktioneller Hinweis: Anders als zunächst beschrieben, finden mittlerweile Krankentransporte zwischen Bergkarabach und Armenien statt. Die entsprechende Stelle wurde korrigiert.