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Bergsteigen am Piz Bernina
Über die Himmelsleiter in den Festsaal der Alpen

Die Hochtour über die sogenannte Himmelsleiter im Schweizer Oberengadin gilt nach dem Peuterey-Grat am Mont Blanc als schönste und abwechslungsreichste in den Alpen. Unter Bergsteiger heißt es, wer den Bernina über den Spallagrat macht, der gilt was, wer über den Biancograt aufsteigt, gilt noch mehr. Ausgangsort der Hochtour ist Pontresina.

Von Andreas Burman |
    Letzte Schritte zum Bernina-Gipfel
    Letzte Schritte zum Bernina-Gipfel (Deutschlandradio / Andreas Burman)
    Selten dürfte eine Hochtour so angenehm und romantisch beginnen: Mit vorgespannten drei PS lenkt Verena ihr Pferdetaxi durch das sonnenbeschienene Val Roseg mit seinem lichten Lärchenwald.
    "Also das linke ist die Tina, das in der Mitte ist die Franzi und das rechte ist die Capuccino."
    Ab und an grüßen Wanderer, fährt ein Mountainbiker vorbei. An einem nahen Hang machen zwei Gemsen mit dünnen Pfiffen auf sich aufmerksam, etwas weiter rupfen Kühe saftiges Gras aus der Wiese, mit ausholenden Bewegungen schneidet ein Bauer mit der Sense hochgewachsenes Grün, während sein Hund mit aufgerichtetem Kopf herüber schaut. Einige hundert Meter höher liegen noch Flecken von Schnee auf den Gipfeln. Zahlreiche Bäche sprudeln zu Tal, schlängeln sich durch Wiesen oder stürzen sich über dunkle Felswände, wo Wind den Wasserstaub in dünnen Wolken davon trägt.
    Am Vormittag hatte der Leiter der Bergsteigerschule Pontresina, Gian, einen letzten Prognose-Check auf seinem Tablet gemacht.
    Gute Wetteraussichten
    "Wir sehen jetzt das Wetter für morgen. Heute ist bereits schon sehr, sehr schönes Wetter, und morgen hat’s wirklich elf Stunden Sonnenschein den ganzen Tag. Also sieht echt gut aus. Wenn wir das Ganze noch auf einem anderen Wetterbericht anschauen, der sagt genau das Gleiche. Deshalb können wir wirklich davon ausgehen, dass es morgen super wird."
    Und Gian hat dann noch einmal beschrieben, warum diese Aussicht ein Geschenk ist:
    "Der Bernina ist von allen Seiten mit dem Biancograt einfach sehr schön zum Anschauen. Wer am Biancograt selber schon war, weiß, dass das einfach eine wahnsinnsschöne Tour ist. Das ist sicher eine der abwechslungsreichsten in den Alpen. Der Bernina ist der östlichste Viertausender mit 4.049,5 Metern und ich denke, das ist für jeden, der hier bergsteigen möchte, fast ein Muss, da mal hoch zu gehen."
    Nach einer guten Stunde steige ich von der Kutsche und beginne den Aufstieg zur Hütte. Knapp 600 Höhenmeter sind es bis dahin, bald lässt die Sommersonne den Rücken unter dem Rucksack schweißnass werden. Gut, dass ich die ersten acht Kilometer der Wanderung bequem in einer Pferdekutsche zurückgelegt habe. Umso frischer, aufmerksamer bin ich für die Landschaft.
    Hüttenromantik pur
    Das Tal hat sich merklich geweitet und den Blick geöffnet auf den Roseg-Gletscher und darüber eine ansteigende Runde schneeweißer Gipfel vom Dreieinhalbtausender Corvatsch über die Piz Chapütschin, Roseg und Scerscen bis zum König der Ostalpen, dem Piz Bernina. Gut anderthalb Stunden sind vergangen, als ich oberhalb der Seitenmoräne des Tschierva-Gletschers die nach ihm benannte Hütte auf 2.600 Metern erreiche: Ein helles, zweistöckiges Haus aus Naturstein mit hellroten Fensterläden und großer Terrasse sowie einem zweistöckigen Anbau aus dunklem Lärchenholz. Seit 16 Jahren kümmert sich Hüttenwartin Caroline mit fünf Mitarbeitern um die Gäste. In der Regel Bergsteiger, die die 120 Lagerplätze vor allem im Juli und August voll belegen. Hüttenromantik, sagt die sehr jung wirkende 44-Jährige mit dem aschegraugefärbten Bubikopf, Hüttenromantik erlebt sie schon auch, aber im Vordergrund steht ganz klar die Arbeit:
    "Morgen hab‘ ich die Frühschicht, also steh‘ ich um halb drei Uhr auf am Morgen und mach‘ das Frühstück bis um drei. Und nachher das nächste Frühstück ist um fünf Uhr. Und wenn es fertig ist, dann geh‘ ich wieder ins Bett und schlaf‘ vielleicht bis zehn. Und meine Kameraden, die stehen um sieben Uhr auf und machen das letzte Frühstück und müssen halt die ganze Hütte putzen. Und um zehn Uhr gibt’s dann Frühstück für uns."
    Das Tagesgeschäft ist für die gelernte Augenoptikerin aus Zürich nicht die einzige Aufgabe.
    "Also wir müssen halt all‘ die Fensterläden mal wieder abschleifen und neu malen. Auch die Küche müssen wir dieses Jahr wieder neu streichen. Oder den Hüttenweg, Richtung Bianco ist alles runtergekommen, müssen wir selber neu machen, also wir sind ständig irgendwelche Sachen am Machen."
    In der Tschiervahütte treffe ich meinen Bergführer: David, dunkelblonde Haare, jugendliches Gesicht, ruhiges, besonnenes Auftreten. Vor einem halben Jahr hat er seine dreijährige Bergführer-Ausbildung abgeschlossen. Dass der 24-Jährige auch gelernter Informatiker ist, erstaunt mich schon: Wie passt die trockene digitale Welt mit handfester greifbarer Natur zusammen?
    "Das stimmt, es sind sehr starke Gegensätze einerseits. Andererseits finden sich immer wieder auch Parallelen. In einem Informatikbetrieb im Bereich Systemtechnik, Systemverwaltung hat man schnell mal irgendwo viel Verantwortung, was übertragen auf den Bergführerberuf auch so ist."
    Ich werde es als Glück begreifen, dass David sich für den Bergführerberuf entschieden hat. Zu seiner ausgezeichneten Technik, Körperbeherrschung und Umsicht kommt die Fähigkeit, binnen weniger Stunden uneingeschränktes Vertrauen zu vermitteln. Das wird mich Anforderungen sicher bewältigen lassen, bei denen sich mir zuvor die Nackenhaare gesträubt hätten. Keineswegs nur Ergebnis seiner Ausbildung, sagt David:
    "Ich hab‘ meine erste Skitour mit acht Jahren gemacht. Die erste kleine Hochtour kam dann mit zehn Jahren mit meinem Vater, auch meine Mutter war oft dabei. Wir gingen oftmals mit der ganzen Familie in die Berge. Und so ist das über die Jahre gewachsen."
    Auch bei Expeditionen in den peruanischen Anden und dem nepalischen Himalaya oder Klettern an der "Nose" im kalifornischen Yosemite Valley.
    Zum Abend hat sich die Hütte nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Die meisten Bergsteiger wollen am nächsten frühen Morgen auf den Piz Roseg, Sibylle, Verena und Marti haben wie wir Biancograt und Piz Bernina zum Ziel.
    "Was mich reizt ist die wunderschöne Form vom Biancograt. Ich erwarte einen langen anspruchsvollen und erlebnisreichen Tag." – "Und für mich wird es wahrscheinlich eine Grenzwanderung sein, ich liebe es, an meine Grenzen zu kommen. Mit 40 wollt‘ ich da schon ‘mal hoch, und jetzt geh‘ ich halt mit fünfzig hoch." (Lacht) – "Grad ist immer schön, beide Seiten kann man durch schauen, luftig, sehr schön."
    Noch in der Nacht wird aufgestanden
    Die Nacht ist kurz. Um zwei Uhr dreißig klingelt der Wecker. Ein Birchermüsli, etwas Kaffee, dann stehe ich mit David startbereit vor der Hütte in der sternenklaren Nacht. Es ist soweit.
    "Zwanzig vor vier. Dann lass‘ uns losgehen, ja?"
    Gleich hinter der Terrasse steigt der Pfad zügig an, schon nach 15 Minuten sehen wir die Hütte 100 Höhenmeter unter uns liegen. Bald geht es über einige mit Stahlklammern und Ketten abgesicherte Felspassagen.
    In einer wechselnd auf und absteigenden Linie folgen wir längs dem steilen Berghang. Gelegentlich hackt David mit seinem Pickel Tritte in gefrorenen Altschnee und Eis, mit denen Bachläufe überzogen sind.
    Etwas unangenehm sind einige lockere Geröllfelder, die leicht ins Rutschen geraten. David zeigt in Richtung des stark zerklüfteten Bands des Tschiervagletschers unter uns. Bis vor vier Jahren ging man an dessen Seitenmoräne entlang, bis mehrere Erdrutsche geschahen:
    "Da sehen wir die Passage, die nicht mehr begehbar ist. Darum befinden wir uns hier auf dem eher schlechten Weg, also einem Weg, der halt immer ein bisschen in Bewegung ist im Geröll." – "Man sieht hier auch jetzt im Licht der Stirnlampen gelegentlich reflektierende Zeichen." – "Genau, das macht die Wegfindung in der Dunkelheit ein bisschen einfacher. Die neuralgischen Stellen sind mit Ketten abgesichert, vor allem auch da, wo’s oftmals feucht ist und sich bei Kälte Wassereis bilden kann."
    Vorsicht am Gletscher ist geboten
    Trittsicherheit verlangt auch der Gletscher, den wir nach knapp zwei Stunden angeseilt und mit Steigeisen betreten - gerade in seinen steileren Passagen. Wie tückisch der sein kann, hat Marti zu spüren bekommen, den wir in der Hütte kennengelernt haben:
    "Beim ersten Schneecouloir bin ich ausgerutscht, und das war, ich denk‘ zwanzig, dreißig Meter, abgerutscht …Ja, war ein Fehler von mir, ich hatte den Pickel nicht in der Hand und konnte dann erst spät bremsen. Und jetzt hab‘ ich überall ein bisschen Prellungen, Schrammen, aber es geht."
    Beide Daumen und das Kinn sind dick mit Heftpflaster abgeklebt.
    Für einige Augenblicke lenkt ein wunderschönes Bild hoch über uns die Aufmerksamkeit ab: Malerisch balanciert die abnehmende Halbmondsichel mit ihrer unteren Spitze genau auf dem Biancograt, der selbst schon ein wenig im ersten rosigen Licht der aufsteigenden Sonne leuchtet.
    Durch ein bis 45 Grad aufsteilendes Schnee- und Eiscouloir nähern wir uns der Fuorcla prievlusa. Das ist rätoromanisch und heißt "gefährliche Scharte". Der Name ist Programm, wie mir Bergschulleiter Gian dazu erläutert:
    "Im Hochsommer kann das auch so ‘ne wirkliche kleine Eiswand werden. Wenn das nicht gut sein sollte, hat man dann immer hier die Möglichkeit gegen links in die Felsen raus. Da gibt’s im Felsen so Sicherungspunkte verankert. Da kann man dann gut in den Felsen hochklettern.
    Als wir gegen Viertel nach sechs auf rund 3.400 Metern die Schartenhöhe erreichen, stehen wir erstmals in der warmen Morgensonne. Wie eine Brüstung hängt eine dicke Wächte über der Rückflanke, die den Blick rasch ins benachbarte Morteratschtal stürzen lässt, von wo aus er sich allmählich wieder hebt bis auf den Piz Palü gegenüber.
    "Die Lage der Fuorcla prievlusa ist wild und großartig, die fallenden und steigenden Linien ihrer Umgebung harmonieren bereits mit dem kühnen Bilde, welches die Höhe des Pizzo Bianco aufzurollen bestimmt ist," schreibt der Berliner Geographie-Professor Paul Güßfeldt von seiner Erstbegehung unserer Route am 12. August 1878.
    Fünf Stunden dauert der Aufstieg
    Es geht ans Klettern. Ein einstündiger Felsaufstieg soll uns direkt zum Biancograt führen. Fast aufrecht steigen wir höher und höher. Die Zacken der Steigeisen finden mal auf breiteren, mal auf schmaleren Felsleisten Halt, die Hände suchen nach einem guten Griff, mal kicken wir die Frontzacken in den festen Schnee. Unter uns wird es immer luftiger.
    Dann erreichen wir die Grathöhe des Piz Prievlusa, steigen auf die gefrorene schmale Firnschneide und queren sie – mit der gebührenden Konzentration.
    Sorgsam prüft David bei jedem Schritt, ob der Schnee trägt. Zur Linken stürzt der Blick jäh einige hundert Meter auf den Morteratschgletscher, zur Rechten auf den Tschiervagletscher. Der Franzose Henry Cordier, der diese Route im August 1876 erstbeging, notierte dazu:
    "Wir begegneten ziemlich schwierigen Felsen; darauf gab es nur noch Firn. Dieser Firngrat ist sehr scharf, und an einigen Stellen ist er wirklich schwierig."
    Am Ende gehen wir, die Schuhe quer gestellt, nur noch auf dem Mittelfuß über die Schneide. Zuletzt steigen wir über etliche Felsblöcke einige Meter zum Biancograt ab.
    "Ja, das waren jetzt außergewöhnliche Verhältnisse da, auf diesem Gratstück, kurz vorm Biancograt. Normalerweise ist das ein Blockgrat. Da noch viel Schnee liegt, hat sich dort ein scharfer Schneegrat gebildet, auf dem wir richtiggehend balancieren mussten."
    Mit David eine sichere Sache. Jetzt endlich ist es soweit: Ich betrete die Himmelsleiter. Das herrlich anzusehende Schnee- und Eisdach, an den fallenden Rändern in dunklen Fels gefasst, scheint tatsächlich geradewegs in den Himmel hinauf zu führen, mitten in sein makelloses Blau hinein. David setzt einen dunklen Tiroler Filzhut auf, mit heller Kordel und breiter welliger Krempe. Er hat wirklich eine ursprüngliche Lust am Bergsteigen.
    Die Tour kostet viel Kraft
    Zu Beginn des rund zweistündigen Aufstiegs müssen wir noch einen großen Felssporn unterqueren. Vor etwa fünfzehn Jahren ragte die "Haifischflosse" nur zwei, drei Meter aus dem Schnee. Inzwischen ist sie um das Fünffache herausgewachsen. Wir ersparen uns das Überklettern und unterqueren sie in der steilen Flanke, was es aber auch nicht einfacher machen wird: Bei einer Temperatur von plus vier Grad gibt der von der Sommersonne bestrahlte Fels seine Wärme ab, weshalb wir bis zur Hüfte in den weichen Schnee einsinken und höllisch aufpassen müssen, nicht abzurutschen. Auf über 3.500 Metern eine echte Plackerei. Auch der nachfolgende ununterbrochene Anstieg mal links, mal rechts vom Gratscheitel oder auf ihm selbst, ist extrem kräftezehrend. Da hilft auch keine noch so tolle Aussicht mehr. In mir macht sich nur noch eine Frage breit: Wann ist endlich der höchste Punkt erreicht? Alexander, aus Sonthofen, und der Münchener Julian, zwei befreundete Wirtschaftsstudenten, die ich später in der Hütte treffe, beschreiben es so:
    "Ach, zwischendurch war’s schon sehr anstrengend. Es kann nun schon kräftezehrend sein, wenn, ja, wenn’s nur bergauf geht und kein flaches Stück ist. Hatten wir schon zwischenzeitlich mal ‘ne kurze Leidensphase, aber das g’hört dazu." – "Es ist kräftemäßig halt so, dass es schon machbar ist, gut machbar ist, und dass es halt schon Momente gibt, wo man denkt: Boah, hab‘ ich eigentlich kein‘ Bock mehr gerade. Es tut jetzt mal schon kurz weh, aber ich mein‘, es wär‘ ja auch langweilig, wenn’s nicht so wär‘."
    Gegen Viertel vor elf auf dem Bianco-Gipfel, fünf Meter unter der Viertausender-Marke, angekommen: Ausschnaufen und Freude. Doch die währt nur kurz.
    Sie fällt gewissermaßen jählings in die völlig verschneite und ungespurte schroffe Bernina-Scharte. Augenblicklich fällt mir bei ihrem Anblick Henry Cordier ein, der 1876 lakonisch befand: "Absolument impossible" – völlig ausgeschlossen. Es braucht etwas, bis ich an die Eindrücke von Erstbegeher Güßfeldt, zwei Jahre später, denke:
    "Anfänglich in geringem Fall gegen Süden laufend, verschwand die Gratlinie plötzlich, indem sie senkrecht zur Scharte sprang und sich aus dieser wieder zu einer turmartigen Felsenbildung erhob, die durch eine zweite Scharte von der Berninaspitze getrennt war. Das Bild ist so grausig und überwältigend, dass es einiger Zeit bedarf, bis das aufgeschreckte Gemüt sich beruhigt hat. Ich hörte Hans Grass hinter mir sagen: ‚Nun sehen Sie selbst, Herr Doktor, dass man da nicht hinüberkommt."
    "Warum kann man hier nicht weitergehen?", entgegnete Güßfeldt unwirsch.
    138 Jahre später arbeiten auch wir uns vorsichtig voran, Gesicht zur Gratschneide. Bis zur Haue treibe ich den Pickelschaft vor jedem Schritt als Halt in den harten Schnee.
    So fest es geht, trete ich die Frontzacken der Steigeisen in die abweisend steile Flanke. Zwei, drei Male wechselt David auf die andere Seite, um besser gegen ein Abrutschen zu sichern. Es wirkt beruhigend, wie leichtfüßig, traumhaft sicher, ja, geradezu artistisch er sich bewegt. Zweimal seilen wir ab.
    "Den da hängst Du unten am Standplatz ein." – "Ok, alles klar." – Und sagst mir, wenn Du eingehängt bist." – "Ja, dann ruf‘ ich ‚Stand‘." – "Kannst Dich reinhängen."
    Güßfeldt hatte es weniger komfortabel: "Wer nicht vorbereitet durch die Schrecknisse der vorangegangenen Stunden, wie wir selbst es waren, uns an dieser Stelle plötzlich hätte erblicken können, würde uns ohne Bedenken zu den Kindern des Verderbens gezählt und zu den Toten geworfen haben."
    Wie die drei damals, queren wir mit einem großen Spreizschritt die berühmte luftige Bernina-Lücke. Nachdem ihm seine Führer Gross und Grass die Erstquerung erschlossen hatten, schrieb Güßfeldt heroisch:
    "An dieser schwer zugänglichen Stelle deponierten wir die ebengeleerte Flasche, die vielleicht nie zur Hebung gelangen wird."
    Die leere Weinflasche, darin der Zettel mit ihren Namen, sollte sehr schnell gehoben werden. Einmal erschlossen folgten andere der Route rasch nach.
    Kantig, schmal und wuchtig zugleich richtet sich jetzt der Bernina-Gipfel vor uns auf, schnee- und eisbewehrter dunkler afrikanischer Granit, aufgefaltet vor rund 300 Millionen Jahren während der Kollision des afrikanischen mit dem europäischen Urkontinent. Der viertelstündige steile Aufstieg ist praktisch eine Formsache. Um 12 Uhr 15 stehen Daniel und ich mit Marti und seinem Führer Paulin auf 4.049 Metern.
    "David!" – "Andreas! Klasse!" – "Martin!" – "Andreas, bravo, gratuliere!" – "Was für ein Ausblick, 360-Grad-Panorama vom Allerfeinsten."
    Auf einer Sonnenbank, die David mit seinem Pickel in den Schnee geschaufelt hat, genießen wir einige Minuten mit Energieriegeln und unserem Marschtee die Aussicht in der strahlenden Mittagssonne. Der Graubündner Erstbesteiger Johann Coaz notierte am 13. September 1850 auf dem schmalen Gipfel:
    "Gierig schweifte nun der Blick über die Erde bis an den weiten Horizont, tausend und tausend Bergspitzen lagen wie ein großes Meer um uns. Erstaunt und zugleich beklemmt sahen wir über dieses Bild großartiger Gebirgswelt hin. Der Bernina stund da wie ein gewaltiger Herrscher, umgeben von den Großen seines Reichs, anderen erhabenen Spitzen und Hörnern."
    Auch der Abstieg verlangt volle Konzentration
    Über den Spallagrat steigen wir ab. Noch mal gehen wir eine Stunde auf einem ungespurten teils messerscharfen Firngrat, der volle Konzentration verlangt. Am unteren Ende seilen wir uns dann auf den Gletscher ab, der uns – nach zehneinhalb Stunden – zur italienischen Marco-e-Rosa-Hütte führt. Dort, auf 3.600 Metern, sehen wir uns plötzlich Auge in Auge – mit einem Wolf. Kaum dass er uns erblickt, nähert er sich neugierig. Bis an mein Bein – wo er sein grauweißes Fell reibt und sich von mir wohlig kraulen lässt.
    "Vor 15 Jahren haben wir angefangen, Wölfe aufzunehmen hier, im Veltlin. Vier, fünf Wölfe sind unten, der hier ist meiner. Er heißt Camu. Drei Monate ist er mit mir hier oben im Schnee. Die Umgebung gefällt ihm sehr gut. Er ist sehr ruhig und artig," klärt Giancarlo – Stirnband, graubärtig, kräftig gebaut, genannt "Il Bandito" – auf.
    Er ist der Hüttenwart, der mit dem Wolf lebt. Zur Begrüßung gibt er einen Sekt aus. Seine Pasta dazu ist al dente und sehr schön all’arrabbiata. Die Nacht verbringen wir hier oben fernab der Niederungen weit unter uns. Die Stille und der klare Sternenhimmel erinnern mich an Verse von Shakespeare:
    "Shakespeare, Merchant of Venice"
    "Sieh nur, Jessica, dort, sieh nur des Himmels Tafel.
    Reich eingedeckt ist sie mit Schalen lichten Goldes.
    Auch nicht der kleinste Himmelskörper, den Du siehst,
    Der auf seiner Bahn nicht wie ein Engel singt.
    So voller Harmonie sind unsterbliche Seelen. Nur wir,
    Solang dies Staubgewand der Endlichkeit
    Uns grob umhüllt, wir können sie nicht hören."
    Am nächsten Morgen besteigen David und ich den weniger begangenen Piz Zupò, mit 3.996 Metern höchster Dreitausender der Alpen. Von dessen Gipfel queren wir auf einem langen Grat zur direkt angrenzenden Bellavista. Unsere landschaftlich sehr reizvolle Route führt dann von der weiten Bellavista-Scharte über den schroffen Fortezzagrat abwärts. Nach acht Stunden erreichen wir die Bergstation Diavolezza.
    "So, der letzte Schneehügel ist erledigt. David …" – "Da liegt noch Schnee… Bravo, Andreas." – "Eine Supertour. Aber ich muss sagen, nur mit einem Bergführer, der so drauf ist wie Du, ist das das Riesenerlebnis. Deswegen ganz herzlichen Dank."
    Auf der Terrasse genießen wir erschöpft, aber einfach erfüllt, das sonnenbeschienene Panorama von Piz Palü über Bellavista bis Piz Bernina mit dem Biancograt – mit einem hellen naturbelassenen "Bernina Bier", gebraut in Pontresina.