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Bergsveinn Birgisson: "Quell des Lebens"
Wahrheiten eines Seehundmannes

Der isländische Autor Bergsveinn Birgisson beschreibt seine Heimat als Gegenpol zum rastlosen Profitstreben des modernen Lebens. Sein Roman "Quell des Lebens" über die Island-Expedition eines dänischen Forschers ist ein historisches Märchen über Erdgeister und die Unzulänglichkeiten der Wissenschaft.

Von Cornelius Wüllenkemper |
Der Schriftsteller Bergsveinn Birgisson und sein Roman "Quell des Lebens"
Der Schriftsteller Bergsveinn Birgisson und sein Roman "Quell des Lebens" (Buchcover Residenz Verlag / Autorenportrait ©Helge Skodvin)
Die Dänen hatten nicht viel Glück mit ihrer Handelskolonie Island. Im 17. Jahrhundert sicherte sich das Königshaus gegen Norweger, Deutsche und Briten das Handelsmonopol auf der abgelegenen Insel, um Fischprodukte, Wolle, Schaffleisch, Fuchsfelle und Schwefel zu exportieren. Aber nicht nur das vermeintliche Phlegma der Isländer, auch die regelmäßigen Epidemien, die unwirtliche Witterung und der steinige Boden auf der größten Vulkaninsel der Erde machten die Pläne der Dänen zunichte.
Im Jahr 1783 stieß dann der Laki-Krater über Monate glühende Lava und giftige Gase aus, raffte Vieh und Pflanzen dahin und hüllte die Insel und ihren Himmel in dichte Asche. Als die Bewohner zusehends vom Hungertod bedroht waren, fasste das dänische Königshaus einen Plan: Man wollte die geschundene Bevölkerung von dieser unfruchtbaren und vor allem unprofitablen Insel evakuieren, um sie auf Westjütland anzusiedeln und als billige Arbeitskräfte einzusetzen. Vor diesem historischen Hintergrund siedelt Bergsveinn Birgisson seine Geschichte an.
"Berichte über den Zustand unseres kleinen Landes erlangten Berühmtheit und wurden auch in jenen Länder debattiert, die ebenfalls die Auswirkungen der dunklen Aschewolke spürten, die sich von Sibirien bis Alaska über die nördliche Hemisphäre gelegt hatte und gen Süden bis Italien, wo die Wienrauben in der Kälte nicht zu reifen vermochten. Von den allgemeinen Ernteausfällen behaupteten manche, sei seien der Ursprung großer Revolutionen gewesen."
Kann es mit "The Revenant" aufnehmen
Birgissons Erzählinstanz, ein geheimnisvolles "wir", könnten die Bewohner Islands sein oder auch die Erdgeister, Trolle, Riesen und Seelen der Toten, auf die man in diesem historischen Märchen allenthalben trifft. Bevor Birgisson den Wissenschaftler Magnús Árelíus Egede auf Expedition nach Island schickt, damit er die Insel kartographiert und einen Hafen für die geplante Evakuierung findet, leistet der Autor wissenschaftliche Vorarbeit. Birgisson erläutert nicht nur die wirtschaftspolitischen Umstände der Unternehmung, auch über die Abläufe am dänischen Hof, über Wissenschaft und Kartographie Ende des 18. Jahrhunderts erfährt man so manches Detail.
Dass der Autor Bergsveinn Birgisson über Geschichte und Mythen Islands forscht, kommt der faktischen Grundierung seines Romans, aber nicht unbedingt dessen Erzählfluss zugute. Nach langer Vorrede stürzt Birgisson seinen Helden Magnús Árelíus dann in ein Abenteuer, das es allemal mit dem Überlebensdrama "The Revenant" des US-amerikanischen Autors Michael Punke aufnehmen kann. Bereits bei der Überfahrt auf die gottverlassene Insel wird der Wissenschaftler gewarnt.
"Du solltest dich mit Leuten unterhalten, anstatt hier bei deinen Büchern zu sitzen. Ich sag es dir, der Kapitän sammelte sein Lächeln ein und wurde ernst, wenn du in die Strandasyssel reist, kommst du nie mehr zurück. Dort ist die Barbarei auf Island am ärgsten. Sie töten Menschen und verwenden die Leichen als Fischköder, sagte mir ein Mann, der von dort stammte. Sie verwenden die Köder, um eine Art Heringshai zu fangen, den sie fressen, wenn er in der Erde verrottet ist. Sie stopfen heilige Bücher in die Ritzen der Häuser. Sie verkaufen ihre Kinder an holländische Fischer. Ich werde den Bericht für dich schreiben. Er wird aus zwei Wörtern bestehen: Barbarei! Aussiedlung!"
Mythen und Fabeln Islands
Tatsächlich meint Magnús Árelíus bei seiner Ankunft auf Island alle hochmütigen kolonialen Vorurteile bestätigt zu finden. Er trifft auf geisterhaft stierende Bauern, aschebedeckte Felder, verrottende Fischerboote, halb verhungernde Einsiedler und einen "Idioten", den der Autor voller Selbstironie "Bergsveinn" tauft. Dessen Warnung vor dem drohenden Tod, vor Gerölllawinen und tiefen Schluchten schlägt der Wissenschaftler in den Wind. In seinem ersten Bericht an das dänische Königshaus schreibt er:
"Die Menschen [...] erzählen Geschichten von Seegeistern, Meermännchen und Halbmenschen, und je mehr Verrücktheiten und meras nugas vorkommen, desto mehr honneurs der Leute. [...] Ich kann mich nicht erinnern, bislang hier auf Island Menschen je lachen gesehen zu haben."
Die Text-Einschübe auf Lateinisch, Französisch, Norwegisch und Isländisch wirken teilweise erzwungen. Zugleich verliert die eigentliche Geschichte neben den wissenschaftlichen Exkursen, Expeditions-Berichten und deren Kommentierung manchmal den Faden. Dennoch baut Birgisson atmosphärisch gekonnt seine Kulisse auf.
Wunderschöne Isländerin, mystisches Quellwasser
Die wissenschaftlich messbare Wirklichkeit des Magnús Árelíus weicht immer mehr einer alternativen Realitätswahrnehmung, nämlich den Mythen und Fabeln, die die geheimnisvolle Landschaft Islands zu erzählen scheint. Erst nach dem Angriff eines Eisbären und der Rettung durch eine stumme, wunderschöne Isländerin, die ein mystisches Quellwasser verabreicht, wird die Seele des Wissenschaftlers "demütig und rein". Bergsveinn Birgisson hat einen Hang zur plakativen Dramatik, die dann und wann auch an Kitsch grenzt.
Birgisson lässt keinen Zweifel daran, dass er die immer wieder angeführte "Reinheit" und ehrliche Ursprünglichkeit der Isländer als Gegenpol zu Profitwirtschaft und Wissenschaftsgläubigkeit verstanden haben möchte. Für sein in den stärksten Passagen durchaus packendes historisches Märchen gilt: Ein bisschen weniger Dramatik und sprachliches Pathos hätte diesem Ansinnen nicht geschadet.
Bergsveinn Birgisson: "Quell des Lebens"
aus dem Isländischen von Eleonore Gudmundsson
Residenzverlag, Wien. 304 Seiten, 24 Euro.