Vor zwei Jahrzehnten vernahm Lehrer Li einen unerhörten Gesang, ein forderndes Flehen aus den Tiefen des Urwalds. Und er verfiel ihm. Wann immer die Bauern ihm zutrugen, sie hätten "die schwarzen Affen" gehört oder gar gesehen, versuchte er sie aufzustöbern.
Nach acht Jahren gelang ihm das erste Foto in den Gaoligong-Bergen. Am Ende befasste sich ein gutes Dutzend Zoologen, Anatomen und Genetiker aus vier Kontinenten mit seinen Schützlingen. Vergangenes Jahr veröffentlichten sie ihre Ergebnisse. Dorfschullehrer Li Jia-hong hat eine neue Menschenaffenart entdeckt. Einen Gibbon.
Nach acht Jahren gelang ihm das erste Foto in den Gaoligong-Bergen. Am Ende befasste sich ein gutes Dutzend Zoologen, Anatomen und Genetiker aus vier Kontinenten mit seinen Schützlingen. Vergangenes Jahr veröffentlichten sie ihre Ergebnisse. Dorfschullehrer Li Jia-hong hat eine neue Menschenaffenart entdeckt. Einen Gibbon.
Wir fragten ihn, ob er uns zu ihnen führen würde? "Wir können es versuchen", hatte er am Telefon geantwortet. "Aber es hängt davon ab, ob die Affen bei Laune sind. Und von eurem Dusel."
Gaoligongshan soll bald Nationalpark werden
Das erste Stück geht es auf der G 56 dahin, einer hochmodernen Autobahn, die den gesamten Süden Chinas durchquert. Der schmale Gebirgszug der Gaoligongshan erstreckt sich parallel der Grenze zu Birma (oder Myanmar). Wegen ihres artenreichen Bergwaldes stehen die Kammlagen unter Naturschutz und sollen bald zum Nationalpark hochgestuft werden.
Kaum fährt man von der Autobahn ab, umfängt einen Idylle: Terrassenfelder, Obstgärten, Bambushaine. Ein Sprung von der Ersten in die Dritte Welt. Die Landstraße führt am Ufer des Nu Jiang entlang, und wer sie verlässt, wird endgültig entschleunigt.
Etwa in Bing Men Tsun, einem sonst unscheinbaren Dorf, in dem jedoch ein riesiger Banyan steht. Ein Weltenbaum, ein Zauberbaum, der gut siebenhundert Jahre alt sein soll. Wie natürliche Krücken tragen etliche Stützwurzeln die ausladende Krone, die siebzig Meter Spannweite erreicht.
In seinem Schatten hat eine Bäuerin einen kleinen Stand aufgebaut, an dem sie Kaffeebohnen und Früchte verkauft; ihr Feld beginnt gleich hinter dem Banyan. Wie die meisten Dorfbewohner gehört sie dem Volk der Dai an, einer der vielen Minderheiten Yunnans.
Dieser Baum schützt und beschirmt uns, erklärt sie. Er ist der Guan Yin geweiht, einer weiblichen Inkarnation Buddhas. Als ein Lausbub einmal darin herumgeklettert ist, hat sie ihn gleich heruntergescheucht. Und wenn die Dorfbewohner tanzen und feiern, dann nicht unter dem göttlichen Banyan, sondern drüben unter den Mangobäumen.
Kaum fährt man von der Autobahn ab, umfängt einen Idylle: Terrassenfelder, Obstgärten, Bambushaine. Ein Sprung von der Ersten in die Dritte Welt. Die Landstraße führt am Ufer des Nu Jiang entlang, und wer sie verlässt, wird endgültig entschleunigt.
Etwa in Bing Men Tsun, einem sonst unscheinbaren Dorf, in dem jedoch ein riesiger Banyan steht. Ein Weltenbaum, ein Zauberbaum, der gut siebenhundert Jahre alt sein soll. Wie natürliche Krücken tragen etliche Stützwurzeln die ausladende Krone, die siebzig Meter Spannweite erreicht.
In seinem Schatten hat eine Bäuerin einen kleinen Stand aufgebaut, an dem sie Kaffeebohnen und Früchte verkauft; ihr Feld beginnt gleich hinter dem Banyan. Wie die meisten Dorfbewohner gehört sie dem Volk der Dai an, einer der vielen Minderheiten Yunnans.
Dieser Baum schützt und beschirmt uns, erklärt sie. Er ist der Guan Yin geweiht, einer weiblichen Inkarnation Buddhas. Als ein Lausbub einmal darin herumgeklettert ist, hat sie ihn gleich heruntergescheucht. Und wenn die Dorfbewohner tanzen und feiern, dann nicht unter dem göttlichen Banyan, sondern drüben unter den Mangobäumen.
Hochmoderne Kaffeeplantagen
Auch wenn die Chinesen eingefleischte Teetrinker sind, hat sich der Kaffeeanbau in Yunnan mittlerweile kräftig entwickelt. Ein Stück flußaufwärts liegt eine hochmoderne Plantage.
Wie der Fabrikleiter, Herr Bai, erklärt, trinken die Chinesen noch wenig Kaffee. Und wenn, dann oft importierten, weil sie generell glauben, dass ausländische Produkte hochwertiger seien. Doch wenn sie mich fragen, meint Herr Bai – unser Kaffee schmeckt besser! Das Klima, der Boden und die Höhenlage hier sind für den Anbau ideal.
Besitzer der Plantage ist ein Professor für Ökonomie aus Kunming, der Hauptstadt Yunnans. Als 2001 auch Privatleute größere Unternehmen besitzen durften, war er einer der ersten, der den Sprung in die Selbständigkeit wagte. Inzwischen beschäftigt er gut siebzig Mitarbeiter.
Im weiten Hof liegen die Kaffeekirschen zum Trocknen aus. Ein Arbeiter geht mit einem Rechen hindurch und wendet sie.
Herr Bai greift sich ein paar Bohnen. Die kleinen, runden sind die besten, meint er. Hell wie Erdnüsse schimmern sie in der Sonne.
Herr Bai greift sich ein paar Bohnen. Die kleinen, runden sind die besten, meint er. Hell wie Erdnüsse schimmern sie in der Sonne.
Pilotprojekt "Schule der Natur"
Wir sind mit Lehrer Li in Baihualing verabredet, einer von elf "Stationen" des Parks, Stützpunkten für Wildhüter und Verwaltung. Auch ein hochmodernes Infozentrum wurde eingerichtet, das die verschiedenen Ökosysteme und ihre Bewohner vorstellt, vom Schneeleoparden bis zum Salamander.
Li erzählt, wie er den mysteriösen "schwarzen Affen" erst aus Neugier folgte, und sich dann mehr und mehr für sie verantwortlich fühlte.
Mittlerweile ist er selbst für die Parkverwaltung tätig und hat die "Schule der Natur" mit aufgebaut, ein Pilotprojekt, in dem Familien und Schulklassen Exkursionen durch die Berge unternehmen.
Als Vorgeschmack spielt er im Besucherzentrum das Video einer Gibbon-Familie ab, das er selbst aufgenommen hat.
Die neue Art erhielt den wissenschaftlichen Namen Hoolock tianxing, was so viel wie "Himmelsläufer" bedeutet. In den vergangenen Jahren sind hier etliche neue Tierarten entdeckt oder ausgestorben geglaubte wieder gesichtet worden. Als der Direktor des Yellowstone kürzlich auf Besuch kam, wurde er ungewohnt still und bekannte schließlich, von einer solchen Natur hätte er immer geträumt.
Am nächsten Morgen gehen wir mit "Gibbon-Li" im Bergwald auf Pirsch. Die ersten Eindrücke geraten verwirrend. Man sieht den Baum vor lauter Wald nicht, alles sprießt, wächst und verrottet gleichzeitig. Magnolien und Kamelien strotzen um die Wette, Lorbeer- und Teestrauchgewächse verheddern sich.
Ein romantischer Trampelpfad führt zu Wasserfällen, Grotten und Thermalquellen. Man könnte eine ganze Staffel Tarzan-Filme hier drin drehen. Gelegentlich treffen wir andere Besucher, meist Familien aus Kanton oder Kunming, einige auch aus Taipeh oder Singapur. Sie gehören der Mittelschicht an, sind wohlhabend und gebildet. Den Eltern ist sehr daran gelegen, dass ihre Kinder hier Natur aus erster Hand erleben.
Li erzählt, wie er den mysteriösen "schwarzen Affen" erst aus Neugier folgte, und sich dann mehr und mehr für sie verantwortlich fühlte.
Mittlerweile ist er selbst für die Parkverwaltung tätig und hat die "Schule der Natur" mit aufgebaut, ein Pilotprojekt, in dem Familien und Schulklassen Exkursionen durch die Berge unternehmen.
Als Vorgeschmack spielt er im Besucherzentrum das Video einer Gibbon-Familie ab, das er selbst aufgenommen hat.
Die neue Art erhielt den wissenschaftlichen Namen Hoolock tianxing, was so viel wie "Himmelsläufer" bedeutet. In den vergangenen Jahren sind hier etliche neue Tierarten entdeckt oder ausgestorben geglaubte wieder gesichtet worden. Als der Direktor des Yellowstone kürzlich auf Besuch kam, wurde er ungewohnt still und bekannte schließlich, von einer solchen Natur hätte er immer geträumt.
Am nächsten Morgen gehen wir mit "Gibbon-Li" im Bergwald auf Pirsch. Die ersten Eindrücke geraten verwirrend. Man sieht den Baum vor lauter Wald nicht, alles sprießt, wächst und verrottet gleichzeitig. Magnolien und Kamelien strotzen um die Wette, Lorbeer- und Teestrauchgewächse verheddern sich.
Ein romantischer Trampelpfad führt zu Wasserfällen, Grotten und Thermalquellen. Man könnte eine ganze Staffel Tarzan-Filme hier drin drehen. Gelegentlich treffen wir andere Besucher, meist Familien aus Kanton oder Kunming, einige auch aus Taipeh oder Singapur. Sie gehören der Mittelschicht an, sind wohlhabend und gebildet. Den Eltern ist sehr daran gelegen, dass ihre Kinder hier Natur aus erster Hand erleben.
Peepshow fliegender Waldbewohner
China entdeckt seine Wildnis, als Gegenwelt zur erdrückenden Wirklichkeit der Städte. Nur den Gibbons begegnen wir nicht. Kein Dusel. Dafür bekommen wir eine wahre Peepshow der fliegenden Waldbewohner geboten. Entlang des Wegs haben Leute aus dem Dorf Beobachtungsstände angelegt, mit Wasserstellen und Büschen, deren Früchte die Vögel mögen. Die wiederum locken Vogelkundler aus ganz China an. Mit hyperprofessioneller Ausrüstung behangen, stiefeln diese Paparazzi der Schöpfung die Hänge empor und hocken sich in Tarnkleidung auf die Lauer. An die sechshundert Vogelarten sollen hier vorkommen, mehr als in ganz Europa.
Am Abend besuchen wir Hou Ti-guo, der maßgeblichen Anteil daran hatte, Baihualing auf die Weltkarte der Vogelfreunde zu bringen.
Er sitzt im Hof seines stattlichen Anwesens und erzählt, wie er sie als Schüler mit der Steinschleuder aufs Korn nahm, die Häherlinge und Waldtauben, die Bülbüls und Timalien. "Die schmeckten so gut." Vor dreißig Jahren heuerte ihn dann ein taiwanesisches Lehrerpaar als Führer an. "Die wollten die Vögel nur sehen – und mich dafür auch noch bezahlen!" Sie bekehrten ihn schließlich, und seither hat er nie wieder ein Tier getötet. Das Lausbubenhafte aber ist ihm geblieben: Typ Skilehrer, ständig unter Strom, dabei dem ein oder anderen Gläschen nicht abgeneigt.
Lehrer Li schlägt vor, dass wir es in Baihuacun versuchen sollten, einer Parkstation weiter südlich. Auf einer Forststraße rumpeln wir durch die Berge. Dort durchkämmt Jiang Zi-an den Wald. "Einer meiner besten Männer", meint Li, "der wird sie schon finden." Er hat ihn selbst rekrutiert, bei einem seiner Besuche in den Dörfern, wo er nach "erfahrenen Leuten" fragt, aber "erfahrene Jäger" meint, auch wenn das Jagen seit zwanzig Jahren verboten ist. Doch ihm vertrauen sie, von einigen hat er schon die Kinder unterrichtet.
Am Abend besuchen wir Hou Ti-guo, der maßgeblichen Anteil daran hatte, Baihualing auf die Weltkarte der Vogelfreunde zu bringen.
Er sitzt im Hof seines stattlichen Anwesens und erzählt, wie er sie als Schüler mit der Steinschleuder aufs Korn nahm, die Häherlinge und Waldtauben, die Bülbüls und Timalien. "Die schmeckten so gut." Vor dreißig Jahren heuerte ihn dann ein taiwanesisches Lehrerpaar als Führer an. "Die wollten die Vögel nur sehen – und mich dafür auch noch bezahlen!" Sie bekehrten ihn schließlich, und seither hat er nie wieder ein Tier getötet. Das Lausbubenhafte aber ist ihm geblieben: Typ Skilehrer, ständig unter Strom, dabei dem ein oder anderen Gläschen nicht abgeneigt.
Lehrer Li schlägt vor, dass wir es in Baihuacun versuchen sollten, einer Parkstation weiter südlich. Auf einer Forststraße rumpeln wir durch die Berge. Dort durchkämmt Jiang Zi-an den Wald. "Einer meiner besten Männer", meint Li, "der wird sie schon finden." Er hat ihn selbst rekrutiert, bei einem seiner Besuche in den Dörfern, wo er nach "erfahrenen Leuten" fragt, aber "erfahrene Jäger" meint, auch wenn das Jagen seit zwanzig Jahren verboten ist. Doch ihm vertrauen sie, von einigen hat er schon die Kinder unterrichtet.
Auf den Spuren der Gibbons
Anderntags nimmt unser Frühstück ein jähes Ende. "Wir haben sie!", ruft einer der Parkleute. Wir stürzen zum Wagen und fahren ein Stück bergauf. Dann stiefeln wir zehn Minuten lang querwaldein. Von einem riesigen Ingwergewächs überschattet, erwartet uns Jiang Zi-an. Und weist lächelnd auf drei Gesellen hoch droben in den Wipfeln. Nein, vier, die Mutter hat ein Junges vor der Brust, während der Vater und das zweite Junge sich von einem Ast zum anderen hangeln. Sie schmausen Blätter, als wäre jedes einzelne eine Delikatesse, sie kratzen sich das Fell, schmausen weiter – und ignorieren uns komplett.
Dusel muss man haben!
Bedächtig folgen wir ihnen durch den Wald und vergessen die Zeit. Zwischendurch macht Jiang sich auf zur Station, um etwas zu essen. Wildhüter wie er sind die wahren Helden der Berge. Sie harren sommers in den Regengüssen des Monsuns aus und winters in den klammen Räumen ihrer Stützpunkte. Sie laufen Gefahr, im Sumpf steckenzubleiben oder sich an harten Bambushalmen aufzuspießen. Doch für kargen Lohn hüten sie eine kleine Affenbande wie ihre Augäpfel.
Auf chinesischem Gebiet leben weniger als zweihundert dieser "Himmelsläufer". Der Große Panda bringt es immerhin auf zehnmal so viele Exemplare. Drei Viertel aller Affenarten in Asien sind vom Aussterben bedroht.
Schließlich kommt Jiang zurück, um uns abzulösen. Ich möchte ihm meine Hochachtung bekunden, doch alles, was mir einfällt, klänge entweder banal oder pathetisch. Aber sei’s drum – ob nun dazu befugt oder nicht, ich danke ihm im Namen der Menschheit.
Er nimmt es zur Kenntnis und folgt seinen Schützlingen ein Stück tiefer in den Wald hinein.
Dusel muss man haben!
Bedächtig folgen wir ihnen durch den Wald und vergessen die Zeit. Zwischendurch macht Jiang sich auf zur Station, um etwas zu essen. Wildhüter wie er sind die wahren Helden der Berge. Sie harren sommers in den Regengüssen des Monsuns aus und winters in den klammen Räumen ihrer Stützpunkte. Sie laufen Gefahr, im Sumpf steckenzubleiben oder sich an harten Bambushalmen aufzuspießen. Doch für kargen Lohn hüten sie eine kleine Affenbande wie ihre Augäpfel.
Auf chinesischem Gebiet leben weniger als zweihundert dieser "Himmelsläufer". Der Große Panda bringt es immerhin auf zehnmal so viele Exemplare. Drei Viertel aller Affenarten in Asien sind vom Aussterben bedroht.
Schließlich kommt Jiang zurück, um uns abzulösen. Ich möchte ihm meine Hochachtung bekunden, doch alles, was mir einfällt, klänge entweder banal oder pathetisch. Aber sei’s drum – ob nun dazu befugt oder nicht, ich danke ihm im Namen der Menschheit.
Er nimmt es zur Kenntnis und folgt seinen Schützlingen ein Stück tiefer in den Wald hinein.