Eins muss sich die EU-Kommission mit ihrem jüngsten Türkei-Bericht wohl eher nicht vorhalten lassen: Die Situation in dem Bosporus-Land schönzufärben. "Die Türkei muss den Negativtrend bei der Rechtsstaatlichkeit und bei den Grundfreiheiten umkehren", heißt es wörtlich in dem Text, der dem ARD-Studio Brüssel vorab vorlag.
Erst vor wenigen Wochen, beim EU-Türkei-Gipfel im bulgarischen Warna, hatte Präsident Erdogan klargestellt, dass sein Land selbstverständlich weiterhin den Beitritt zur Europäischen Union anstrebe. Doch in dieser Frage erteilt ihm die EU verbal eine kalte Dusche: "Die Türkei hat sich mit großen Schritten von der Europäischen Union entfernt." Steht Schwarz auf Weiß in dem Dokument. Angesichts der derzeitigen Lage sei nicht geplant, weitere Kapitel zu öffnen. Bedeutet im Klartext: Die Türkei bleibt zwar auf dem Papier Beitritts-Kandidatin – doch die Gespräche liegen faktisch weiter auf Eis.
"Der Prozess ist erst verlangsamt worden und steckt nun fest. Dabei ist der Beitritts-Prozess das Rückgrat unserer Beziehungen zur EU", klagt der türkische Botschafter bei der Europäischen Union, Faruk Kaymakci im Interview mit dem ARD-Studio Brüssel. Aus dessen Sicht gar keine Frage ist, wer dafür verantwortlich zu machen sei: Die EU-Seite selbstverständlich.
Dass man das in Brüssel anders sieht, liegt auf der Hand: Die Türkei bekunde zwar in Worten, dass sie den EU-Beitritt wolle – unterstreiche dies aber nicht mit Taten, so der Tenor.
Bericht: in allen Bereichen besorgniserregende "Rückfälle"
Vielmehr bescheinigt Brüssel Ankara in allen erdenklichen Bereichen besorgniserregende "Rückfälle" - das englische Wort "backsliding" durchzieht den Text wie ein roter Faden. Sorgen macht der EU unter anderem die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechts-Aktivisten oder Nutzern sozialer Medien sowie die Tatsache, dass über 150 Journalisten noch immer hinter Gittern säßen.
Die Europäer beklagen seit langem, dass Ankara mit den umstrittenen Anti-Terror-Gesetzen auch unbequeme Regierungskritiker mundtot mache. Den vor zwei Jahren verhängten Ausnahmezustand müsse die Türkei "unverzüglich" aufheben:
"Wir bewegen uns mehr und mehr hin zur Normalität: 2018 wird ein viel besseres Jahr als 2017. Wir sind der europäischen Sache noch immer verpflichtet", beteuert der türkische EU-Botschafter.
Nie zuvor ist der Kommissions-Bericht so verheerend ausgefallen wie jetzt. Ein paar aufbauende Sätze an die Adresse Ankaras enthält der Bericht dann aber doch. So bescheinigt die EU-Kommission der Türkei nicht nur, ein "Schlüssel-Partner" und Beitritts-Kandidat zu sein. Sondern auch "herausragende" Anstrengungen bei der Aufnahme von über 3,5 Millionen Flüchtlingen. Dass der vor gut zwei Jahren vereinbarte Flüchtlingspakt hält, daran haben die Europäer großes Interesse. "Die Türkei steht zu ihren Versprechen", versichert Botschafter Kaymakci.
Ankara wiederum wünscht sich eine Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen zur EU durch eine Ausweitung der Zollunion. Doch einige Mitgliedstaaten blockieren dies derzeit. Unter anderem die Bundesregierung. Hier indes ist Ankara mit Brüssel ausnahmsweise einer Meinung: Die EU-Kommission stehe zu ihrer Empfehlung, die Verhandlungen dafür aufzunehmen, heißt es dazu im Text. Schließlich sei dies im Interesse beider Seiten.