Das Bild vom faulen Arbeitslosen, der lieber Sozialleistungen empfängt, als zu arbeiten, ist in der Gesellschaft weit verbreitet. 2020 zeigte eine repräsentative Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und der Initiative "Sanktionsfrei": Ein Drittel der Befragten glaubt, dass Menschen, die Hartz-IV-Leistungen empfangen, gar nicht arbeiten wollen.
"Hartz-IV-Fernsehen" prägte Klischees
Beigetragen hat dazu auch die mediale Darstellung von „Hartz IV“, unter anderem in diversen Sendungen im Privatfernsehen, die den Alltag vermeintlich „typischer Hartz-IV-Familien“ nachzeichnen.
Den Berufskraftfahrer Andreas Meyer, der selbst Hartz-IV-Leistungen bezieht, ärgert diese Darstellung: „Das verstärkt doch bei den Leuten die Meinung, dass Hartz-IV-Leute zu Hause sitzen, Zigarette rauchen und Bier trinken“, sagte er Ende Oktober im Dlf-Podcast „Nach Redaktionsschluss“.
Andreas Meyer ist in Vollzeit berufstätig und verdient mehr als den Mindestlohn. Anspruch auf Sozialleistungen hat er trotzdem, weil er im Wechsel mit seiner Ex-Partnerin die gemeinsamen Kinder betreut. Der Lohn des 56-Jährigen reicht dafür nicht aus, denn das Kindergeld bekommt seine Ex-Partnerin.
Menschen wie Andreas Meyer werden gerne als „Aufstocker“ bezeichnet. Umso mehr stört ihn, dass in der aktuellen Debatte um das geplante sogenannte Bürgergeld oft so getan werde, als wären Hartz-IV-Empfänger überwiegend arbeitslos. „Es gibt zwar diejenigen, die zu Hause faul auf dem Sofa liegen, das streite ich gar nicht ab. Es gibt auch welche, die Termine im Jobcenter sausen lassen", sagt Meyer - und betont: "Aber der Großteil ist das nicht.“
Nur wenige Betroffene arbeitslos
Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit geben ihm Recht. Im Mai 2022 gab es in Deutschland knapp fünf Millionen Menschen, die Grundsicherung empfangen haben – ein knappes Drittel davon war allerdings „nicht erwerbsfähig“, es handelte sich vor allem um Kinder unter 15 Jahren. Von den 3,5 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfängern, war wiederum der überwiegende Teil nicht arbeitslos: Rund zwei Drittel waren zum Beispiel berufstätig, in Aus- oder Weiterbildung, mit der Erziehung von Kindern oder der Pflege von Angehörigen ausgelastet oder arbeitsunfähig erkrankt.
Zahlen von Februar 2022 zeigen außerdem: Fast ein Viertel der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten arbeitet. Wenn es also darum geht, ob Geringverdiener und Sozialleistungsempfänger gegeneinander ausgespielt werden sollen, lässt sich festhalten: Es gibt viele Menschen, die beiden Gruppen angehören.
Diese Differenzierung gehe allerdings in der Debatte meist verloren, findet der Politikjournalist Okan Bellikli. Schuld daran seien nicht nur die erwähnten TV-Sendungen, sondern auch die Berichterstattung großer Medien, die immer wieder Klischees über "Hartz IV" und Armut transportieren würden. „Das ist etwas, das viele Menschen, die betroffen sind, aufregt“, beobachtet Bellikli.
Politikjournalist Bellikli: Kaum Lobby für Armutsbetroffene
Im Februar 2022 hat Bellikli das Netzwerk Sozialjournalismus gegründet, das als Fachgruppe inzwischen Teil des Vereins Netzwerk Recherche ist. Die Gruppe will die Berichterstattung über Armut und soziale Ungleichheit verbessern und unter anderem den direkten Austausch zwischen Medienschaffenden und Betroffenen fördern. Denn die Menschen, die Grundsicherung beziehen, kämen in der Berichterstattung oft gar nicht zu Wort. „Es gibt viele Texte über sie, aber selten welche mit ihnen“, kritisiert Bellikli. Für Armutsbetroffene gebe es politisch-gesellschaftlich keine große Lobby.
Debatten werden oft so geführt wie in der der ARD-Talkshow „Anne Will“ am 13. November: Dort ging es um die Frage, ob das neue Bürgergeld gerecht sei. Eingeladen waren Gäste aus der Politik und Wissenschaft, aber keine Betroffenen. Die waren nur indirekt vertreten durch eine Sozialarbeiterin aus Brandenburg, die mit von Armut betroffenen Kindern arbeitet.
Positiv bewertet Bellikli, dass die Berichterstattung über das Thema durch die "Bürgergeld"-Pläne der Regierung zuletzt zugenommen habe. Viele Redaktionen seien aber noch nicht divers genug aufgestellt, schon in Journalistenschulen fehle es an sozialer Durchmischung – Menschen, die selbst Erfahrungen mit Armut gemacht haben, seien in Medien unterrepräsentiert.
Wirtschaftsjournalist Beise: Recherche nicht nur am Schreibtisch
„Die große Gefahr ist, dass man locker am Schreibtisch über sozialpolitische Maßnahmen schreibt, ohne wirklich den Alltag der Menschen zu kennen, über die man schreibt“, stellt auch Marc Beise fest, der bis Oktober das Wirtschaftsressort der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) geleitet hat. Um das zu vermeiden, habe zum Beispiel der Parlamentskorrespondent der SZ, der für sozialpolitische Themen zuständig sei, zuletzt auch eine Reportage direkt aus dem Jobcenter geschrieben.
„Es bringt wenig, wenn man in einem Artikel die Gesetzeslage beschreibt, im zweiten Arbeitsminister Heil interviewt und im dritten eine Sozialreportage aus dem wirklichen Leben macht“, sagt Marc Beise. „Die Kunst ist eigentlich, in möglichst jedem Artikel alle diese Dinge zusammenzubringen.“ In Redaktionen sei das Ressort Sozialpolitik lange sehr unbeliebt gewesen, weil es so komplex sei. Das ändere sich gerade, so Beise. Auch Okan Bellikli kennt das Problem: Das System der sozialen Sicherung sei nicht nur für Betroffene, sondern auch für Berichterstattende schwer zu durchschauen.
Irreführende Berechnungen
Das zeigten gerade erst Äußerungen von Unionspolitikern zum geplanten Bürgergeld. Sie hatten mit Zahlen des Instituts für Weltwirtschaft Kiel (IfW) argumentiert, dass die "Bürgergeld"-Reform es für Geringverdiener unattraktiv mache, arbeiten zu gehen. Die Zahlen berücksichtigten allerdings nicht, dass Menschen mit niedrigem Einkommen weitere Sozialleistungen zustehen, zum Beispiel Wohngeld oder der Kinderzuschlag. Inzwischen haben die Autoren der Berechnungen ihre Ergebnisse zurückgezogen, wie unter anderem die "Tagesschau" berichtete.
Andreas Meyer, der selbst Sozialleistungen zusätzlich zu seinem Einkommen bezieht, hätte die irreführende Berechnung vermutlich schnell durchschaut – er kennt die Unterschiede zwischen den einzelnen Leistungen genau. Medien müssten einen besseren Überblick bieten, wie das Sozialsystem in Deutschland aufgebaut sei, fordert er. Zu Themen wie der Zuverdienstgrenze oder den Freibeträgen fehle vielen grundlegendes Wissen.