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Meldungen über Raketeneinschlag in Polen
Wenn jedes Wort zählt

"Explosion" oder "Raketenangriff"? Viele Redaktionen berichteten über den Vorfall in Polen am Mittwoch auffallend vorsichtig. Falsche Berichterstattung habe schon Kriege ausgelöst, sagt Dlf-Nachrichtenchef Marco Bertolaso.

Text: Annika Schneider | Marco Bertolaso im Gespräch mit Sebastian Wellendorf |
Sicherheitskräfte und Kamerateams in der Nähe des Unglücksorts in Przewodow, Polen
Der Ort Przewodow an der polnisch-ukrainischen Grenze: Hier sind bei einer Explosion zwei Männer gestorben (Imago/Pawel Wodzynski/Eastnews)
Die Meldung, die am Dienstagabend auf Fernsehbildschirmen und Handy-Displays weltweit auftauchte, ließ viele aufschrecken: Wie genau zwei Menschen im polnischen Grenzgebiet zur Ukraine ums Leben gekommen waren, war noch unklar. Aber die Sorge, dass der russische Angriffskrieg sich auf ein weiteres Land ausdehnen könnte, stand sofort im Raum.

Erste Agenturmeldungen am Mittwochabend

Die erste deutschsprachige Meldung verschickte um 19.49 Uhr die Nachrichtenagentur AP. „Russische Raketen dringen in polnisches Gebiet ein“, hieß es darin mit Verweis auf einen Vertreter eines US-Geheimdienstes. Bestätigt hat sich diese Information bisher nicht. Im Gegenteil: Geprüft wird inzwischen die Möglichkeit, dass die Opfer von einer Rakete der ukrainischen Luftabwehr getroffen wurden.
Die meisten Politikerinnen und Politiker waren kurz nach dem Vorfall sichtlich darum bemüht, voreilige Schlüsse und Forderungen zu vermeiden. „Es ist jetzt notwendig, dass sorgfältig aufgeklärt wird, wie es dazu gekommen ist, dass diese Zerstörungen dort angerichtet werden konnten“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in einem ersten Statement am 16.11.2022 – und vermied mit seiner Wortwahl jede Spekulation über einen möglichen gezielten Angriff.

dpa vermeldete "Explosion"

Auch viele Journalistinnen und Journalisten berichteten zunächst auffallend zurückhaltend. Agenturmeldungen zufolge hatte der private polnische Radiosender Zet zuerst über die Toten berichtet und von „verirrten Raketen“ gesprochen. Die dpa bezog sich in ihren Meldungstiteln über Stunden hinweg auf eine „Explosion“, viel zu lesen war auch von einem „Raketeneinschlag“ – ein neutraler Begriff, der keine Deutung als „Raketenangriff“ oder „Raketenabsturz“ beinhaltet. In vielen Meldungen wurde außerdem betont, dass es bislang nur „unbestätigte Berichte“ gebe.
In den Nachrichten des Deutschlandfunks wurde das Thema um 22 Uhr zum ersten Mal aufgegriffen. Dort hieß es: „Die Nato prüft Berichte über einen Einschlag von zwei russischen Raketen in Polen.“ Die Redaktion entschied sich dagegen, ihr Programm für die aktuelle Berichterstattung zu unterbrechen. Im Ersten lief am Mittwochabend hingegen eine kurze Extra-Ausgabe der „Tagesthemen“.

Große Verantwortung der Medien

Mit der Entscheidung, wie viel Raum sie einer einzelnen Meldung einräumen und welche Wortwahl sie dabei nutzen, tragen Medien entscheidend dazu bei, wie bedrohlich ein Ereignis in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. "Im Laufe der Geschichte sind so oder so ähnlich Kriege begonnen worden, ohne dass sie vielleicht hätten beginnen müssen", erklärte Dlf-Nachrichtenchef Marco Bertolaso im Dlf. Wenn eine Meldung wie diesee über eine Weltagentur wie AP komme, setze sich auf der ganzen Welt eine Maschinerie in Bewegung.
Im Deutschlandfunk habe man sich dagegen entschieden, sofort eine Eilmeldung zu verschicken, sagte Bertolaso, "weil wir aus Erfahrung wissen, wieviel Unschärfe in diesen ersten Momenten liegt". Erst später am Abend veröffentlichte die Redaktion eine Eilmeldung mit der Information, dass Polen seine Streitkräfte in erhöhte Bereitschaft versetzt habe.
Als Informationsmedium müsse man erst einmal klären, was Sache ist, bevor man sich definitiv dazu äußere, sagte der Nachrichtenchef. Sich gar nicht dazu zu äußern, gehe im 21. Jahrhundert aber nicht mehr.

Nato-Politiker verbreiteten Deutungen des Vorfalls

"Die Ängste einer Gesellschaft oder die Möglichkeit, damit durch falsche Berichterstattung Krisen zu verschärfen, haben wir nicht erst seit gestern Abend", sagte Bertolaso. Verschärfend hinzugekommen sei aber eine Vielzahl von Stimmen in digitalen Medien.
Auch erste Äußerungen von seriösen Politikerinnen und Politiker aus Nato-Staaten ließen sich rückblickend als Kurzschluss einordnen. "Da sind die Journalistinnen und Journalisten besonders gefordert, nicht zu bevormunden, sondern selber ganz ruhig zu bleiben und nicht zu übereilten Folgerungen zu kommen", sagte Bertolaso.