Wer im Internet nach Meldungen zur Gewalt gegen Frauen sucht, wird schnell fündig: Berichte darüber, wie Männer vor allem in Sozialen Netzwerken ihren Hass abladen. Wie die Corona-Pandemie das Problem der häuslichen Gewalt verschlimmert hat. Oder wie der Fall einer ermordeten Frau in Großbritannien die Gesellschaft aufwühlt, über den Deutschlandfunk-Korrespondentin Christine Heuer berichtet hat. Aktuelle Beispiele. Und zufällige.
Christine Meltzer hat sich das Thema systematisch angeschaut. Für die Universität Mainz hat die Kommunikationswissenschaftlerin die Berichterstattung zwischen 2015 und 2019 ausgewertet. Und dabei 3500 Beiträge aus 17 unterschiedlichen Zeitungen, regionalen wie überregionalen, in den Blick genommen.
Tötungsdelikte im Mittelpunkt der Berichterstattung
Die Ergebnisse der Untersuchung im Auftrag der Otto Brenner Stiftung: Bei bestimmte Gewalttaten zeige sich eine "deutliche Überbetonung", heißt es in der Vorstellung der Studie, "während andere viel zu wenig in den Medienberichten ausgeleuchtet" würden.
"Damit Gewalt gegen Frauen die Schwelle zur Berichterstattung überschreitet, muss sie besonders brutal sein", sagte Studienleiterin Christine Meltzer im Deutschlandfunk.
Zumeist würden Tötungsdelikte dargestellt - und hier mit einem besonderen Fokus auf Gewalt, die von den Frauen fremden Tätern ausgeführt werde. "Obwohl die im Verhältnis seltener vorkommt", so Meltzer. Gewalt zwischen aktuellen oder ehemaligen Partnern dagegen finde "verhältnismäßig wenig Platz in der Berichterstattung".
"Familientragödie"? "Klingt nach Seifenoper"
Ein weiteres Problem, das die Wissenschaftlerin für den von ihr untersuchten Zeitraum identifiziert hat: Wenn Medien über das Thema berichtet haben, war noch häufig von "Familientragödie" oder "Ehedrama" die Rede. "Das klingt so, als wäre das eher eine Seifenoper und kein Gewaltdelikt", urteilt Meltzer.
Doch unter anderem seit einer Entscheidung der Deutschen Presse-Agentur (dpa) komme das immer seltener vor.
Empfehlung: Einzelfälle immer einordnen
Seit 2019 verzichtet die dpa, Deutschlands größte Nachrichtenagentur, darauf, Begriffe wie "Familientragödie" oder "Beziehungsdrama" zu verwenden. Zudem setzte die dpa damals auch Begriffe wie "Sex-Täter", "Sex-Attacken" und ähnliche "euphemistische Umschreibungen sexualisierter Gewalt" auf den Index.
Um besser zu berichten, empfiehlt Meltzer den Medien, die vorgestellten Einzelfälle strukturell einzuordnen. Etwa mit einem Hinweis auf die Gesamtzahl der von ihren Partnern ermordeten Frauen.
Das gesamte Interview im Wortlaut:
Bettina Schmieding: Warum ist es überhaupt notwendig, sich damit zu beschäftigen, wie Medien über Gewalt gegen Frauen berichten?
Christine Meltzer: Ja, zum einen sind natürlich Medien Teil einer Gesellschaft, die sie abbilden. Und zum anderen können sie diese Gesellschaft aber auch mitprägen. Das heißt, die Sichtbarkeit von Gewalt gegen Frauen und die Art und Weise, wie darüber berichtet wird, beeinflusst, wie wir gesellschaftlich mit dem Thema umgehen; was darunter verstanden wird, sowohl in den privaten Haushalten als auch am Ende auf der politischen Agenda.
Schmieding: Vielleicht schicken wir gleich vorweg, dass es "die" Medien natürlich überhaupt nicht gibt. Wir machen es der Einfachheit halber trotzdem so, wenn wir darüber sprechen. Aber vielleicht können wir ein bisschen differenzierter da draufgucken: In welchen Medien wird denn überhaupt über Gewalt gegen Frauen besonders stark berichtet?
Meltzer: Ich habe mir für meine Studie angeschaut die Berichterstattung von überregionalen Medien, von Boulevardzeitungen und von Regionalmedien Print. Und hier kann ich sagen, dass die Berichterstattung eher durch Gemeinsamkeiten als durch Unterschiede geprägt ist. Tatsächlich ist es so, dass überregionale Printzeitungen das Thema aufgreifen, wenn es um sehr wenige Fälle geht, die aber immer und immer wieder thematisiert werden. Das ist in Boulevardzeitungen und Regionalzeitungen etwas anders. Aber insgesamt ist es auch so, dass vor allen Dingen die überregionalen Medien diejenigen sind, die am ehesten noch mal thematisch berichten, also die das Thema in der Breite darstellen und nicht bei einer Einzelfalldarstellung bleiben.
Schmieding: Und welche Aspekte interessieren diese Medien da überhaupt? Sind das die Einzelfälle? Die ganz besonders brutalen Fälle?
Meltzer: Genau, das ist definitiv, was man festhalten kann: Damit Gewalt gegen Frauen die Schwelle zur Berichterstattung überschreitet, muss sie besonders brutal sein. Meistens sind es Tötungsdelikte, die dargestellt werden. Und es ist auch so, die Medien eher auf Gewalt fokussieren, die von fremden Tätern ausgeführt wird, obwohl die im Verhältnis seltener vorkommt. Also partnerschaftliche Gewalt, Gewalt im sozialen Nahraum, die findet verhältnismäßig wenig Platz in der Berichterstattung.
"Häufig besonders großer Fokus auf den Täter"
Schmieding: Als Journalistin weiß ich natürlich, dass Journalisten sich besonders für die öffentlich relevanten Fälle interessieren müssen, so ticken die Medien einfach. Es muss ja eine gewisse Relevanz in der Berichterstattung geben. Oder ist das zu einfach?
Meltzer: Absolut würde ich Ihnen recht geben. Hier haben wir es natürlich mit einer allgemeinen Medienlogik zu tun, die nicht auf das Thema Gewalt gegen Frauen reduziert ist. Trotzdem ist es gerade in dem Fall so, dass es besonders den Eindruck erweckt, dass es plötzliche Ereignisse sind, vor allen Dingen, wenn wir über partnerschaftliche Gewalt sprechen. Wenn nur dieser drastische Endpunkt von Gewalt in den Medien landet, dann wird damit ein bisschen überdeckt, dass es oft etwas ist, das sich lange ankündigt, was eine lange Gewaltspirale hat – und eben nicht plötzlich und vorhersehbar passiert.
Schmieding: Warum ist es wichtig, das zu berichten?
Meltzer: Zum einen, damit gewaltbetroffene Frauen früher merken. Dass sie nicht alleine sind in ihrer Situation, dass sie früher, sowohl sie selbst als auch ihr Umfeld, merken, wo vielleicht Warnsignale entstehen. Die gibt es nämlich. Und die sind auch sehr gut erforscht. Damit würde eine Medienberichterstattung, die auf diese allgemeinen Muster eben auch den Blick lenkt, auch einen ganz wichtigen Schritt zum Gewaltschutz tun.
Schmieding: Und welches Gewicht hat der Täter in der Berichterstattung? Wenn Sie sagen, nur die besonders krassen Fälle tauchen da auf.
Meltzer: Sehr häufig wird ein besonders großer Fokus auf den Täter gerichtet. Das kann man zum Teil erklären durch den Opferschutz. Natürlich sind Medien hier in einem Balanceakt. Sie müssen das Opfer schützen, also nicht zu viele personalisierende Informationen berichten – trotzdem kann man eben sagen, es geht sehr häufig darum, wie der Täter in dieser letzten drastischen Situation gehandelt hat. Im "schlimmsten Fall" ist es auch so, dass dann quasi eine Motivlage mitgeliefert wird. Bei sogenannten Trennungstötungen, die in partnerschaftlicher und in ex-partnerschaftlicher Gewalt sehr häufig vorkommen, wird dann von den Medien dargestellt, dass das dann quasi ein tragischer Fall ist, der aus Liebe oder Verlustangst passiert ist. Und das ist eine absolut falsche Darstellung der Tatsachen, weil niemand aus Liebe tötet, sondern aus einem falsch verstandenen Besitzverhältnis.
Strukturelle Problematik wird verdeckt
Schmieding: Sie sagen also, das sind die Fälle, die auftauchen. Die Fälle, die nicht auftauchen, sind die der ganz alltäglichen Gewalt, des alltäglichen Wahnsinns, hätte ich jetzt beinahe schon gesagt. Woran liegt das? Ist das zu langweilig? Entspricht das nicht diesem Wunsch nach Crime?
Meltzer: Genau, ich glaube, das ist es tatsächlich. Das Alltägliche findet sich selten in der Berichterstattung wieder. Und hier ist es eben auch so, dass alltägliche Gewaltformen - Körperverletzung, Stalking, Nötigung, Straftaten gegen die persönliche Freiheit - all die werden absolut unterproportional berichtet. Dadurch, dass die täglich vorkommen, sind die für die Medien als Einzelfall überhaupt nicht interessant genug. Dass die in der Gesamtschau natürlich häufig auftauchen und dass es deshalb auch wichtig ist, dass wir etwas für den Gewaltschutz tun, das sollte eigentlich schon interessant sein. Aber das wird so, mit diesen strukturellen Erklärungen, nicht berichtet.
Schmieding: Vielleicht schauen wir noch mal darauf, wie berichtet wird. Ich weiß, dass die dpa vor ein paar Jahren schon gesagt hat, sie will diese Begriffe wie "Familiendrama" oder "Ehetragödie" nicht mehr verwenden. Welche Assoziationen werden denn durch diese Begriffe geweckt?
Meltzer: Ich habe mir die Berichterstattung von 2015 bis angeschaut. Und das, was Sie gerade angesprochen haben, diese Wörter, "Tragödie", "Drama", dieses Unvorhersehbare - das klingt so, als wäre das eher eine Seifenoper und kein Gewaltdelikt. Oftmals wird da das Wort auch nicht in den Mund genommen. Und die dpa hat dann zuerst einen ganz wichtigen Schritt gemacht und gesagt: Wir, von uns aus, benutzen diese Begriffe nicht mehr. Und ich finde in den Daten in den letzten Jahren diese Begriffe auch tatsächlich seltener.
Schmieding: Würden Sie denn sagen, dass ein Begriff wie "Familientragödie" das Ganze auf ein häusliches Problem reduziert und weglenkt von einem gesellschaftlichen Problem?
Meltzer: Zum einen reduziert es auf den Einzelfall, auf das häusliche Problem, vielleicht sogar auf das Private - auf dem Thema liegt ja nach wie vor ein Tabu, darüber wird nicht viel gesprochen. Zum anderen verdeckt es die strukturelle Problematik, dass es nämlich in den allermeisten Fällen, wenn es sich um Tötungsdelikte handelt, männliche Täter sind, die weibliche Opfer töten. Und das geht da unter.
"Eine Einordnung machen"
Schmieding: Was empfehlen Sie den Medien? Was macht einen Bericht über Gewalt gegen Frauen besser?
Meltzer: Was ich ganz wichtig finde, dass auch bei Einzelfalldarstellungen Hilfsangebote genannt werden. Das ist gar nicht viel Aufwand. Zum Beispiel die Nummer vom Hilfstelefon kann man ganz einfach mit abdrucken, das ist zum Beispiel in der Suizid-Berichterstattung inzwischen gang und gäbe. Man kann auch eine strukturelle Einordnung ohne viel Aufwand machen, indem man zum Beispiel unter die Beschreibung eines Einzelfalls schreibt: Im letzten Jahr sind 118 Frauen durch die Hand ihres Partners gestorben. Damit gibt man schon mit, dass das Problem größer ist, als viele denken.
Eine Anlaufstelle ist etwa das bundesweite Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen. Unter der Nummer 08000 116 016 bietet es vertraulich, kostenfrei und rund um die Uhr Hilfe und Unterstützung. Die Beratung ist in verschiedenen Sprachen möglich. Darüber hinaus gibt es in den meisten Städten und Gemeinden Angebote für Frauen, die Gewalt erfahren.
Schmieding: Also eine Einordnung machen?
Meltzer: Eine Einordnung machen. Und man kann natürlich noch mehr tun: Man kann Expertinnen und Experten Raum geben, Medien können Forderungen stellen, um auch mal die politische, thematische Agenda zu beeinflussen. Man kann den Blick auf Prävention richten. Man kann den Opfern auch insofern Würde gewähren, als dass man mehr über die Struktur, mehr über die wiederkehrenden Muster von Gewalttaten und die Möglichkeiten, diese aufzulösen, berichtet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.