Archiv

Berichterstattung zur „Letzten Generation“
Tod einer Radfahrerin: Debatte auf Abwegen

Forderung nach härteren Strafen und Warnung vor Entstehung einer „Klima-RAF“ – ein Interview mit CSU-Politiker Alexander Dobrindt ist vorläufiger Höhepunkt der Berichterstattung nach dem Unfalltod einer Radfahrerin in Berlin. Rekonstruktion einer auch medialen Dynamik.

Von Michael Borgers | Lorenz Maroldt im Gespräch mit Sören Brinkmann |
Das Rad eines Fahrrades liegt auf der Bundesallee in Berlin-Wilmersdorf. Eine Radfahrerin ist bei dem Verkehrsunfall mit einem Lastwagen lebensgefährlich verletzt worden. Die Verletzte sei unter dem Betonmischer eingeklemmt worden, teilte ein Sprecher der Feuerwehr mit. Auch der Lkw-Fahrer wurde bei dem Unfall verletzt.
In Berlin stirbt eine Frau nach einem Radunfall - und in Deutschland werden in der Folge die Proteste von Klimaaktivisten diskutiert (picture alliance / dpa / Paul Zinken)

Ein Unfall und die Medienberichte in der Folge

Am 31.10.2022 berichtet am frühen Morgen die Deutsche Presse-Agentur (dpa) in einer ersten kurzen Meldung von einem Verkehrsunfall mit einem Lastwagen in Berlin-Wilmersdorf, bei dem „ein Radfahrer“ lebensgefährlich verletzt worden sei. Knapp anderthalb Stunden später ergänzt dpa, Einsatzkräfte der Berliner Feuerwehr seien „wegen Protesten von Klimademonstranten verspätet“ am Unfallort eingetroffen und beruft sich dabei auf „Angaben eines Sprechers“. Ein Rüstwagen mit Spezialtechnik habe „recht relevante Zeit“ im Stau auf der Stadtautobahn A100 gestanden, die Rettung habe sich „dadurch zeitlich verzögert“.
Entsprechend berichten, analysieren und kommentieren in den folgenden Tagen viele Medien die Geschehnisse: „Helfer wegen Aktivisten im Stau“ („Welt“ am 31.10.), „Was darf ziviler Ungehorsam?“ (Tagesschau am 1.11.), „Die Verhöhnung von Demokratie und Rechtsstaat“ (F.A.Z. am 3.11.). Nachdem die Radfahrerin (es war eine 44-jährige Frau) im Krankenhaus ihren Verletzungen erliegt, nimmt die Debatte weiter an Fahrt auf.

Und dann: neue Erkenntnisse

Bereits sehr früh (nur einen Tag nach dem Unfall) gibt es erste Hinweise darauf, dass eine einseitige Schuldzuweisung problematisch sein könnte. So thematisiert etwa der Berliner „Tagesspiegel“ Missstände in der Verkehrsführung am Unfallort.
Teile der Berichterstattung seien "nicht nur undifferenziert gewesen, sondern in weiten Teilen auch schlicht falsch", kritisiert Lorenz Maroldt, Chefredakteur des "Tagesspiegel", im Deutschlandfunk. Wenn etwa die "Bild"-Zeitung schreibe "Das ist auch Eure Schuld!" (nachdem die Radfahrerin zunächst für hirntot erklärt wird), sei das eine "Vorverurteilung der abscheulichen Art", so Maroldt.
In Berlin gebe es tausende Demonstrationen jedes Jahr. Die große Aufregung über die Aktionen der "Letzten Generation" könne er sich nur mit der "aufgehitzten Situation gegenüber diesen Menschen" erklären.

Wichtige SZ-Recherche zur Schuldfrage

Über die "Tagesspiegel"-Recherche hinaus tauchen zunächst nur wenige zusätzliche Fakten in der weiteren Berichterstattung auf: Wie zum Beispiel die, dass sich die Aktivisten an einer Schilderbrücke anketten und nicht die Autobahn blockieren; denn es ist die Polizei, die die darunterliegenden Fahrbahnen bis auf eine sperrt. Oder die Einschätzung der Feuerwehr, dass das Spezialfahrzeug ohnehin zu breit für die Rettungsgasse sei.
Am 4.11. berichtet die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) dann, der Klimaprotest habe keinen Einfluss auf die Versorgung des Unfallopfers gehabt. Das habe die behandelnde Notärztin zu Protokoll gegeben.

Mehr zur Berichterstattung zur "Letzten Generation":

Vertreter der „Letzten Generation“ werfen am selben Tag Medien vor, nicht objektiv zu berichten. Man erlebe eine "Welle der Vorwürfe, Unwahrheiten und Hetze" gegen sich, heißt es in einem Statement. Dass sich ein ganzes Mediensystem gegen sie wenden würde, damit habe man nicht gerechnet.
Die Gruppe will auf Missstände in der Klimapolitik hinweisen. Sie kündigt an, ihre umstrittenen Proteste fortzusetzen und tut das auch seit dem Unfall in Berlin.

Wie die Erkenntnisse die Debatte (kaum) verändern

Hinweise auf einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen dem Tod der Radfahrerin und den Protesten der „Letzten Generation“ verschwinden zwar nach der SZ-Recherche weitgehend aus der Berichterstattung – und doch setzt der Vorwurf indirekt weiterhin den Ton in der Debatte. So heißt es beispielsweise im Deutschlandfunk am 7.11. vor einem Interview mit Thüringens Innenminister Georg Maier „Braucht es härtere Strafen für die Klima-Kleber?“; ein Gespräch, in dem es um die Forderung nach härteren Strafen für Klimaaktivisten geht.  
Die Zeitung „Bild“ hatte zuvor die neuen Erkenntnisse mit diesem kurzen Absatz abgehandelt: „Die Verspätung der Rettungskräfte hat die Notfallversorgung laut einem Vermerk der Berliner Feuerwehr letztlich nicht beeinflusst, wie die ‚Süddeutsche Zeitung‘ am Freitag berichtete. Dennoch sind viele entsetzt und verärgert über die Klima-Kleber-Aktion.“
In diesem "Bild"-Artikel folgen daraufhin kritische Bewertungen von Politikern sowie hintereinander diese sechs Online-Umfragen: „Ist die Klimagruppe ‚Letzte Generation‘ eine Gefahr für die Demokratie?“, „Soll der Verfassungsschutz die ‚Letzte Generation‘ überwachen?“, „Muss die ‚Letzte Generation‘ verboten werden?“, „Sollten Polizisten Klima-Kleber wie in Frankreich im Notfall von der Straße reißen dürfen?“, „Soll die Polizei-Statistik eine Kategorie für Klima-Straftaten führen? (‚politisch motivierte Kriminalität – Klima‘?)“ und „Sollen Klimakleber bestraft werden?“.  

Warnung vor Entstehung von „Klima-RAF“

Die Klima-Proteste werden von Anfang an kritisch begleitet. Seit Beginn der radikaleren Aktionen der „Letzten Generation“ macht in einigen Medien (so wie hier im Magazin "Cicero") nun das Wort einer „Klima-RAF“ die Runde – in Anlehnung an den tödlichen Terror der linksextremen „Rote Armee Fraktion“ vor allem in den 1970er und 1980er-Jahren; Klimaaktivist Tadzio Müller selbst hatte hierzu im „Spiegel“ bereits vor einem Jahr das Stichwort geliefert.
Seit dem Unfall von Wilmersdorf greifen nun auch Parteien wie die CSU diese Erzählung auf. Die Warnung vor der Entstehung einer „Klima-RAF“ des ehemaligen Verkehrsministers Alexander Dobrindt (CSU) in „Bild am Sonntag“ schafft es in mehr oder weniger alle größeren Nachrichtenmedien. Dobrindt fordert „Knast statt Geldstrafen“ – während in seinem Heimatland Bayern Klimaaktivisten bereits in Präventivhaft sitzen auf Grundlage einer Rechtslage, die 2021 eingeführt wurde mit dem Verweis auf islamistische Attentäter.

Redaktionell empfohlener externer Inhalt

Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

Passend dazu dann: Joachim Herrmann, für „Bild“ „Deutschlands härtester Innenminister“, der in eben dieser Zeitung den „Klima-Chaoten“ mit mehr Vorbeugehaft droht – in einem Interview, das am 7.11. erscheint, genau eine Woche nach dem Berliner Unfall erscheint.

Medienjournalist: Bedürfnis nach moralischer Eindeutigkeit

Der Medienjournalist Stefan Niggemeier beschäftigt sich in einer Analyse für sein Portal Übermedien unter anderem damit, was die Frage nach einem direkten Zusammenhang zwischen der Protestaktion und dem Tod der Radfahrerin eigentlich bedeuten würde. "Ändert das etwas?", fragt Niggemeier - und findet: "Es wäre eine gute Nachricht, wenn es zu einer Deeskalation beitrüge, zu einer Versachlichung der Debatte." Doch nichts spreche dafür, dass das passieren werde. Zu groß sei "das Bedürfnis nach moralischer Eindeutigkeit, auf beiden Seiten".
Der Journalist und Medienunternehmer Friedrich Küppersbusch kritisiert in der taz die Rolle der Feuerwehr in Berlin: Deren Spekulation habe sich "als haltlos und die Feuerwehr als Brandstifter" erwiesen, so Küppersbusch. 
Es seien Dinge in Zusammenhang gebracht worden, die überhaupt nicht in Zusammenhang stehen, betont Lorenz Maroldt. "Das kann man nur verhindern, indem man genau hinschaut und alle Seiten befragt." Genau das sei das Einmaleins des Journalismus.