"Schweden testet Spritze gegen Pädophilie." Eine Titelzeile aus der "Bild"-Zeitung. Es sind Schlagzeilen wie diese, die Jens Wagner immer wieder ärgern. "Das ist natürlich völlig absurd, weil das ist keine Spritze gegen Pädophilie. Pädophilie ist eine sexuelle Präferenz, die kann man nicht wegspritzen. Sondern bei dem Mittel, um das es hier geht, geht es um ein triebdämpfendes Medikament, was einfach den Trieb dämpfen soll und nicht die sexuelle Neigung wegspritzen kann. Schweden testen Spritze gegen Kindesmissbrauch, wäre glaube ich das, was sie sagen wollen."
Jens Wagner ist Sprecher des Präventionsnetzwerks "Kein Täter werden", eine Einrichtung der Berliner Charité. Sie macht pädophilen Menschen Therapieangebote, die unter ihrer sexuellen Neigung leiden und/oder Angst haben, Kinder oder Jugendliche zu gefährden. Auf dem Besprechungstisch in seinem Büro liegen zahlreiche Artikel, aus Boulevard, aber auch Qualitätsblättern. Wagner nimmt einen "Stern"-Artikel von 2015 zur Hand über Sebastian Edathy. "Der fängt gleich auch in der Unterüberschrift damit an, im Fall Edathy geht es Till Schweiger zu sehr um die Frage, wer in der SPD wem, was erzählt hat und zu wenig, darum, Pädophile zu stoppen. Auch das ist einfach so eine typische Synonymisierung. Eigentlich sollte in dieser Überschrift wahrscheinlich ausgesagt werden, dass es darum gehen sollte, Kindesmissbrauch zu stoppen."
Die Artikel, die Wagner rausgesucht hat, haben alle eine ähnliche Stoßrichtung: Sie setzen Pädophilie mit Kindesmissbrauch gleich. Das sei das Kernproblem bei der Berichterstattung über das Thema, sagt Wagner. "Weil es natürlich dazu führt, dass die Betroffenen, auf die das nicht zutrifft, dass die dadurch total stigmatisiert werden als potentielle, reale Kindesmissbraucher. Das ist ein großes Unrecht, das diesen Menschen damit getan wird. Das ist ähnlich, wie wenn man heterosexuelle Männer oder Frauen per se als potentielle Vergewaltiger bezeichnen würde."
Sachlich-informativ oder fallbasiert-emotional
Gemeinsam mit der Kommunikationswissenschaftlerin Daniela Stelzmann von der Freien Universität Berlin untersucht er die Darstellung von Pädophilie in den Medien – und die Auswirkung dieser Berichterstattung auf Pädophile selbst. Eine erste Teilstudie haben sie nun veröffentlicht. Dazu haben sie Therapeuten befragt, die Pädophile behandeln.
"Wir können zwei Typen von Medienberichterstattung identifizieren, einmal einen, der sachlich-informativ ist und sich nah an dem klinischen Bild des Pädophilen orientiert. Und wir haben zum anderen eher Medienberichterstattung, die eher fallbasiert ist. Da geht es dann um aktuelle Berichterstattung über Kindesmissbrauchsfälle, die dann sehr emotional und personalisiert aufgeführt sind und dann automatisch das Wort pädophil fällt, ohne zu wissen, ob es sich wirklich um einen Pädophilen handelt." (Daniela Stelzmann)
Menschen werden stigmatisiert
Dabei ist aus der klinischen Erfahrung bekannt, dass 60 Prozent der Kindesmissbrauchstäter nicht pädophil sind. Umgekehrt ist nicht jeder Pädophile potentiell ein Kindesmissbrauchs-Täter. Die einseitige Berichterstattung ist dabei in mehrfacher Hinsicht problematisch. Sie stigmatisiert Menschen mit pädophiler Neigung, die diese nie ausleben würden und sie kann dazu führen, dass sich Pädophile weiter zurückziehen und isolieren. "Was die Therapeuten angedeutet haben, ist, dass bei Pädophilen, die noch nicht in der Therapie sind, aber vielleicht gerne in eine Therapie möchten, dass sie durch so eine Art der Berichterstattung natürlich immer mehr gehemmt sind, wenn man als 'Pädomonster' dargestellt wird, dass es für die dadurch vielleicht auch schwieriger ist, eine Therapie wahrzunehmen." (Daniela Stelzmann)
"Und das ist meines Erachtens eines der größten Probleme, denn wir wissen letztlich aus der Forschung, dass soziale Einsamkeit – und dazu führt das in ganz vielen Fällen – dann doch ein signifikanter Risikofaktor dann doch dafür ist, tatsächlich sexuelle Missbrauchshandlungen zu begehen." (Jens Wagner)
Verantwortungsvoll, nicht verharmlosend
Was sich Wagner und Stelzmann wünschen, ist eine unvoreingenommenere, differenziertere Berichterstattung. Dabei geht es ihnen keineswegs darum, Kindesmissbrauch zu verharmlosen. Journalisten sollten aber auch über Pädophile berichten, die, so Wagner, "verantwortungsvoll mit ihrer sexuellen Neigung umgehen". Menschen, die sich zum Beispiel in seiner Beratungsstelle Hilfe suchen, bevor sie zu Tätern werden.
"Das sind letztendlich, auch wenn man sich die Menschen, die zu uns kommen, anguckt, ganz normale Menschen, die insbesondere Wünsche auf der Beziehungsebene haben, wie wir sie alle auch haben, nämlich Wünsche nach Anerkennung, nach Bindung. Sexualität ist eben ein Teilaspekt von vielen, aber das heißt noch lang nicht, dass jeder Pädophile, der diese Ansprechbarkeit für Kinder hat, diese auch zwangsläufig ausleben muss. Aber dadurch, dass das dazu gemacht wird in vielen Artikeln, fühlen sich diese Menschen schlicht und ergreifend stigmatisiert."