Archiv

Berichterstattung über Suizide
Die richtigen Worte finden, nicht spekulieren

Je mehr Medien über einen Suizid berichten, desto mehr Menschen nehmen sich selbst das Leben. Auf diesen sogenannten Werther-Effekt weisen Experten seit Jahren hin. Doch Medienmacher ignorieren die Warnungen regelmäßig, auch aktuell im Fall des hessischen Politikers Thomas Schäfer.

Von Michael Borgers |
    Eine Frau hält eine Gedenkkerze in den Händen.
    Ein Expertenrat, wenn über Suizide berichtet wird: Nehmen Sie bitte Rücksicht auf die Hinterbliebenen, Angehörigen und weitere nahestehende Personen. (picture alliance/Uwe Zucchi/dpa)
    Die Experten sind sich einig: "Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass der Suizid einer prominenten Persönlichkeit weitere Suizide zur Folge haben kann", erklären das Nationale Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro) und die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS).
    Weiter heißt es in der gemeinsamen Erklärung, einen großen Einfluss auf diese Entwicklung habe "die Art und Weise der Berichterstattung über den Suizid in den Medien". Besonders häufig werde bei Folgesuiziden "die Suizidmethode angewendet, wenn diese in der Berichterstattung genannt und detailliert beschrieben wird".
    Aus diesem Grund habe man "Medienempfehlungen für die Berichterstattung über den Suizid prominenter Persönlichkeiten entwickelt", die in der Folge aufgelistet werden.
    Anlass für das Schreiben von Sonntag ist der vermutete Suizid des CDU-Politikers und bisherigen hessischen Finanzministers Thomas Schäfer am Tag zuvor. Ein Tod, über den viel – und aus Sicht vieler Experten - nicht angemessen berichtet wurde.
    "Suizid", nicht "Freitod" oder "Selbstmord"
    Hier einige Beispiele: Den Anfang macht bereits eine gemeinsame Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Wiesbaden und des Polizeipräsidiums Westhessen, in der die Behörden schreiben, es sei "von einem Freitod" auszugehen; eine Formulierung, die beispielsweise Reuters übernimmt. Die Nachrichtenagentur gehört zu den Ersten, die über den Fall berichten.
    Doch Experten wie die vom Arbeitskreis Leben (AKL) empfehlen, nicht von "Freitod" zu sprechen. Der Begriff gebe vor, "Selbsttötung sei ein frei gewähltes Verhalten, das möglicherweise auf rationalen Abwägungen und aus Freiheit heraus geschieht". Im Begriff Freitod werde die Selbsttötung als ein "heldenhafter Akt der Befreiung oder Erlösung dargestellt".
    Diese Vorstellung sei nicht hilfreich, schreibt in seinen Hinweisen der Verein, der seit Jahrzehnten Beratungsstellen anbietet und dabei mit Krankenhäuser kooperiert: "Sie beschönigt den Sachverhalt, dass ein suizidaler Mensch sich in einem Zustand höchster existenzieller Not und starker Einengung befindet, aus der heraus er keinen anderen Ausweg sieht, als sich das Leben zu nehmen."
    In einem anderen Ausdruck, dem des "Selbstmords", stecke "die jahrhundertelange Verdammung der Betroffenen und Diskriminierung der Angehörigen z.B. durch Obrigkeit und Kirchen", heißt es außerdem in den Erläuterungen des Vereins: "Er spiegelt nicht das psychische Leiden, die Verzweiflung und die Not des Menschen wider, die der Selbsttötung vorausgehen."
    Keine Spekulationen
    Eine Einschätzung, der viele Medien schon lange folgen und inzwischen von "Suizid" oder "Selbsttötung" sprechen. Nicht aber "Bild" im Fall von Thomas Schäfer: Die Boulevardzeitung schreibt "Beging Hessens Finanzminister Thomas Schäfer (†54) Selbstmord, weil er die derzeitige Situation in Deutschland nicht mehr ertragen konnte?" – und unterläuft so gleich im ersten Satz seines Online-Artikels zudem gegen eine weitere Experten-Empfehlung: "Vermeiden Sie bitte einfache, monokausale Erklärungen", rät das Nationale Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro).
    Auch andere folgen nicht dem Ratschlag, auf Spekulationen zu verzichten, nicht einmal in der behördlichen Kommunikation: Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier selbst spricht in einem Statement für die Presse über Hintergründe der Selbsttötung von Thomas Schäfer. Viele Medien berichten von dieser möglichen Erklärung, die der Abschiedsbrief des Verstorbenen liefere.
    Dabei sind auch hier die Experten eindeutig in ihrer Einschätzung: "Vermeiden Sie es bitte, Abschiedsbriefe zu veröffentlichen oder aus diesen zu zitieren", schreibt NaSPro.
    "Suizid nicht verschweigen"
    Es sei richtig, über einen Suizid wie den vermuteten des CDU-Politikers Thomas Schäfer zu berichten, sagte der Neurologe und Psychiater Reinhard Lindner im Dlf. Doch auch wenn Ministerpräsident Bouffier als Nahestehender über mögliche Zusammenhänge spreche, müssten Journalisten das kritisch hinterfragen.
    *Wir berichten nur in Ausnahmefällen über Suizide, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben. Wenn Sie selbst depressiv sind, wenn sie Suizid-Gedanken plagen, dann kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge im Internet oder über die kostenlose Hotlines 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder 116 123. Die Deutsche Depressionshilfe ist in der Woche tagsüber unter 0800 / 33 44 533 zu erreichen.