Am liebsten wäre es Georg Mascolo, er würde nicht mehr "Terrorismus-Experte" genannt. Er wünschte sich, "dass der Begriff des Terrorismus-Experten nicht mehr notwendig wäre, weil es viel weniger über dieses Phänomen zu berichten gäbe", so Mascolo – und ergänzt: Besonders optimistisch wäre er hier nicht.
Das sagte der Journalist, der den Rechercheverbund von NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" leitet, bei der Aufzeichnung des Deutschlandfunk-Podcasts "Nach Redaktionsschluss".
Dieser Artikel fasst die Ausgabe von "Nach Redaktionsschluss" vom 10. September 2021 zusammen. In der insgesamt 51. Folge dieses Medienpodcasts diskutieren die Journalisten Georg Mascolo und Bettina Schmieding (Redakteurin @mediasres) mit Dlf-Hörer Wolfram Reichenbecher und der österreichischen Extremismus- und Terrorismus-Forscherin Julia Ebner über die Rolle der Medien am und nach dem 11. September 2001.
Nach Redaktionsschluss: Medien und Terrorismus zwanzig Jahre nach 9/11 (36:54)
Nach Redaktionsschluss: Medien und Terrorismus zwanzig Jahre nach 9/11 (36:54)
Seit 1998 beschäftigt sich der 56-Jährige mit dem islamistischen Terror. Ein Thema, das mit dem 11. September 2001 eine Art Blaupause für Verbrechen erfährt. Terrorismus lebe "nicht alleine von der Anzahl der Toten oder Verletzten", so Mascolo, "sondern auch von der Länge der Sondersendungen und der Größe der Schlagzeilen". Und in dieser Beziehung sei der 11. September "wahrscheinlich der perfekte terroristische Anschlag und das perfekte Verbrechen gewesen".
Journalist Mascolo: Medien haben sich instrumentalisieren lassen
An diesem Tag steuern von Islamisten entführte Flugzeuge ins Pentagon und in die Türme des World Trade Center in New York, zwei Wahrzeichen der US-Metropole. Das Besondere, neben der Brutalität der Tat: Die Welt kann dabei zuschauen. Als das zweite Flugzeug in Manhattan einschlägt, übertragen das TV-Kameras live. Bilder, die die Menschen, die sie damals sehen, bis heute nicht vergessen.
So wie Deutschlandfunk-Hörer Wolfram Reichenbecher, der sich an "Nach Redaktionsschluss" wendet, um über die Eindrücke von damals zu sprechen, die ihn bis heute begleiten. Zu oft habe er damals die Aufnahmen der einstürzenden Türme gesehen. Und zu wenig habe er erfahren, wie es überhaupt dazu kommen konnte, erinnert sich Reichenbecher. Als Zuschauer habe er sich damals alleingelassen gefühlt.
Haben sich Medien damals von den Terroristen instrumentalisieren lassen? "Das kann man so sehen", sagt Georg Mascolo, heute, mit 20 Jahren Abstand.
Forscherin Ebner: Lernprozess auf Seiten der Medien
Terrorismus sei natürlich immer auch Medienstrategie, stellt Julia Ebner fest, die sich bei ihrer Arbeit in der Extremismus- und Terrorismus-Forschung auch mit der Rolle von Medien beschäftigt hat. Ihre Beobachtung dabei: "Man hat in den letzten 20 Jahren seit Nine Eleven einen deutlichen Lernprozess auf Seiten der Medien gesehen." Als Beispiel nennt Ebner, dass viele Medien inzwischen an die Opfer erinnern und darauf verzichten würden, Namen und Bilder von Terroristen zu veröffentlichen, "um die nicht zu glorifizieren".
Denn in der Vergangenheit sei der sogenannte "Werther-Effekt" zu beobachten gewesen, auch auf rechtsextremer Seite: also Einzeltäter, die einander nachahmen. "Die Medien spielen hier eine ganz relevante Rolle, weil sie das natürlich befeuern können", so die Terrorismusforscherin.
Medienjournalistin Bettina Schmieding erinnerte in dem Zusammenhang an die Berichterstattung über den rechtsextremen Anschlag auf eine Moschee im neuseeländischen Christchurch 2019. Damals rügte der Deutsche Presserat Bild.de dafür, Ausschnitte aus dem Video des Attentäters gezeigt zu haben.
Für Georg Mascolo zeigt auch die Arbeit des Presserats, wie sein Berufsstand gearbeitet hat. Einige der "bemerkenswertesten Entscheidungen" der vergangenen Jahre dieses Kontrollorgans der deutschen Presse beschäftigten sich mit der Frage, "wo verläuft die Grenze zwischen einer angemessenen Berichterstattung und einem Zuviel, einer exzessiven und die Würde der Opfer nicht berücksichtigenden Berichterstattung?"
Für Redaktionen müsse es darum gehen, die eigene Berichterstattung immer wieder zu hinterfragen, so Mascolo: "War die angemessen? Haben wir Grenzen überschritten? Was lernen wir daraus für das nächste Mal, dass uns das nicht wieder passiert?"
Das gelte für die Entscheidung, über sogenannte "Manifeste" von Tätern zu berichten, oder die Frage, ob von Terroristen selbst inszeniertes und gedrehtes Bildmaterial gezeigt werden soll – oder auch Smartphone-Videos einer Tat: "Bestimmte Bilder mögen da sein und viral eine große Verbreitung gefunden haben, und trotzdem dürfen sie von professionellen Journalistinnen und Journalisten nicht gezeigt werden." Das unterscheide professionellen Journalismus von Social Media.
Neue Herausforderungen
Und damit sind die Herausforderungen an klassische Medien längst nicht am Ende. "Wir stehen am Beginn, wie man medial arbeiten kann", betont Julia Ebner. Und nennt als Beispiel "Deep Fakes", also die Möglichkeit, Videos von Taten zu erzeugen, die tatsächlich nie stattgefunden haben. Auch könnten virtuelle Realitäten, wie etwa VR-Brillen, gehackt werden – und fürs Verbreiten von Attentaten in Echtzeit missbraucht werden.
Bei Nine Eleven hätten die sozialen Medien "noch in den Kinderschuhen gesteckt", so Ebner, "wo eigentlich nur von Bin Laden vielleicht lange Youtube-Videos zu sehen waren". Seitdem habe sich "einiges getan" - von den "visuell relativ ansprechenden Propagandastrategien" des Islamischen Staats (IS) bis hin zu Rechtsextremisten, die auf "Livestream-Terrorismus" setzten.
Und auch in den nächsten 20 Jahren werde man wohl "leider noch relativ viel sehen an Entwicklungen", so Ebner.