Solange der Grund für den Absturz nicht bekannt war, habe es eine Lücke gegeben, in der es eigentlich nichts zu berichten gab, die Lücke wurde jedoch trotzdem gefüllt. Dabei seien Themen wie zum Beispiel die Lage im Jemen - laut Pöttker mindestens genauso wichtig wie der Absturz - oder aktuelle Bundestagsdebatten vernachlässigt worden. Infolgedessen seien die Risiken der Luftfahrt in den Fokus gerückt worden. Das zweite Thema, mit dem der Informationsmangel überbrückt wurde, war die emotionale Berichterstattung über die Angehörigen der Opfer, wie zum Beispiel über die Schule in Haltern.
Boulevardmedien hatten auch Privatfotos der Opfer veröffentlicht. "Das geht zu weit," sagte Pöttker. Es gebe im Pressekodex dazu klare Vorgaben.
Die Emotionalisierung des Themas habe zwar den Nebeneffekt gehabt, gemeinschaftsbildend zu sein. Das ist für Pöttker jedoch nicht die Hauptaufgabe des Journalismus: "In erster Linie ist seine Aufgabe, zu informieren und nicht, sich Emotionen zunutze zu machen."
Das Interview in voller Länge:
Friedbert Meurer: Der Absturz der Germanwings-Maschine - vermutlich das Gesprächsthema überall in Deutschland und auch für uns Journalisten hier im Deutschlandfunk. Wir nehmen aber auch zur Kenntnis, dass Hörer uns in Mails vorwerfen, "sehr übertrieben und etwas boulevardesk zu berichten", schreibt einer. Ein anderer: "Nachrichten sollten Tatsachen und Fakten verbreiten und nicht ein Übermaß an Mutmaßungen. Das ist peinlich und nervend." Wieder ein anderer Hörer schreibt: "Seit dem Unfall vor drei Tagen Ihr Sender mindestens fünf Stunden insgesamt darüber berichtet, es wurde kommentiert, und die unsäglichen Psychologen geben vor allem ihren Senf auch noch dazu." Und letztes Zitat: "Ich höre Deutschlandfunk seit Jahrzehnten. Aber was da nach dem Unfall geboten wird, ist reiner Boulevard." - Das wollten wir eigentlich vermeiden. Was machen wir, was machen die Medien richtig, falsch? Wo sind die Grenzen? - Horst Pöttker ist Professor für Theorie und Praxis des Journalismus an der Uni Dortmund. Guten Morgen, Herr Pöttker!
Horst Pöttker: Guten Morgen, Herr Meurer.
Meurer: Ist aus dem Deutschlandfunk ein Boulevard-Sender geworden?
Pöttker: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich habe die Inhalte vieler Medien in den letzten Tagen verfolgt und ich würde sagen, es trifft für andere Medien viel mehr zu, diese Kritik, die ich teilweise teile.
Meurer: Damit meinen Sie die Boulevard-Zeitungen, oder wen?
Pöttker: Ja, damit meine ich auch die Boulevard-Zeitungen. - Ich will aber doch am Anfang sagen: Sie haben mich als Wissenschaftler vorgestellt. Ich kann im Grunde nur Beobachtungen wiedergeben, die jeder machen kann. Ich bin vielleicht ein bisschen sensibler, weil es mein Beruf ist, Medien systematisch zu beobachten, aber vielleicht sollten wir uns alle mehr daran gewöhnen, auch auf die Medien zu schauen, wenn über solche Ereignisse berichtet wird, und uns über die Medien Gedanken machen.
"Durch den Medien-Hype wurden andere Themen vernachlässigt"
Meurer: Welche Gedanken machen Sie sich da im Moment, angesichts dieser Katastrophe und der Berichterstattung?
Pöttker: Na ja. Auffällig ist zunächst mal - und da gebe ich den Kritikern recht, die Sie zitiert haben - die pure Menge der Berichterstattung. Seit Tagen, wenn Sie irgendwas einschalten, oder wenn Sie auch am Kiosk sich die Zeitungen und Zeitschriften anschauen, da gibt es ja fast nichts anderes als diesen schrecklichen Unfall. Da fallen dann andere Themen hinten weg, die vielleicht auch ebenso wichtig wären, oder noch wichtiger. Ich habe gehört, Sie haben gerade dieses Gespräch über den Krieg im Jemen geführt mit Herrn Chimelli. Das wäre ein Thema, was ich für mindestens ebenso wichtig halte. Im Bundestag hat die Maut-Debatte stattgefunden. Durch diesen Medien-Hype, der dann in solchen Situationen entsteht, werden auch andere Themen vernachlässigt.
Meurer: Also zu viel Berichterstattung, Herr Pöttker, Vernachlässigung anderer Themen. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, die Medien würden hier eine ewige Spekuliererei betreiben?
Pöttker: Na ja, das ist auch nicht ganz daneben. Ich meine, wir hatten jetzt die Situation, dieses Ereignis war am Dienstag und danach konnte man im Grunde genommen wenig über die Gründe sagen. Man wusste, bevor nicht der Voice Recorder gefunden und ausgewertet ist, weiß man nichts über die Gründe, und da entsteht dann eine Lücke. Medien haben die Aufgabe zu informieren, aber es gab nicht viel zu informieren, und dann hat man diese Lücke gefüllt, teilweise mit Spekulationen. Es wurde immer gesagt, wir wollen nicht spekulieren, aber dann ist natürlich doch sehr viel über mögliche Gründe geredet worden. Das hatte übrigens ironischerweise den kleinen Nebeneffekt, dass wir auf diese Weise eine Menge über frühere Unfälle und Beinahe-Unfälle gehört haben, über die wir bisher gar nicht so viel wussten. Insgesamt sind die Risiken der Luftfahrt doch in den Fokus etwas geraten bei dieser Gelegenheit. Ich weiß nicht, ob das der Lufthansa und Germanwings und Airbus so recht gewesen ist. Die haben das wahrscheinlich gemerkt und haben dann auch immer sehr stark wieder auf die Sicherheit gesetzt und die Sicherheit betont.
"Viel zu viel über Emotionen berichtet"
Meurer: Ist es falsch, Herr Professor Pöttker, wenn wir über die Schule im westfälischen Haltern berichten, ein Gymnasium, an dem 16 Schülerinnen und zwei Lehrerinnen gestorben sind?
Pöttker: Falsch kann ich das nicht nennen. Wir haben Pressefreiheit und Medien können berichten, worüber sie wollen. Ich meine aber auch, dass die Emotionen der Opfer, also nicht der Opfer, sondern der Angehörigen der Opfer, dass das der andere Stoff war, mit dem diese Lücke gefüllt wurde. Ich meine, da ist viel zu viel über die Emotionen der Angehörigen berichtet worden - zum Glück nicht in dem Sinne, dass nun sehr viel direkte Interviews versucht wurden reinzuholen. Dieses berühmt berüchtigte Witwen-Schütteln, das hat meines Erachtens weniger stattgefunden.
Meurer: Witwen-Schütteln? Woher kommt denn dieses Wort?
Pöttker: Na ja, das kommt aus - ich weiß nicht. Das gehört auch zum journalistischen Jargon, wenn es einen schweren Unfall gegeben hat, oder jemand zu Tode gekommen ist, dass man dann mit Angehörigen sofort versucht, Interviews zu führen, die noch unter dem Schock stehen. Das sollte eigentlich nach berufsethischen Vorstellungen nicht passieren, aber es passiert eben doch, besonders im Boulevard-Journalismus, und auf diese Boulevardisierung haben Sie ja am Anfang auch schon hingewiesen, oder Ihre Kritiker.
"In erster Linie ist die Aufgabe des Journalismus zu informieren"
Meurer: Geht es zu weit, Herr Pöttker, wenn die Zeitungen oder auch die Fernsehsender via Standbild Privatfotos von den Facebook-Seiten der Opfer veröffentlichen?
Pöttker: Ja. Ich finde, das geht zu weit. Wir haben ja im Pressekodex auch eine Regel, die sagt, man soll über Unfallopfer nicht identifizierend berichten, und Fotos und auch Namen, auch wenn die Nachnamen abgekürzt sind, führen natürlich doch zu Identifizierungsmöglichkeiten. Ich finde, da ist einiges besonders in den Boulevard-Medien wieder zu viel getan worden. Ich will aber auch noch sagen: Es gibt auch einen positiven, ungewollt positiven Nebeneffekt dieser Emotionalisierung. Vielleicht kommt da dieser gemeinschaftsbildende Effekt zustande, der häufig bei den Medien vermisst wird, der bei den Medien, die ja so zersplittert sind, angesichts ihrer Zersplitterung vermisst wird. Übrigens auch bei positiven Ereignissen, bei emotional positiv besetzten Ereignissen wie zum Beispiel der Fußball-Weltmeisterschaft. Ob das nun allerdings die Aufgabe des Journalismus ist, darüber kann man sich streiten. Ich meine, in erster Linie ist die Aufgabe des Journalismus, zu informieren und nicht sich Emotionen zunutze zu machen, um möglichst viel Publikum zu kriegen.
Meurer: Was machen wir Medien richtig oder falsch? Was können wir besser machen? - Das war Professor Horst Pöttker von der Universität Dortmund. Er lehrt dort Theorie und Praxis des Journalismus. Herr Pöttker, besten Dank und auf Wiederhören.
Pöttker: Ich danke Ihnen auch, Herr Meurer.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.